Tagebuch Sommer 2009

Frankfurt, 25. Oktober

Christa Reinig. Das, was sie geschrieben hat, bedeutete mir viel zu der Zeit, als ich im Frauentheater spielte. Ich besitze sieben Bücher von ihr. Damals, in den Achtzigern, habe ich manchen ihrer Texte in unser Theaterspielen eingebracht, und ich bin sicher, dass ich ihr auch einmal eine Woche im "Poesie-Telefon" gewidmet habe.

Christa Reinig starb am 30. September 2008, und gestern abend veranstalteten drei junge Frauen einen Erinnerungsabend. Ich bin hingegangen wegen Senta Trömel-Plötz, einer feministischen Intellektuellen. Ich erfuhr, dass sie jetzt in den USA lebt, und ich kaufte ein Buch von ihr. Sie schrieb mir einen freundlichen Gruß hinein, aber schöner war noch der verständnisvolle Blick und das Lächeln, mit dem sie mir den Band zurückgab.

Gesprochen haben wir nicht miteinander. Aber vielleicht hatte sie bemerkt, dass ich mir bei dem Gesangsvortrag, der den Abend umrahmte, diskret ein Ohr zuhielt, um die Schmerzen zu dämpfen, die der Gesang in mir auslöste. Es sang eine sehr junge und reizvoll anzusehende Frau, die sich selbst am Flügel begleitete. Sie sang amerikanische Lieder, die ich nicht kannte, deren Worte ich nicht verstand. Die Frau sang in ein Mikro, sie artikulierte nicht, sie spielte mit ihrem Stimmwerkzeug, doch spielte sie auf eine Weise, dass man ihr anmerkte, sie tut nur so als gäbe es Gefühle. Sie fühlte es nicht selbst. Sie sang wie ein schlechter Automat. An ihren Schuhen stecken 10 cm hohe Absätze, und einzig die Pedalbewegung, wenn sie den Fuß vom Pedal hob und damit ihr überspanntes Fußgelenk lockerte, einzig diese Bewegung, die sich in ihrem ganzen Körper fortsetzte, wirkte echt. Ein leichter Bruch in Rhythmus und Melodie entstand durch diese Bewegung ihres Fußes, und nur in diesem Bruch war sie selber. Die Stimme klang oft schrill, viel zu laut.

Dennoch wurde die Sängerin von der Veranstalterin gelobt, erhielt sie Beifall. Ich fragte mich, ob ich der hoffnungsvollen jungen Frau empfehlen sollte, die Gesangslehrerin zu wechseln, oder ob ich mich mit irgendeiner Frau über meine Schmerzen beim Hören hätte austauschen können? Ich fand keinen Zugang und ging heim. Nur der lächelnde Blick von Dr. Senta Trömel-Plötz blieb mir als Trost und Ermutigung.

Heute morgen habe ich Christa Reinig gelesen, zwei Stunden verrannen, ich merkte es nicht. Ich las ein Interviewbuch, in dem sie ihr Leben beschreibt, und zum erstenmal verstand ich, wovon sie redete. Wie sie alles selbst ausprobiert hat: alle Ideologien, die ihr begegneten (sie wuchs in der DDR auf) und wie ihr jedesmal das Gegenteil so natürlich erschien. Wie sie unbedingt Schriftstellerin werden wollte und sich dennoch nicht vom "Literaturbetrieb" verbiegen ließ. Wie sie opportunistisch sein konnte, aber nie dort, wo es drauf ankam, damit sie sich selbst ganz fühlen konnte, alles, die schöne und die dunkle Seite.

In ihrem Buch "Müßiggang ist aller Liebe Anfang" schrieb sie unter dem 5. April:

"Irgendetwas das ewig heißt

schleift mich hinter sich her

ich bin sterbensmüde

ich wollte, der Strick reißt."

Ich hörte gestern abend, dass alle ihr Bücher vergriffen sind und nur noch antiquarisch zu erhalten.

 

 

 



Frankfurt, 23. Oktober

Nach und nach tauche ich wieder auf aus den Strudeln der Begegnungen und Verantwortungen, die sie mit sich brachten. Ich  schrieb ja einen Bericht, und dafür brauchte ich eine tragende Struktur: Wem will ich was erzählen? Welche möglichen Erzählstränge wähle ich aus? Worauf kommt es mir an?

Durch die Erlebnisse auf dem Symposium war ich ein wenig vorgeprägt. Einerseits hatte ich dort die geistvolle Lebhaftigkeit der Chinesen - gleich ob aus der Volksrepublik oder aus dem "Ausland" - kennen und schätzen gelernt. Andererseits war ich schockiert von der Oberflächlichkeit und oft der Arroganz der deutschen Presse, den Chinesen gegenüber. Die meisten Journalisten glaubten, wenn sie für die "Meinungsfreiheit" einträten, sei schon alles gebont. Da brauchten sie gar nicht mehr zu fragen, wie die Chinesen leben, was sie anstreben, wie sie mit ihrer Geschichte umgehen, was sie schreiben .... Für "Literatur" ist ohnehin das Feuilleton zuständig und die "Politischen" brauchen sich darum nicht zu kümmern - das war so die Haltung, die mir zeitweise entgegenschlug.

Hat sich an dieser Aufteilung nach der Messe was geändert? Ich fürchte nicht. Nicht, soweit ich es aus Gesprächen heraushöre.

Für meinen Bericht (der erst im November erscheint) habe ich mir drei Bücher herausgesucht, ein chinesisches, eins von Claudio Magris und ein luxemburgisches, um mit ihrer Hilfe einen roten Faden zu finden, und das hat mir viel Freude gemacht.

Nun geht das Leben weiter, und der Betrieb: in den nächsten drei Wochen nehme ich an drei Lesungen teil: kommenden Dienstag im "Budge-Heim", das ist ein jüdisch-christliches Seniorenheim; am 12. November in der Sachsenhäuser Stadtbücherei bei den "Interkulturellen Wochen" und am 13. November in der Klosterpresse zusammen mit der Literaturgruppe "Poseidon". Halali!

Frankfurt, 18. Oktober

Was für ein Tag!

Claudio Magris in der Paulskirche - ein Blick in die Tiefen Europas. Kultiviert und innig klangen die Reden, doch von der politischen Prominenz hatte sich sozusagen nur die zweite Garde eingefunden: ein ehemaliger Bundespräsident, ehemalige Minister (oder fast ehemalig), ein hessischer Minister und sonst lauter nette Leute. Die Paulskirche war voll wie immer, doch auf den Pressebänken blieben viele Plätze frei.

Danach nutzte ich die Nähe zur Schirn und schaute mir die "Kunst für Millionen" an, bronzene Figuren sind das, die den Klassenkampf im feudalen China versinnbildlichen. Diese lebensgroßen Figuren strahlen eine solche Lebendigkeit aus, als wäre jede einzelne von ihnen ein ganzer Film. Sie stellen auch Situationen dar; 1965 zum erstenmal entstanden, dienten sie seither zu den verschiedensten Gelegenheiten als Kopien oder als Ausgangspunkt neuer Ideen. Auch davon hört man in der Schirn.

Am frühen Abend moderierte ich die China-Veranstaltung in der Kommunalen Galerie von Mörfelden-Walldorf. Ich nutzte die Gelegenheit und stellte die Vorkommnisse vom "Symposium" im September richtig: faktisch hat es in Gegenwart der Dissidenten stattgefunden, mit ihnen, sie konnten sich frei äußern. Es hat planmäßig mit allen Teilnehmern stattgefunden. Die Meinungsfreiheit war nicht bedroht!

Dann übergab ich Frau Zeng Min aus Mainz das Wort, der Referentin des Abends zum Thema "Wie nah ist China entfernt?" - und wie köstlich verstand sie es, mit Worten umzugehen! Wieviele Fakten und Sachverhalte wußte sie zu verdeutlichen! Humor, sagte sie zum Schluß, auf eine Frage hin, ist eine Form des Umgangs miteinander und hat nichts mit Politik zu tun - oder dem Wetter.

Nun also bin ich wieder bei mir daheim, müde, aber nicht zu müde. Morgen muss ich meinen Artikel für "kulturissimo" schreiben.

 

Frankfurt, 17. Oktober

Ich moderiere die folgende Veranstaltung und freu mich drauf:


        WIE NAH  IST CHINA ENTFERNT ?

Vortrag von Frau Zeng Min (Mainz) über Kultur, Wirtschaft, Politik und Literatur in China
Vorstellung von chinesischen Krimis

Sonntag, den 18. Oktober 2009, 18 Uhr
Stadthalle Mörfelden-Walldorf, Waldstr. 100
Kommunale Galerie


In Zusammenarbeit mit der Buchhandlung Giebel, Mörfelden-Walldorf 
Im Rahmen der Ausstellung „Preisträger Skulpturen-Park 2008“


Gefördert von der Stadt Mörfelden-Walldorf
   

 

Frankfurt, 8. Oktober

Allmählich muss ich mich vom "Sommertagebuch" verabschieden, doch im Moment ist es noch so warm: 20° C auf dem Balkon, und das bei Wolkendecke und Nieselregen!

Morgen fahre ich nach Dresden, und dort erwartet mich eine Tagestemperatur von 10° C. Warm anziehen!

Vorgestern kaufte ich mir ein Paar eigenartige Schuhe: die Sohle ist dick und so konstruiert, dass man beim Gehen ständig nach seinem Gleichgewicht suchen muss. Das lockert den Körper, weil er sich spontan auf die Schwerkraft einstellt und nicht in vorgefassten Mustern bleiben kann. Das Gehen ist anstrengend, aber macht auch Spaß. Die Verkäuferin befürchtete, wenn ich die Schuhe gleich anzöge, bekäme ich solchen Muskelkater, dass ich es vielleicht nicht bis zuhause schaffte? Ich schlug die Warnung in den Wind, ich kam gut nach Hause und hatte auch keinen Muskelkater. Die relative Leichtigkeit werde ich wohl meiner Feldenkrais-Erfahrung zu verdanken haben. Ich horche in mich hinein, um mich spontan auf die notwendige Bewegung einzustellen.

Eine Freundin berichtete, auch sie habe sich einmal solche Schuhe gekauft, dadurch aber Schmerzen in den Knien bekommen und die Schuhe dann wieder beiseite gelegt. Man habe sie beim Kauf ganz genau angewiesen, wie sie in diesen Schuhen gehen müsse. "Das muss man erst lernen!" sagte meine Freundin. Meine Verkäuferin hat mir praktisch nichts gezeigt - "kleine Schritte!" sagte sie nur -, und darüber hat sich meine Freundin sehr gewundert. Doch frage ich mich jetzt, ob ihre Beschwerden nicht gerade dadurch entstanden sind, dass sie, anstatt auf ihren Körper zu horchen, irgendwelchen Regeln zu folgen sich bemühte?

Meine eigenen Knien werden jedenfalls lockerer, seit ich diese seltsamen Schuhe benutze.

Frankfurt, 6. Oktober

Den Sonntag vom 4. Oktober habe ich mit einer Fahrt nach Hinzert verbracht. Das Dorf Hinzert liegt etwa zwanzig Kilometer nördlich von Trier in jenem Teil des Hunsrücks, der "Hochwald" genannt wird. Zwei Kilometer vom Dorf entfernt befand sich während des Krieges und auch schon zwei Jahre vorher ein Barackenlager, das zunächst als "Arbeitslager" für Straffällige eingerichtet worden war, die den Westwall bauen mussten. Doch schon ab 1940 verwandelte sich das Lager in ein KZ unter SS-Bewachung. Hier wurden die meisten Luxemburger ermordet, hierhin kamen die unter dem "Nacht- und Nebel-Erlass" unter höchster Geheimhaltung Deportierten hin, vor allem aus Frankreich und Holland. Auch von ihnen starben hier eine ganze Reihe. Ihre Leichen wurden in den umliegenden Wäldern verscharrt.

Letzten Sonntag organisierte die rheinland-pfälzische Landeszentrale für politische Bildung eine dreieinhalbstündige Wanderung von der Gedenkstätte Hinzert aus zu verschiedenen Orten im Wald, wo Menschen aus dem Lager ermordet und begraben worden waren. Man ist nicht sicher, ob wirklich alle diese Gräber gefunden worden sind - die größeren jedenfalls, denn "der Förster wußte ja in seinem Wald bescheid". Unter der Aufsicht oder doch mit Genehmigung der französischen Militärbehörde gleich nach dem Krieg wurden die Opfer exhumiert und heimgebracht. Während die Luxemburger von einer offiziellen "Exhumierungskommission" identifiziert und auf den Heimweg gebracht wurden, galt dies nicht für Nacht- und Nebel-Opfer. Wegen der absoluten Geheimhaltung hatten die deutschen Verwalter ihre Namen nicht registriert, und so fehlte jede Dokumentation. Die Angehörigen kamen und gruben aufs Geratewohl. Sobald sie den Gesuchten entdeckt hatten, kamen sie um eine Genehmigung bei der Militärbehörde ein, die ihnen auch gewährt wurde. Dort gibt es demnach Unterlagen - doch werden sie im französischen Militärarchiv von Colmar aufbewahrt, und in diesem Archiv  bleiben laut Gesetz die Dokumente für hundert Jahre gesperrt.

Ach, das ist ja nur ein winziger Aspekt jener schrecklichen Ereignisse zwischen 1940 und 1945 in Hinzert. Ungefähr 800 Insassen litten dort, wurden gequält, gefoltert, ausgehungert. Transporte, zum Beispiel aus dem Steinbruch zum Straßenbau oder zum nächsten Bahnhof, mussten immer im Laufschritt erfolgen: die Karren mit dem Baumaterial wurden von Häftlingen gezogen. Und es geht dort oft bergauf, ich fand die Wanderung sehr anstrengend.

Eigentlich kann sich kein hier und heute lebender Mensch vorstellen, wie einem Gefangenen damals zumute war. Dabei helfen auch die Anstrengungen einer Wanderung durch Wald und Feld nicht. Nicht die anschaulich und mit großer Einfühlung für die Opfer und mit genauem Blick auf die Zuhörer gegebenen Erläuterungen können diese Erlebniskluft überwinden.

Vielleicht hat das ja auch sein Gutes. So behält man doch eine Menge Informationen im Gedächtnis. In dem Gebäude der Gedenkstätte kann man nachher alles noch einmal zusammenfassen und überblicken. Unsere beiden Leiter, Herr Mertes und Herr Reinhardt, ergänzten sich harmonisch und kooperativ in ihren Darstellungen, und man durfte alles fragen, ja, man durfte sogar im eigenen Tempo gehen, das vielleicht ein wenig langsamer war als das anderer - man wurde dafür nicht gescholten. Im Gegenteil, wir haben uns jederzeit wohl behütet gefühlt.

Frankfurt, 3. Oktober 2009

In der Frauen-Friedens-Kirche in Frankfurt-Ginnheim ist eine Ausstellung zu bewundern, die sich den 22 Preisträgerinnen des "LiBeraturpreises" widmet. Ich habe sie mir gestern abend mit Vergnügen angeguckt. Für jede einzelne dieser Frauen ist ein Winkel  hergerichtet mit ihren Lebensdaten und mit nur zu ihr gehörenden Gegenständen. Es entsteht der Eindruck von Gemeinschaft ebenso wie der von verschiedensten Individuen. Bis 18. Oktober kann man die Ausstellung noch ansehen.

Der "LiBeraturpreis" wird an Schriftstellerinnen aus Asien, Afrika und Südamerika für ein Buch verliehen, das kürzlich in deutscher Übersetzung herausgkommen ist, und das nun schon seit 22 Jahren. Der Preis hat sich inzwischen internationales Renommée erworben.

Eine Schriftstellerin, von der Frau Kästner, die Initiatorin des Preises, gestern sagte: "Wenn sie noch lebte, wäre sie eine Kandidatin für den Literatur-Nobelpreis", nämlich Yvonne Vera aus Simbabwe, durfte ich zusammen mit Lori Tengler einem interessierten Publikum gestern vorstellen. Gemeinsam haben wir die Person und die Umgebung dieser Person beschrieben, ehe wir etwas aus ihrem Roman "Schmetterling in Flammen" vorgelesen habe. Für ihn erhielt sie 2002 den Preis.

Seit Juni haben Lori und ich uns mit dem Thema befaßt und ich stimme Lori zu, wenn sie sagt: "Ich habe sehr viel gelernt!"
Es geht mir genauso. Ich weiss jetzt, wo Simbabwe liegt, wie man dort spricht, was sie erreicht haben dort und wo es im Argen liegt. Jedenfalls in groben Zügen. Ich habe einen Weg gefunden, mich in Yvonne Vera einzufühlen, ihr zu folgen auf den verschlungenen Wegen ihrer Fantasie und ihrer Erlebnisse. Sie war erst 40, als sie starb, und sie hat ungefähr fünf Bücher herausgebracht. "Schmetterling in Flammen" kann man zwei oder drei Mal lesen, man wird immer einen anderen Blickwinkel entdecken. Und auch, wenn die Geschichte im kolonialen Afrika spielt und aus der Perspektive der unterdrückten, gedemütigkten Schwarzen erzählt ist, zeigen die Beziehungen zwischen den Menschen eine universale Bedeutung auf: ich kann auch mich darin wiederfinden. Es steckt sehr viel Wahrheit in den Geschichten.

Danke, Yvonne!

Frankfurt, 1. Oktober

Mit dem Mitleid war es dann doch nicht weit her. Die SPD hat verloren.

Montag war ich auf einer SPD-Mitgliederversammlung, und unter anderem wurde das Thema "Glaubwürdigkeit" besprochen. Genau genommen, eine angeblich fehlende "Glaubwürdigkeit". Aber was ist das überhaupt?

Vor fünfundzwanzig oder dreißig Jahren kam die Vokabel "glaubwürdig" in den sprachlichen Alltag hineinspaziert (und kriegt allmählich  schon graue Haare). Das Wort "glaubwürdig" trat damals an die Stelle von "ehrlich" im Sinne von: die Wahrheit sagend. Die Erkenntnis mancher Philosophen, dass es so etwas wie "Wahrheit" nicht gebe, war beim Volk angekommen. Die Politiker und ihre Werbeagenturen ergriffen die Gelegenheit: sie strebten fortan nach "glaubwürdiger" Reklame, d.h. einer solchen, die nur so aussieht als wäre sie wahr. Sie muss so aussehen! Damit ist sie ja schon gelogen. Und wenn auch die Philosophen ihre Mühe mit der Wahrheit haben - die Lüge leugnen sie keinesfalls.

Die Glaubwürdigkeit muss aussehen wie die Wahrheit.

Aber: wer guckt?

Bei der SPD herrschte die Illusion, man brauche dieses Jahr nur so zu tun wie Schröder vor vier Jahren, dann würde alles so gehen wie vor vier Jahren. Obwohl kaum jemand den Schröder mag. (Und obwohl Merkel gewiss nicht mit Stoiber zu vergleichen ist.) Steinmeier, das wurde Montag auf der Mitgliederversammlung beanstandet, ahmte bis hin zum Stimmfall seinen früheren Chef nach. Ich fügte hinzu: Dieser Mann hüpfte auf das Podium, obwohl er seinem Wesen nach schreiten sollte. Er hüpfte und machte sich lächerlich.

Ich wünschte mir, die SPD würde zur Ehrlichkeit zurückkehren. Zu den Inhalten, zum Lernen. Es geht doch nicht darum, dass irgendeine Partei "an der Macht" ist, sondern darum, dass es dem Land und den Leuten gut geht.

Oder?

 

Frankfurt, 27. September

Wahlsonntag und traumhaftes Wetter. Der Wahlkampf ging im wesentlichen für oder gegen die FDP. Diese Partei will alles privatisieren, sie will die Reichen belohnen und die Armen ärmer machen. Wer keine FDP in der Regierung will, muss SPD wählen, weil die Linken und die Grünen nicht genug Stimmen als Gegengewicht bekämen. In der "taz" ist schon vom "Mitleid" die Rede, man werde "aus Mitleid" die SPD wählen! Damit zielen sie auf die wenig charismatischen Anführer der Partei. So dumm sind die Leute - wenn überhaupt Mitleid, dann doch aus Mitleid mit sich selber muss man SPD wählen! Dumm oder arrogant?

Die taz macht mir ohnehin Sorgen. Es kommt mir vor, als sei der Wissens- und Bildungsstand der Redaktion schlagartig abgesackt. Sport und Spaß - was die jungen Leute "Spaß" nennen und mir gewöhnlich nicht mal ein Gähnen verursacht, nur Langeweile - sickern überall hin, und ich finde überwiegend Nachrichten, die ich schon vom Fernsehen kenne. Das war letztes Jahr noch anders. Immer gab es Texte, die über das Fernsehen mehr oder weniger weit hinausgingen, die neue Aspekte aufzeigten. Die brillanten Auslandskorrespondenten (von Beginn an ein Trumpf der taz!) kommen derzeit kaum noch zu Wort. Es wird wie in den Provinzzeitungchen breit getreten, was jeder schon weiß. Gut, ich lese keine Online-taz, das ist mir zu anstrengend, und vielleicht sind dort die intellektuell etwas anspruchsvolleren Texte? Wenn allerdings auf Online-Mitteilungen hingewiesen wird, dann meistens mit dem Spaßfaktor. Also nicht der Mühe wert, sage ich mir.

Ende September läuft für die Pantherstiftung eine Frist ab, die finanziell bedeutsam für das Konstrukt "TAZ" ist: wenn bis 30.9. genug Geld für diese Stiftung auf dem Konto einläuft, kann sie die Hypothek auf dem taz-Gebäude einlösen. Es fehlen noch 135.000€, und jeder Euro zählt. Einen Hunderter könnte ich wohl dafür opfern, im Prinzip ist es mir das Geld wert. Wie keine andere Tageszeitung in Deutschland kann (konnte) die taz unabhängige Meinungen auf ihren Seiten vertreten, und hat dies auch immer getan. Ein Anzeigenboykott der Großunternehmen - stets eine Bedrohung für andere Zeitungen - macht ihr nichts aus, sie bekommt eh keine.

Doch wie vereinbare ich das mit meinem Ärger über die intellektuelle Verflachung der taz seit dem Frühjahr? Machismo, schlechte Informierung, mangelnde Bildung, Angleichung an Mainstream - soll ich das auch noch unterstützen? Im letzten halben Jahr habe ich drei Leserbriefe geschrieben: keine Antwort, kein Abdruck. Als würde man ins Leere reden. 

Vielleicht muss ich an die taz wie an ein Kind denken: auch wenn es auf Abwege gerät, hält man noch zu ihm.

Frankfurt, 23. September

Gestern Nachmittag stand ich auf dem Römerplatz und plauderte mit einem Herrn. Da kamen zwei freundliche Studentinnen und fragten, ob wir ihnen ihr Buch gegen einen anderen Gegenstand tauschen wollten. Ich fand die Frage so eigentümlich, dass ich mich drauf einließ. Zwar hatte ich nichts bei mir, das ich ihnen hätte geben können für ihr noch in Folie eingeschweißtes Buch über "Geschichte des Adels", doch fragte ich, was sie mit dem Angebot bezweckten.

Nun, sie hatten einen Kurs absolviert, ich habe vergessen, welchen, und zum Abschluß machten sie eine Übung in Kommunikation. Leute ansprechen, mit ihnen ins Gespräch kommen, das war das Ziel. Sie hatten mit einem Glas voll eingemachter Würstchen begonnen und schienen selbst erheitert von ihrem Experiment. Ich schenkte ihnen ein Faltblatt mit VHS-Kursen zur "Entspannung" und die eine fragte glücklich: "Das darf ich behalten?" Ich nickte. (Es stand auch mein nächster Feldenkrais-Kurs drin, der am 13. Oktober, 18 Uhr beginnt.)

Der einzige passende Gegenstand, den ich bei mir hatte und hätte austauschen können, war mein Gedichtband, mit meinen eigenen Gedichten. Ich konnte ihn aber gerade in dem Moment nicht entbehren, denn ich wartete, zusammen mit dem Techniker, auf Brigitte Bee, mit der ich im Römer eine Aufnahme für das "Frankfurter Literaturtelefon" machen sollte. Und wollte, natürlich. Für November. Ab 1. November wird man am Telefon fünf Minuten Gedichte von mir hören können, auf der Nummer: 069 - 24 24 60 21!

Übrigens ist die Nummer auch jetzt schon im September hörenswert.

 

Frankfurt, den 20. September

Bahnsteiggeflüster

Ursula Teicher-Maier schrieb:

"Bahnsteiggeflüster – Lesung der Darmstädter Literaturgruppe Poseidon am 19. September, 20.00 Uhr

Was geschieht auf einem Bahnsteig? Menschen sagen sich in kurzer Zeit das, was sie sich vielleicht Jahre nicht gesagt haben. Sie flüstern sich etwas ins Ohr, rufen sich etwas anderes hinterher. Man umarmt sich, schneidet Gesichter. Oder man steht schweigend herum, schaut auf die Uhr, ärgert sich, laut oder leise...

Im Grunde ist ein Bahnsteig ein Ort, wo eine Gesellschaft Gesicht zeigt, wo Zeit anders tickt, schneller oder langsamer, wo Menschen Geräusche machen, sehr menschliche Geräusche. Und von diesen, vom lauten und leisen Sprechen, vom Schweigen und Füßescharren, vom Warten, der Langeweile und der Eile beispielsweise handeln die Texte, welche Mitglieder der Literaturgruppe Poseidon in den Räumen der Kunstfabrik im Bahnhof Wixhausen lesen werden. Laut oder leise. Aber nie langweilig.

Die auftretenden AutorInnen sind: Marina D’Oro, Barbara Höhfeld, Gerty Mohr, Liliane Spandl, Ursula Teicher-Maier, Barbara Zeizinger, Fritz Deppert, Alex Dreppec, Eric Giebel, Jan M. Greven und Eberhard Malwitz."
Ferner lasen: Frank Speckhard, Jutta Schütz, aber nicht Eric Giebel.

***

20. September, mein Kommentar (d.h. B.Höhfeld):

Der Saal war gefüllt. Am alten Bahnhof von Darmstadt-Wixhausen haben sich Künstlerinnen niedergelassen, mit Ateliers und Veranstaltungssaal, alles hübsch und proper. Wir konnten vor Beginn die  Ausstellung besichtigen, es waren Werke zum Thema „Rezeption und Langeweile“, so erfuhr ich, allein hätte ich das nicht bemerkt. Ich kam zu dem Schluß, dass es anscheinend unmöglich ist, Langeweile kurzweilig darzustellen. Hatte ich ich das nicht schon in Luxemburg probiert? Die einzige Chance hätte man, wenn der Erzähler und das Erzählte sich sehr weit voneinander entfernten. Doch wer möchte schon Langeweile aus sehr weiter Entfernung beschreiben?? Sie drängt sich eher als Thema auf, wenn man drinsteckt.

Ich war als erste Leserin eingeteilt, ich las eine Reiseszene aus dem Roman „Ginsburg und der Rotkohl“. Da mir nur sieben Minuten zur Verfügung standen, hatte ich das Original etwas zusammenstreichen müssen, was auch gelang. Mehr noch, ich sah dabei die Szene zum erstenmal aus einem gehörigen Abstand: wie empfindlich die Frau auf das Verhalten fremder Menschen reagiert, wie sie sich gekränkt fühlt, wenn Deutsche sich schlecht oder roh benehmen. Ja, vor zwanzig Jahren kränkte es mich persönlich. (Was sag ich, noch gestern habe ich einen Autofahrer mit Kennzeichen „F“ beschimpft, weil er hupte, als er sich von einem behutsam einparkenden luxemburgischen Auto belästigt fühlte. Ich schimpfte vor mich hin und sah mir dabei zu, das war der Unterschied.) Und ich hatte die spezifische Einsamkeit einer Person unter den Reisenden als etwas Eigenes betrachtet.

Nach der Lesung wurde mir klar, dass mehr oder weniger alle Kolleginnen und Kollegen aus der Position der Einsamkeit heraus geschrieben hatten. Auch die zwei oder drei, die sich nicht mit Bahnhof oder Eisenbahn beschäftigten, stellten eine sich absondernde Figur dar: Greven mit den Erinnerungen an das „Kind“, das er einmal war, und Malwitz mit seinem Essay über die Evolution, die er mit dem Satz „Da bin ich lieber Individualist“ beendete. Er hatte Menschen mit Bienen verglichen, hatte einer einzelnen Biene jegliche Individualität abgesprochen, was ich nicht glaube, schließlich sehen auch die Schmetterling jeder Art ein bisschen verschieden aus. Er hatte die „Evolution“ wie eine alles beherrschende Gottheit dargestellt, was ihn nach meinem Gefühl in die Nähe der Kreationisten brachte. Aber es wurde nicht diskutiert. Und vielleicht wollte das auch keiner. Ich selbst ging gleich nach der Lesung fort, weil ich mit der S-Bahn heimfuhr, und die nächste wäre erst in einer Stunde gefahren. Ich war irgendwie aufgewühlt, und dann diskutiert es sich nicht gut. Wahrscheinlich ging es den meisten so.

Hatten nicht viele das Bahnhofsgewimmel mit der Einfühlung des Nicht-Dazugehörenden beschrieben? Da gab es einen Mann, der die allzu bekannte abstoßende Bahnhofshalle an einem bestimmten Tag wie von Sonnenschein und Glück erfüllt sah. Ein anderer Mann war beim Umsteigen während der Wartezeit so gefesselt von den Leuten, die er um sich sah und hörte, dass er alle Anschlüsse verpasste.  

Manchen Gedichten konnte ich beim einmaligen Hören nicht folgen, ich verstand sie nicht. Wäre es bei zweimaligem Hören leichter gewesen? Oder stammte auch die Schwerverständlichkeit des Textes aus jener Einsamkeit, die an Zuhörer nicht gewohnt ist und darum keine Rücksicht auf sie nimmt?

In meinem Text stand der Satz: „Es stellte sich kein Gemeinschaftsgefühl ein.“ Diesen Anspruch fand ich in den anderen Texten nicht wieder. Niemand erwartete am Bahnhof oder im Zug ein Gemeinschaftsgefühl.  Stattdessen zeigte sich das Gefühl der Zusammengehörigkeit in der Literatur-Gruppe Poseidon selbst, auch wenn das niemand betonte. Indem wir gestern abend einander zuhörten, kamen wir uns ein wenig näher. Schon allein darum hat sich der Abend gelohnt.

Frankfurt, den 17. September

Nun muss ich schon wieder vom Fernsehen reden, und wieder ging es um Afghanistan.

Gestern abend zeigte des Erste deutsche Fernsehen einen Film aus der Reihe mit "Dr. Bloch", dem Psychotherapeuten, und diesmal ging es um einen aus Afghanistan heimgekehrten Bundeswehrsoldaten, der unter einem seelischen Trauma litt.

Es war ein wunderbarer Film. Alle Schauspieler, aber wirklich alle, versammelten in sich Wirklichkeit und Wahrhaftigkeit in einem Ausmaß, wie es natürlich im Alltag nie vorkommt. Eben das, was die Stärke der darstellenden Künste ausmacht. Der Traumatisierte insbesondere bewegte sich wie das Urbild eines Soldaten, jeder Schritt, jede Haltung repäsentierte das Militär. Und doch glaubte man ihm seine Schmerzen, sein Schuldilemma, seine Tränen.

Ein großer Film auch, weil es ihm gelang, das Ideal des Friedens hochzuhalten und dennoch die Soldaten als Menschen nicht herabzusetzen. Unter anderm trug zu diesem Vorgehen die Schultheateraufführung bei, die ihrerseits als Vorbild für alle Schultheater dienen könnte. Sie berücksichtigte die beschränkten Mittel des Genres und ergab doch eine berückende Aufführung, wo der Fernseh-Zuschauer die Ergriffenheit des Theaterpublikums nachempfinden konnte.

Überhaupt niemand wurde herabgesetzt, nicht die Ehefrau, deren Geduld am Ende ist, nicht der Wachmann aus der Bank, der den verwirrten Soldaten aus dem Haus weist, und nicht der Junge, der allem besseren Wisssen zum Trotz nun selber zur Bundeswehr geht. Der Film lässt alle Widersprüche zu und hält sich an die alles überragenden Regeln der Menschlichkeit. Er kennt keine einfachen Antworten, manchmal erlaubt er ein Schmunzeln. Ich bin froh, ihn gesehen zu haben.

Was für ein Unterschied zu den Krimis, wo ich meist schon am nächsten Morgen nicht mehr weiß, was darin geschah, und die ich in Wiederholungen nur manchmal, an irgendeiner Szene, erst wiedererkenne!

 

 

 

 

Frankfurt, 15. September

Gestern schrieb ich folgenden Leserbrief an die taz:

Verehrte tazler,

tief enttäuscht hat mich Eure Berichterstattung über das
China-Symposium in Frankfurt. Wenn schon die meisten Reporter nur über Machtfragen nachdenken, sich grundsätzlich auf das Kriterium
Sieg/Niederlage beziehen, dann hätte ich grade von der taz erwartet,
dass sie Referenzen von der Friedenspolitik heranzieht.

Aber auch die taz-Vertreter merkten nicht, dass hier am Wochenende ein Modellfall von "ziviler Konfliktbewältigung" stattgefunden hat. Dafür hätte man freilich auch der offiziellen chinesischen Delegation, den Kooperationspartnern, Gehör schenken müssen, man hätte mit ihnen reden müssen. Hat offenbar keiner für nötig gehalten.

Die Delegation verließ nämlich den Saal, weil die Frankfurter
Oberbürgermeisterin sie nicht begrüßt hat! Frau Roth - vermutlich
schielte sie auf den Wahlkampf - rühmte sich ihrer eigenen Einsätze für
Redefreiheit und Menschenrechte, und dann begrüßte sie die beiden
Dissidenten, die pünktlich in Frankfurt eingetroffen waren. Als man
danach noch die Dissidenten aufs Podium bat, und nicht wie vereinbart, den nächsten chinesischen Redner, da verließ die Delegation den Saal.
Mit welchem Recht begeht das Stadtoberhaupt diese Unhöflichkeit, diesen Verstoß gegen die Gesetze der Gastfreundschaft?

Die chinesischen Kooperationspartner kehrten später zurück mit der
Begründung, die deutsche Seite habe sich bei ihnen in aller Form dafür
entschuldigt, dass sie ohne Rücksprache mit ihnen auf eigene Faust das Programm geändert habe.

Vermutlich war dieses Zeremoniell der einzige Weg, um mit der
chinesischen Delegation zusammen das - hoch interessante - Symposium abzuhalten und dennoch der Redefreiheit einen Weg zu bahnen. Es war eine Meisterleistung der Veranstalter.

Prof. Wang Hui, den mein chinesischer Sitz-Nachbar für einen der
wichtigsten Denker der Welt hielt, ist nicht zum Symposium erschienen.
Er hatte kein deutsches Visum erhalten. Warum nicht?

Barbara Höhfeld, Frankfurt am Main





Frankfurt, den 13. September

Es sind so dicht gefüllte Tage in letzter Zeit, dass ich wenig zum Schreiben komme.

Gestern abend erlebte ich mit, wie sich das Leipziger Institut für Literatur vorstellte ("Elfenbeinturm im Elfenbeinturm"). Sechs junge Leute saßen einträchtig nebeneinander: Zwei Schriftstellerinnen, zwei Schriftsteller, eine Sängerin und der Geschäftsführer des Instituts, auch ein Absolvent. Wir befanden uns in einem gut ausgeleuchteten alternativen Keller in Frankfurt-Sachsenhausen ("Raum 121"),  gleich bei mir um die Ecke. Ich war gespannt.

Vier Leute lasen, meist aus unveröffentlichten Werken, der Gschäftsführer und Moderator führte uns nebenher in die Besonderheiten des Instituts ein: seine Geschichte (geht auf die DDR zurück), seine Angebote (seit neuestem Bachelor und Master), seine Arbeitsweisen. Er munterte das Publikum dazu auf, sich für ein Studium zu bewerben! Freilich konnte auch er nicht die Kriterien angeben, nach denen jährlich aus 500 Bewerbern die 30 Studienplätze besetzt werden.

Was lasen sie vor? Auszüge aus Romanen in drei Fällen, Gedichte in einem. Der erste beschrieb Landschaften von einer Eisenbahnfahrt und ließ "Dampf" aus einem Schornstein steigen. Das irritierte mich: kennt der den Unterschied zwischen Rauch und Dampf nicht? Die nächste bemühte sich um eine Krimi-ähnliche Spannung, indem sie die Reihenfolge der Vorfälle allzu beliebig mischte - "man merkt die Absicht und man ist verstimmt", sagt Goethe dazu. Der dritte Romanausschnitt behandelte Visionen eines Mannes im Kokainrausch, war vollkommen stimmig und überzeugend. Auch die Gedichte der vierten Autorin gefielen mir, obwohl sie sich manchmal von der viel zu lauten E-Gitarre der Sängerin beim Vortrag begleiten ließ. Die Sängerin selbst, wie gesagt, zu laut, behandelte Alltagsfragen in Alltagssprache: "Ich war nicht gut drauf, aber abends war ich wieder okay".

Danach mochte ich nicht mehr bleiben: verärgert redet es sich nicht gut. Die Langeweile hinter dem Dargebotenen, die Beschränktheit des Blickes auf die eigene wichtige Person, der dann doch nur Triviales wahrnimmt, irritierten mich.

Ich hatte den Tag beim China-Symposium zugebracht, und dort atmete alles Weltbedeutung. Chinas Bevölkerung umfaßt 20 % der Weltbevölkerung, und dessen waren sich jedenfalls die offiziellen Vertreter der Volksrepublik China jederzeit bewußt. Das Symposium begann mit einem heftigen Streit - es ging, nach deutscher Auffassung, um Redefreiheit - und ich durfte mit erleben, wie der Streit beigelegt wurde, und zwar so, dass beide Seite ihr Gesicht wahrten. Wahrhaft "zivile Konfliktbewältigung".

Im dritten Podium des Tages ging es um das Ziel der "Wissensgesellschaft" in China und in der Welt. Vier kundige Referenten sprachen, diskutierten, und als das Publikum zum Mitreden aufgefordert wurde, fragte ich: wie unterscheiden die Experten auf dem Podium zwischen "Information" - dem, was man in einer Datei findet - und "Wissen"  - dem, was sich im Kopf eines Individuums vernetzt und verwurzelt hat?

Ich bekam wundervolle Antworten. Unter anderm berichtete die deutsche Professorin, wie ihre Studenten sich gegen den Anspruch wehrten, dass Internetergebnisse NICHT als eigenes Wissen anerkannt werden dürfen. Von den Chinesen erfuhr ich: im Allgemeinen verstehen sie unter "Wissensgesellschaft" die Stärkung von Technologie und Naturwissenschaft, der Innovation; allerdings verbinden sie auch einen Hinweis auf Konfuzius damit. Ich hörte: die beiden Schriftzeichen, die für das Wort "Wissen" in dem Begriff der "Wissensgesellschaft" verwendet werden, sind die Zeichen für "Weisheit" und "Verständnis".

Diese Antwort begeistert mich noch jetzt: Wissen besteht aus Verständnis und Weisheit, aber die Weisheit sollte an erster Stelle stehen.

Frankfurt, den 6. September

Übers Fernsehen zu reden, betrachte ich im allgemeinen als Tratsch, doch heute liegts mir am Herzen: "Der Truppenunterhalter" hieß gestern abend eine halbe Stunde auf 3Sat, und sie gehörte zu den wenigen Sendungen, die wirklich spannend sind.

Ein Schauspieler erzählt, und das war großes Theater. Ein Filmer filmt und drei oder sechs Aufführungen werden zusammengeschnitten, vom Schauspieler kommentiert, und es wurde ein großer Film. Es schwebte die ganze Zeit, und nach meinem Gefühl dauerte es viel länger als eine halbe Stunde. Eine ganze vielleicht.

Jede Sekunde bedeutete Wirklichkeit. Bekanntlich vermag das Theater Wirklichkeit herzustellen. Aber hier war kaum "Theater" im üblichen Sinn. Hier war nur ein Mann, ein gelernter und junger Schauspieler, der sich zur Truppenunterhaltung nach Afghanistan verpflichten läßt. Drei Aufführungen sind geplant. Der Schauspieler im Film macht uns, die Zuschauer daheim, mit seinen Wahrnehmungen bei der Ankunft vertraut: wie er aus dem friedlichen Deutschland kommt und sich in einen Panzer zwängen muss, um zum Camp der Bundeswehr gebracht zu werden. Wie die Angst, die allgegenwärtige, ins Unsichtbare, ins nicht mehr Fühlbare absinkt und die kugelsichere Weste selbstverständlich wird.

Die Aufführungen vor den Soldaten: draußen?? Ach nein, im letzten Augenblick doch nach drinnen verlegt, wegen "Raketenalarm". Wir heimische Zuschauer erleben eine gespielte Szene mit und sehen: unser Schauspieler - er heißt übrigen Clemens Schick - bringt die Soldaten zu Lachen. Zu einem diskreten, tiefen Lachen, das uns sagt: die Soldaten fühlten sich verstanden.

Zuletzt die Frage: darf man Theater spielen an einem Ort, wo jeder Mensch seine Blutgruppe sichtbar auf der Uniform trägt? Und die Erkenntnis, die besagt: Theater darf und muss ÜBERALL gespielt werden, das ist der eigentlich Sinn von Theater.

Der Sender verkauft gewiß eine Kopie des Films, falls ihn jemand verpaßt hat. 3Sat vom Abend des 5. September.

 

Frankfurt, den 4. September

Es gießt. Es plästert, wie meine Mutter gesagt hätte. Kurz, es regnet in Strömen.

Nach den vielen schönen Tagen stürzte es wie eine Überraschung auf mich herab. Ich glaubte nicht dran, ich wurde nass. Nun habe ich mich abgerubbelt, frisch angezogen und mir einen Brennnesseltee aufgegossen, genieße die Wärme, die im Haus noch vom Sommer übriggeblieben ist. Ab Sonntag solls wieder schön werden, sagen die TV-Frösche.

Gestern abend besuchte ich einen "Einführungskurs in die chinesische Sprache". Das Frankfurter Konfuzius-Institut bot den umsonst an, als Werbung für seine Chinesisch-Kurse. Die chinesische Sprache gehöre zu den leicht zu lernenden Sprachen,  verhieß uns die Dozentin. Es gibt im Chinesischen keine Deklinationen und wohl auch keine Konjugationen. "Du gut" in wörtlicher Übersetzung heißt so viel wie "guten Tag" oder "möge es dir gut gehen". Fügt man eine bestimmte Silbe hinzu, dann wird der Satz zu der Frage: "Wie geht es dir/Ihnen?" Das Institut legt in seinen Kursen größten Wert auf die richtige Aussprache, hörten wir, und hat dazu auch einleuchtende Gründe: wenn die ganze chinesische Sprache aus ungefähr 400 Silben besteht, so unterscheiden sich scheinbar gleichlautende Silben durch verschiedene "Töne", wodurch das zustande kommt, was ich immer, wenn ich Chinesen reden hörte, als eine Art Gesang empfunden habe. Unsere Lehrerin sprach hinreißend diesen Gesang, obwohl sie von Haus aus eine Deutsche war. Man merkte ihr an, wie die chinesische Sprache ihr ans Herz gewachsen ist. Sie zeigte uns auch ein paar Schriftzeichen, einige grundsätzliche Dinge dazu. Es gebe zwischen fünfzig und siebzig Tausend Schriftzeichen.

Weil die Chinesen - so wie sie mir gegenwärtig begegnen, es ist Buchmessen-Zeit und der Ehrengast heißt China - weil sie anscheinend sehr auf Kommunikation erpicht sind, bieten sie also nicht nur Sprachunterricht mit Hervorhebung der Mündlichkeit an, sondern auch immer wieder Kommunikationskurse für Wirtschaftsleute. Damit keiner ins Fettnäpfchen trete. Damit die Furcht, was falsch zu machen, verschwinde. Um zu zeigen, dass die Unterschiede gar nicht so groß sind, wie man landläufig meint.

Ich habe auch schon einen dicken Roman von Mo Yan gelesen, dem Star unter den Schriftstellern der Volksrepublik: "Das rote Kornfeld" heißt er und erzählt vom Krieg. Jetzt habe ich einen zweiten Roman begonnen, er heißt "Die Schnapsstadt". Wenn der erste sich mit mehreren Generationen einer Familie und mit dem Übergang vom "alten" China zum modernen befaßt, so scheint der zweite von den Beziehungen zwischen Volk und Partei, zwischen staatlichen Strukturen und Einzelinteressen zu handeln. Genauso dramatisch und gelegentlich poetisch wie "Das rote Kornfeld." Ich habe ihn grade erst angefangen.

Die Worte "mo yan" bedeuten übrigens: "keine Sprache" und sind ein Pseudonym. Was uns der Dichter damit sagen will, muss ich noch herausfinden. Vermutlich ein Zeichen von Bescheidenheit?

 

Frankfurt, den 1. September

Auf dem Frankfurter Museumsuferfest war ich und war ich nicht. Dieses Fest schließt in Frankfurt die Ferien ab und findet am letzten Wochenende des August statt. Ich war dort, indem ich den Stand des Verbandes deutscher Schriftsteller besuchte, wo mehrere Kollegen neue Texte vorlasen. Er befand sich in einer ruhigen Ecke, etwa gegenüber vom Museum Giersch. An diesem Stand arbeiteten auch die Handdrucker, das Ehepaar Lang aus Mosbach. Ich hatte Gelegenheit, mich mit ihnen beim Frühstück zu unterhalten und ihre Begeisterung übertrug sich rasch auf mich: mit der Hand drucken. Dieses Tun den Kindern zugänglich machen. Lernen, eine Buch selbst zu binden. Schreiben, drucken, binden: ein Buch. In Mosbach im Odenwald gibt es ein Druckereimuseum, in dem Herr Lang seine Werkstatt hat, durch die schon Tausende von Kindern gegangen sind im Lauf der Jahre. Er besitzt die Fähigkeit, seine Begeisterung weiterzugeben. Und das tat er denn auch am Museumsuferfest.

Ich war nur am Sonntag dort, und auf dem Weg dorthin oder auf der Suche nach einem Getränk, nach einer Toilette, sah ich  ein paar andere Stände, an denen exotische oder selbtgemachte Sachen verkauft wurden. Ich erlebte über eine kurze Strecke auch das Gedrängel der Massen zwischen den Ständen. Doch die meiste Zeit genoß ich das lauschige Platanendach auf dem Bürgersteig über dem Mainufer - ein ganz besonderes, warmes, kühles, gedämpftes Licht herrscht dort unter dem Gewölbe der grünen Äste.

Hier standen die Stühle bereit, auf die sich Literaturinteressierte setzten, um länger oder kürzer der einen oder anderen Dichterin, dem einen oder anderen Schriftsteller zuzuhören.

Nach den Lesungen versammelten sich die Autoren und Autorinnen, um über das Thema "Leben und Formen" zu reden, das der Organisator, der Autor Thomas Kurze, vorgegeben hatte. Es wurde ein interessantes Gespräch, bei dem die Verschiedenheit zwischen allen Autoren so recht zutage trat. Dass die Autoren bei diesem Anlass wirklich aus sich herausgingen - gar nicht so selbstverständlich! - hatte gewiß nicht nur mit dem Moderator zu tun, sondern auch damit, dass sich auf den Stühlen ein aufmerksames Publikum versammelt hatte.

Am Abend gab es noch eine Musiktheater-Aufführung, aber das war mir zu spät, und ich verzichtete darauf.

Frankfurt, 29. August

Wieder ein schöner Tag, zumindest jetzt, am Morgen. In Frankfurt ist Museumsuferfest!

Und meine Tochter in Israel hat eine eigene Webseite eröffnet: http://ordinary-life-in-israel.blogspot.com

heißt sie, und die Autorin stellt darin den hohen Anspruch, Israel  und seinen Alltag zu beschreiben. Sie beginnt mit dem Kichererbsenmus "Chumus" oder wie man es auch schreiben will. Es war immer eine meiner Lieblingsspeisen, wenn ich im Lande Israel war. Für viele Touristen gilt der Chumus als typisch israelisches Gericht. Sie schreibt wunderschön, meine Tochter.

Ich mache mir derweilen Gedanken über die Rede, die unsere Bundeskanzlerin vorgestern auf der Pressekonferenz mit dem israelischen Regierungschef Netanjahu gehalten hat. Ich hörte sie spät abends auf Phönix. Frau Merkel sagte die üblichen diplomatischen Sätze, Sicherheit für Israel, Versicherung der Freundschaft zwischen den Ländern, sie sprach  über gemeinsame Forschungs- und Wirtschaftsprojekte. Schließlich sagte sie, auch die Palästinenser müßten ihren eigenen Staat haben. So weit, so gut. Aber ein Wort, an einer bestimmten Stelle gesprochen, erschreckte, ja verstörte mich. Frau Merkel sagte: Die Palästinenser müßte den "jüdischen" Staat Israel anerkennen.

Weiß Frau Merkel, dass alle Vorgängerregierungen allein die Anerkennung des Staates Israel forderten, und erst die jetzige, sehr rechtslastige Regierung den Zusatz "jüdisch" in diese Forderung eingefügt hat? Weiß sie, dass  etwa 20% der israelischen Staatsangehörigen keine Juden sind? Weiß sie, dass innerhalb von Israel der Begriff "jüdisch" im Wesentlichen eine Religionszugehörigkeit bezeichnet? Dass die zwei Oberrabiner in Israel als einzige darüber bestimmen, wer sich "Jude" nennen darf? Ist ihr klar, dass mit dieser Forderung eine enge Verquickung von Staat und Religion einhergeht? Welcher Rechte die Nichtjuden verlustig gingen, wenn die Forderung verwirklicht würde?

Wenn sie das alles wüßte, hätte sie es, hoffe ich, nicht gesagt.

Die Rede von Herrn Netanyahu wurde nicht gesendet. Wenn ich recht verstanden habe, wurde auf Grund der schlechten Tonqualität darauf verzichtet.

Hat man sowas je gehört? Tonqualität?? Als Übersetzerin weiß ich, dass politische Unstimmigkeiten gern auf den Rücken der Dolmetscher abgewälzt werden. Diesmal waren wohl die Tontechniker an der Reihe...

 

Frankfurt, 26. August

Bis letzten Sonntag war ich mit meinen Enkeln unterwegs. Eine große Freude: sie sind selbstbewusst, sie wissen meistens, was sie wollen, und sie scheuen sich nicht, gelegentlich zu fragen. "Wie kommt es," fragte meine Enkelin auf dem Mont St. Michel in Frankreich (Normandie), "dass sich Leute die Mühe machen, auf einer so kleinen felsigen Insel solche Prachtbauten wie dieses Kloster und dieses Städtchen mit Kirchen und Türmen und Gärten zu erbauen?"

Sie ist ein praktischer Mensch, meine Enkelin. Sie hätte im Inland gebaut. Ich dachte etwas nach und antwortete in etwa: "damals glaubten die Leute, diese Mönche, dass sie auf der Höhe des einsamen Felsens mitten im Meer dem Himmel, also Gott, näher wären."

Das verstand sie, selbst wenn sie es vielleicht nicht billigte. Wir sind nicht sonderlich religiös in der Familie. Aber auf dem Inselchen von Mont St. Michel fühlten wir uns trotz der unglaublich vielen Touristen in den Gassen wohl, fast schon zuhause, es ging uns gut an diesen anderthalb Tagen zwischen Ebbe und Flut.

 

Paris, 18. August

Es ist mein letzter Tag in Paris, und meine Gedanken schwimmen. Die Hitze mag freilch einen Grund zu der Unbestimmtheit im Kopf beitragen, doch ist sie nicht ihr einziger. Es stehen mir mehrere Ziele vor Augen und verwirren mich. Mehrere Erlebnisse klingen noch nach und rufen nach klärender Einordnung. Wir hatten Familientreffen: die Kinder meiner älterern Tochter trafen zum ersten Mal mit der Schwester ihres französischen Grossvaters zusammen, mit deren Sohn und ganzer Familie. Die Sprachenbarriere liess sich momentweise überwinden. Erinnerungen wurden geweckt, vorgetragen, bewertet. Der Grossvater fand seinen alten Witz wieder, wir lachten viel. Und doch weiss ich auch, dass jede und jeder der neun Anwesenden etwas anderes erlebt hat ...

Meine jüngere Tochter, die Künstlerin aus Paris, übertraf sich mit dem Auftischen von Vorspeisen, Salaten, Braten und vor allem Kuchen - sie backt die herrlichsten Kuchen mit der Leichtigkeit, mit der eine Henne Eier legt! So erscheint es mir.

Danach habe ich mich wieder ernsteren Themen zugewendet, solchen, die mich die nächsten Wochen und länger beschäftigen werden: Afrika, wegen unseres literarischen Abends über die Simbabwerin Yvonne Vera (am 2. Oktober in der Frauenfriedenskirche in Frankfurt), längerfristig auch wegen der Anthologie von Muepu Muamba, die ich, sobald sie fertig und erschienen ist, gern auch öffentlich vorstellen will; ich habe heute nachmittag Condorcets Erklärung gegen die Sklaverei entdeckt, gekauft, zum Teil gelesen. Es geht um Freiheit, Selbstbestimmung, um die Definition von Besitz, den Vorrang der Moral vor Wirtschaftsinteressen und viele andere Fragen darin. (Condorcet war ein Philosoph der Aufklärung und hat in der französischen Revolution eine Rolle gespielt.)

Weiter lese ich den modernen chinesischen Roman "Das rote Kornfeld" von Mo Yan, um mich auf da&s "Gastland China" im Oktober auf der Buchmesse vorzubereiten. Und Nahost bleibt immer auf meiner Prioritätenliste: ich habe hier in Paris eine Zeitschrift mit dem Titel "Moyen Orient" entdeckt - es war die Nummer 1, sie ist völlig neu und legt dem Begriff "moyen orient" eine Ausdehnung zugrunde, wie sie anscheinend gegenwärtig von den Amerikanern benutzt wird: von Mauretanien bis Pakistan. Es ist eine seriöse Zeitschrift. Olivier Roy wird darin über seine Meinung von den politischen Zielen des Iran befragt und gibt Antworten, die (mir!) zum erstenmal ein vernünftiges Bild zeichnen. Das Bild liegt meilenweit von den emotionalen, aufgeregten, feindseligen Auffassungen entfernt, die mir sonst entgegenschlagen. In einer anderen Zeitschrift entdeckte ich einen Artikel aus Haaretz (Israel), in dem gezeigt wird, wie die israelische Agronomie und Wirtschaft sich die völlige Abschottung des Gasastreifens zunutze macht: da Lebensmittel dorthin geliefert werden müssen, schickt man jeweils solche, die der israelische Markt gerade nicht brauchen kann (ohne dass die Preise sinken würden); die Militärs entscheiden darüber täglich, vor allem nach den Bedürfnissen der israelischen Wirtschaft. Der Bedarf der Palästinenser wird nach Kalorien pro Person berechnet, mehr gibts sowieso nicht; eine zeitlang galten Nudeln als Luxus und waren verboten! Bis sich ein amerikanischer Politiker einmischte ... Nun dürfen auch wieder Nudeln die Grenze überqueren. Selbstverständlich zahlen die Palästinenser alle diese Waren, einige werden reich dabei.

Da tut es gut, Condorcet zu lesen, der die Moral höher als die Wirtschaftsinteressen stellt!

Paris, den 15. August

Über "Zeit" habe ich noch nie gern philosophiert. Neulich hatte ich jedoch ein Streitgespräch mit Muepu darüber, und ich versuche seitdem, mich mit dem Gedanken vertraut zu machen, dass die afrikanische Auffassung von Zeit sich von der hier in Europa üblichen noch anders unterscheidet, als ich es zunächst wahrhaben wollte. Muepu schreibt in einem Gedicht von der "gefesselten" Zeit der Abendländer, und darunter versteht er wohl das Auf-die-Uhr-Gucken, das "Pünktlichsein", das fahrplanmässige Leben. Wie ich jetzt in anderen Büchern lese, betrachten die Afrikaner die Zeit nicht als teilbar, sie sehen sie organisch; auch hat Freundschaft oder eine Lösung von sozialen Spannungen immer Vorrang vor anderen Ordnungen.

In unserem Gespräch wandte ich ein, dass der Unterschied mit dem Klima zusammenhängen könnte: hier müssen wir immer an den Winter denken, müssen vorsorgen - das ist wirklich sehr viel Arbeit, und Arbeit braucht Zeit. Die Planung kann sich meistens nicht nach dem persönlichen Befinden der Einzelnen richten ......

Und warum nicht?

Wie lernen Kinder eigentlich, dass sie nicht nur ihr eigenes Befinden im Auge haben, sondern auch das von anderen, ohne sich zu quälen? Denn vermöchte jederzeit jemand fröhlich für den anderen einzuspringen, dann ....

Es müsste dann freilich auch jeder jederzeit die gesamte Planung im Kopf tragen....

Heute sind es mindestens 33 °C in Paris, und mein Kopf will nicht weiter .... Ich muss die Frage ruhen lassen ....

Frankfurt, den 4. August

Zurück aus Wiener Neustadt, eine Woche habe ich mich in der Kleinstadt umgesehen. 40.000 Einwohner, stand überall, niemand machte sich die Mühe einer genauen Zahl.

Wenn ich in Österreich dauerhaft leben wollte - dem Vernehmen nach bilden die Deutschen die größte Ausländergruppe in Österreich, ich wäre also nicht die einzige - dann könnte ich mich nur in Wien zuhause fühlen.  In Wien leben die Erwachsenen. Gestern fuhr ich nur einmal mit der U-Bahn durch die Stadt, und habe das ganz deutlich gespürt.  Nachdem ich gut eine Woche in Wiener Neustadt verbracht hatte. Wiener Neustadt war so aufregend, dass ich mich keine Minute gelangweilt habe, und so geruhsam, dass ich wie selten meinen eigenen Gedanken nachspüren konnte. Ich stand eine Stunde vor einer Buchhandlung, um ein Buch zu lesen, dass ich keinesfalls kaufen wollte. Aber lesen!

Die Frage, mit der ich durch die Stadt ging, hatte ich teilweise mitgebracht, teilweise vor Ort aufgelesen: Was bedeutet "rechts" in Österreich. Eine klare Antwort habe ich nicht bekommen. Manchmal dachte ich: alle sind rechts, aber das stimmt auch nicht.

Ich fand hochkarätige und doch unterhaltsame Zeitschriften, die sich menschlich hingabevoll den Migranten und ihren Sorgen widmeten. Dafür gibt  es allen Grund. Migranten werden im Straßenbild dermaßen ignoriert, wie ich das noch nie erlebt habe. Man schaut nicht weg, nein, man behandelt sie wie Luft.

Ein junger Mann ging durch den bereitstehenden ICE-Waggon und bot Zeitschriften an, ich glaube, er murmelte: "Obdachlosen-Zeitung". Niemand kaufte. Es hing vermutlich mit dem Verkäufer zusammen: er atmete Angst. Er flehte. Er war ein Niemand. Grad als er wieder am Ausgang war, bewarf ihn der Schaffner mit Schimpfwörtern und hieß ihn aussteigen. Der Schaffner sprach nicht mit Autoritäts-Stimme, sondern mit dem Ekel eines, der sich vor Spinnen fürchtet. Ich lief hinter dem Jungen her und kaufte ihm eine Zeitschrift ab. Der Schaffner tadelte mich streng. "Wir wollen das nicht! man darf sie nicht noch unterstützen!" So in etwa, als hätte ich Tauben gefüttert. Ich erwiderte selbstbewußt, dass der Verkauf der Zeitung den Arbeitslosen die Chance bietet, durch eigenes Tun ein wenig Geld zu verdienen. Der Schaffner, verächtlich: "Der soll sich eine ordentliche Arbeit suchen!" Ich stieg ein und warf ihm rückwärts zu: "Die gibts bekanntlich nicht!"

Die Zeitschrift erwies sich als eine der gescheitesten, die mir in Österreich begegnet sind. Eine "Straßenzeitung für ganz Österrreich", zu finden unter www.buntezeitung.at

Frankfurt, 26. Juli

Was gäbe es nicht alles zu erzählen! Da fällt mir ein Bericht über "Gewerkschaftliche Unabhängigkeit in arabischen Ländern" in die Finger, und obwohl ich dringend anderes zu tun habe, muss ich mal schnell hineinschauen. Da werde ich zunächst wieder darauf hingewiesen, dass Gewerkschaften sich als "unpolitisch" verstehen, womit sie meinen, dass sie nicht die Partei von Parteien ergreifen, sondern nur für die Interessen ihrer "Gewerke", ihrer Mitglieder kämpfen: für sicheren Lohn und für ordentliche Arbeitsbedingungen. Mit "arabischen" Ländern sind in diesem Artikel  Libanon, Jordanien, Ägypten und Palästina gemeint.  Im Juli 2008 trafen sich Vertreter von Gewerkschaften aus diesen Ländern in Beirut. Sie faßten sich als "Bildungsvertreter" auf, denn seit 1995 lief ein Projekt, mit dem "Bildung" in die gewerkschaftliche Arbeit integriert wurde: Workshops und Diskussionen, die strategisches Denken und Einbeziehung übergeordneter Themen zum Gegenstand hatten. Finanziert wurde das Projekt von Gewerkschaften aus Holland. Nach zehn Jahren Lernzeit wurde das Projekt beendet; die arabischen Gewerkschaften fingen an, sich in nationalem Rahmen um "Bildung" und deren Zusammenhang mit den nationalen Prioritäten zu kümmern. So ging es im Libanon vorrangig darum, die religiösen Differenzen in den Gewerkschaften gering zu halten. In Jordanien versuchte man, nationale Arbeitsgesetze so zu verändern, dass daberi die ArbeitnehmerInnen besser wegkamen. In Ägypten kämpft man um lokale Repräsentation, auch durch Frauen. In Palästina gibt es keine langfristige Planung - weiter als ein Jahr läßt sich nichts absehen. Die Verbindungen zwischen Westbank und Gasa werden massiv durch Israel gestört - allenfalls Emails gingen zu einem gewissen Zeitpunkt noch durch. Dennoch gab es 2007 in Palästina die ersten Gewerkschaftswahlen!

Jetzt MUSS ich schließen.

Näheres siehe unter www.world.psi.org

(psi = public service international)

Frankfurt, den 24. Juli

In der Schweiz fand ich auch Zeit für Yvonne Vera aus Simbabwe. Ich las ihr Buch "Butterfly Burning" - ein Liebesroman, wenn man so will. Yvonne Vera starb schon 2005, mit 40 Jahren, und hatte für ihre fünf Romane eine Menge Preise bekommen. Für diesen Roman, auf Deutsch unter "Schmetterling in Flammen" erschienen, erhielt sie 2002 bei der Frankfurter Buchmesse den "LiBeraturpreis".

Dieser jährliche Preis, für Bücher von Schriftstellerinnen aus Asien, Afrika und Lateinamerika reserviert, die auf Deutsch erschienen sind, existiert seit 22 Jahren. Im Herbst sollen nun alle diese Autorinnen "ins Licht gerückt" werden: mit einer Ausstellung und mit Lesungen. Wir vom "Literaturclub der Frauen aus aller Welt" haben eine solche Lesung übernommen, sie findet am 2. Oktober statt, und sie wird Yvonne Vera gewidmet.

"Butterfly Burning" ist viel mehr als ein Liebesroman. Er spielt zu der Zeit, als Simbabwe noch die britische Kolonie Rhodesien war und die schwarzhäutigen Bewohner nicht den Bürgersteig betreten durften (außer wenn sie ihn putzten). Er erzählt aus der Perspektive einer Frau, die mehr will als nur einen Mann - auch wenn sie ihn liebt - eine, die "sie selbst" sein will, oder "jemand". Nicht nur ein dunkler Schatten. Die Sprache, mit der Yvonne Vera sich ausdrückt, macht die ganze Geschichte zu einem Gedicht in Prosa, gibt ihr eine Intensität, für die man sich Zeit nehmen muss, um sich hineinzufühlen. Dann vergisst man diese Geschichte auch nicht mehr ....

Frankfurt, 23. Juli

Wieder so ein schwüler Tag. Gewitter überall. Eben berichtete das Fernsehen, wie bei Haltern der Blitz in ein Haus eingeschlagen hatte, ein stattliches Anwesen mit Reetdach, das Haus verbrannte, und ich hörte, wie ein Anwohner mit entrüsteter Stimme in breitem Westfälisch kommentierte: "Da brauch ma ja kein Kriech mehr, die Wetter werden immer schlimmer!"

Da braucht man keinen Krieg mehr. Es lebe Blitz und Donner!

Ich war am Genfer See und bin Erinnerungen nachgegangen. Im Sommer 1955 verbrachte ich als Au-Pair-Mädchen fünf glückliche Monate in einer privaten Sprachenschule am Ufer dieses Sees. Ich musste ein wenig putzen, war aber sonst den übrigen Schülern gleichgestellt, d.h. ich nahm am Unterricht teil. Geld bekam ich keins, auch versichert war ich nicht. Ich durfte also nicht krank werden. Wenn ich ein Kratzen im Halse spürte, gurgelte ich mit Salzwasser, und es half.

Die Landschaft am Genfer See empfinde ich noch immer als die schönste, die es gibt, und das kann ich schwer beschreiben, obwohl ich inzwischen viele andere Landschaften gesehen habe. Damals kam ich aus den Ruinen der zerbombten Stadt, aus dem Ruß der Hüttenwerke hervor und sah Farben, Formen in täglichem Wechsel fließen, schweben, eine Unendlichkeit im klar umgrenzten Bergkranz. Betrachtet aus 1000m Höhe wölbt sich der See mit der Erdoberfläche, jedenfalls sah ich das so diesmal, oberhalb von Les Avants. Der See wölbte sich und versank am Horizont im Dunst. Doch spielt wohl alles zusammen: die Formen der Berge, die Farbe des Wassers, die Blumen, die Schiffe.

Es wurde gegenüber von Montreux gerade das größte Segelboot der Welt gebaut, ein riesiger Katamaran, angeblich mißt der einzige Mast 50 Meter. Die Leute guckten ständig zu, waren stolz. Mit diesem Schiff wollen die Schweizer bei einem großen Segelrennen gegen die Amerikaner gewinnen. Jeder Zuschauer fühlte sich beteiligt, kaufte gern irgendeinen Gegenstand mit dem Namen des Schiffes darauf: Alinghi 5 soll es heißen, wenn ich nicht irre. Es wurde an einem Tag auf dem See ausprobiert, ich war leider nicht dabei - hätte mich interessiert -, und am nächsten Tag wieder auseinandergenommen und dann von einem russischen Hubschrauber zum Mittelmeer geflogen!

Friedliche Schweiz. Auf den Autobahnen halten die Fahrer vernünftigen Abstand. Das merkte ich besonders auf der Rückfahrt: in Deutschland fahren sie einem wieder bis auf einen Meter vor die Stoßstange! Kein Wunder, dass es hier Massenkarambolagen gibt.

Die Schweiz ist freilich auch nicht ohne Sorgen: Das Bundesgericht kämpft gegen die Bundesregierung um die Erhaltung (oder Vernichtung) von Akten, aus denen hervorgeht, so mutmaßen die Journalisten, dass die Schweiz, also die Schweizer Regierung, mit den USA ein Techtelmechtel über Atomgeheimnisse hatte und das dem Parlament verschweigen möchte. Damit die Akten nicht klammheimlich verbrannt würden, schickte das Gericht die Berner Kantonalpolizei in die entsprechenden Büros: nicht um die Akten selbst sicherzustellen, sondern um die Schlüssel zu den Schränken zu sichern. Die Berner Kantonalpolizei in Bundesbüros! Das war die wahre Beleidigung.

So las ich es zumindest heraus.

 

Frankfurt, 10. Juli

Zum Häkeln ist mir noch eingefallen, dass bei uns zuhause viel gehäkelt wurde. Meine Großtante Franziska brachte kunstvolle Deckchen zustande. Ich selbst habe so manches kleine Stoffquadrat umhäkelt und das Ergebnis als Taschentuch zum Geburtstag verschenkt. Meine Mutter wollte sich unterscheiden und strickte Spitzen - feine Spitzen mit Stricknadeln. Als sie  älter wurde, bekam sie vom Stricken Nervenschmerzen und gab es auf. Einmal häkelte sie ihrem ältesten Sohn und ihrer Schwiegertochter eine große Gardine für das Wohnzimmerfenster. Sie hatte ein Muster entworfen, es sah kunstvoll aus und war gewiß ein Original.

Der Vorteil des Häkelns besteht darin, dass man nur mit einem Fadenknäuel und einer Häkelnadel große Textilien herstellen kann, zu nahezu allen Zwecken. In vorindustrieller Zeit war das ein Produktionskapital. In der Umgebung meiner Kindheit ist mir nie jemand begegnet, der/die sich beim Häkeln langweilte - dann ließ sie es nämlich ganz. Freilich haben wir die Technik des Häkelns noch gelernt: häkeln, stricken, nähen, sticken. Ich habe das alles genützt und dabei doch das Leben nicht verpasst.

 

Frankfurt, den 9. Juli

Gestern abend war ich, wie viele Frankfurter und Frankfurterinnen, zu einer Veranstaltung in das Kino "Mal Sehn" eingeladen, weil dort Renate Chotjewitz' gedacht wurde. Da ging ich natürlich hin.

Hinterher allerdings dachte ich: das hätte Renate anders gemacht.

Renate (gest. 24.11. 08) arbeitete im Verein "Asta Nielsen" mit, der sich um Frauenfilm oder Filme von Frauen oder Feminismus im Film oder so ähnlich kümmert. Die beiden Vereinsvertreterinnen berichteten, dass sie im Andenken an Renate eine Vorführungsreihe mit Filmen entwickelt haben, die Bezug auf Literatur nehmen. Und den Hauptfilm von gestern abend, den habe Renate gern zeigen wollen, sagten sie. Er hieß "Anna" und war Anfang der achtziger gedreht worden.

Renate hätte vor diesem Film eine Einführung gegeben, dessen bin ich sicher. Sie hätte vielleicht erklärt, wie die Frauen in den siebziger Jahren gegen ihre Mütter, gegen die vorangehende Generation, gegen deren Werte angingen. Wie sie sich mit ihrem eigenen Körper beschäftigten (man kaufte sich ein Spekulum und schaute mit einem Spiegel ins eigene Innere). Wie sie nach einer neuen Ästhetik suchten, eine, die scheinbar Triviales als wichtig erkennt. Zum Beispiel. Das ist, was mir dazu als erstes einfällt. Die Frauen suchten. Sie riskierten auch die Lächerlichkeit. Sie wendeten sich weg von den Ansprüchen der Männer, von dem durch Männer geprägten Frauenbild. Ich habe zehn Jahre Frauentheater gemacht, ich weiß, wovon ich rede.

Der gezeigte Film war solch ein Versuch. Aus heutiger Sicht finde ich ihn missraten. Er will Langeweile durch Langweiligkeit darstellen, das MUSS misslingen. Er hält sich mit der Häkelei auf und dabei versteht weder die Darstellerin, noch offenbar die Regisseurin etwas vom Häkeln - wieso befassen sie sich mit etwas, das sie nicht können und das sie nicht interessiert??

Von Literatur ist mir überhaupt nichts aufgefallen, denn die zwei oder drei Textchen, die immer und immer wieder gesprochen wurden, empfand ich nicht als besonders literarisch, jedenfalls nicht als gelungen.

Ich habe mich barbarisch gelangweilt und war zuletzt so ungehalten, dass ich nicht zur Diskussion bleiben konnte.

Schade. Renate hätte das bestimmt anders gemacht.

Frankfurt, den 5. Juli

Heute würde meine Mutter 103 Jahre alt. Sie ist vor zehn Jahren gestorben. Sie war eine geheimnisvolle Frau, meine Mutter. Sie wusste viel, sie konnte viel, sie hatte feste Meinungen - und doch blieb so vieles unausgesprochen. Ich glaube, es fehlten ihr und uns allen die Maßstäbe des Erzählens. Wir kannten nur Märchen und Heldenepen, und in deren Rahmen passte unsere Geschichte nicht hinein. So blieb ihre eigene Geschichte für meine Mutter letztlich unerzählbar, auch wenn sie so gern erzählte. Möge sie in Frieden ruhen.

Ich habe über Leibniz, den berühmten Philosophen, in der LRB gelesen. Er war seit 1676 als politischer Berater, als Technikspezialist, als Historiker beim König von Hannover fest angestellt und sollte dabei eine "Genealogie der Welfen" verfassen. Daran arbeitete er noch, als 1714 König Georg von Hannover zum ersten King George of Great Britain gekrönt wurde. Leibniz kam nicht mit, er solle die Welfengeschichte zunächst fertig schreiben, wurde ihm bedeutet. Eigentlich wäre er nämlich gern nach London übergesiedelt.  Aber da Leibniz  sich früher schon einmal mit dem berühmten Physiker Newton angelegt hatte, war es dem neuen König von England wohl auch recht, dass die beiden Gegner nicht zusammenträfen. Leibniz starb 1716 in Braunschweig. Da war er mit der Welfengeschichte gerade bis 1005 gekommen.

Dieses und viele andere Anekdoten und Klarstellungen in Hinsicht auf den Philosophen und Mathematiker - Voltaire schrieb seinen "Candide" als Antwort auf Leibniz' Weltdeutungen - findet man in der Biografie, die jüngst in England und auf englisch erschienen ist, geschrieben von einer Frau mit dem schönen italienischen Namen Maria Rosa Antognazza. Die Besprechung macht mich sehr neugierig auf das Buch!

Leibniz hinterließ 200.000 beschriebene Blätter und verfügte, dass sein Nachlass nach seinem Tod veröffentlicht werden solle. Daran wird heute noch gearbeitet, las ich, genauer, seit 1923. Fünfzig Bände sind schon veröffntlicht; der Gesamtumfang ist auf 150 Bände veranschlagt.

Frankfurt, den 4. Juli

Heute morgen hatte ich mal wieder Zeit und Muße und das heißt genug Platz im Kopf, um in Ruhe die Wochenzeitung "d'Letzebuerger Land" zu lesen, meine luxemburgische Wochenzeitung. Früher, d.h. bis vor etwa zwei Jahren, schrieb ich auch für diese Zeitung. Meistens habe ich einen Artikel hingeschickt, wenn ich einen geschrieben hatte, über ein Thema und in einer Weise, wie es mir angemessen erschien; meistens hatte ich auch vorher angerufen und gefragt, und die Redakteure antworteten "Ja, gern", und sagten mir, wieviel Zeilen es sein sollten usw.

Freilich bewirkte meine zunehmende Abwesenheit von Luxemburg - jetzt sind es schon 18 Jahre! -, dass mein Fokus mehr und mehr in Frankfurt lag, und, was stärker ins Gewicht fiel, ich wußte allmählich nicht mehr, woran sich in Luxemburg die Gefühle entzündeten. Vielleicht schleicht sich in mein Schreiben sogar etwas von der deutschen Arroganz ein, ohne dass ich es merke, und obwohl ich das nicht will. Oder ein Ton, der in Luxemburg als Arroganz wahrgenommen wird, und ich kann das nicht mehr einschätzen. 

Jedenfalls hat man mir vor zwei Jahren per Email mitgeteilt, dass man die eingesandten Artikel nicht drucken werde. Seitdem habe ich - außer einem Leserbrief über die Repräsentation Luxemburgs auf der Buchmesse 2008 - nichts mehr hingeschickt, und es hat mich auch keiner gebeten (oder überhaupt auch nur mit mir gesprochen). So geht das in Luxemburg. Man spürt, worum es geht, worauf es ankommt, was man sagen kann, welche Grenzen man überschreiten darf, und irgendwann spürt man auch, welche man nicht überschreiten darf. Aber wenn man nicht dort lebt, kann man es nicht spüren.

Man macht sich aber vielleicht nie frei von der Erinnerung an diese Intensität des Urteils und Verurteilens, die in  Luxemburg herrscht. Ich hörte heute morgen jemanden von der deutschen Ehefrau eines luxemburgischen Dichters erzählen. Sie ist seit langem geschieden, ihr Ex-Mann ist gestorben und sie lebt auch schon längst nicht mehr im Großherzogtum. Aber von einer öffentlichen Lesung luxemburgischer Schriftsteller im Ausland wird sie wie magisch angezogen. Es ist und bleibt ihr Land, sie hat dort geliebt, sie hatte dort ihr Weltbild gefunden, mit dem sie, zumindest für eine Weile, Frieden erlebte.

In "d'Letzebuerger Land" vom 26. Juni fand ich einen Bericht von Laurent Mignon. So heißt ein Luxemburger, der in Ankara türkische Literatur lehrt und der auch Gedichte schreibt (auf Französisch) - wahrscheinlich habe ich schon mal von ihm erzählt. Laurent Mignon berichtete von einer Iran-Ausstellung in London, sie hieß "Shah Abbas: The Remaking of Iran" und zeigte, in welchem Maße schon im 17. Jahrhundert Globalisierung und Multikulturalismus in Iran, in Persien, in Ispahan selbstverständlich waren.

Mignon organisiert seinen Bericht um die Frage herum: "Wie schreibt man Geschichte?" und  findet, dass die Erforschung des Austausches zwischen den Kulturen ebenso subversiv wirken könne wie die Forderungen von Karl Marx.  Die Londoner Ausstellung zeige das. Zum Schluss seines Artikels zitiert Mignon zwei Gedichte, die zwei grundlegend verschiedene Wahrnehmungen von  Geschichte wiedergeben, und er vergleicht die Herkunft der beiden Dichter: der eine kam von unten, der andere von oben. Mignon schließt daraus: Marx' Lehre genüge zwar nicht notwendigerweise, die Geschichte der Gesellschaften vollständig zu erkären, doch sie helfe uns, ihre Kommentatoren besser zu verstehen, gleichgültig, ob sie nun in Iran oder in England wohnten.

Oder in Luxemburg. Die Iran-Ausstellung war schon am 14. Juni zuende. Für mich dauerte sie indessen bis heute, denn heute las ich darüber in einer luxemburgischen Zeitung vom 26. Juni und wurde dadurch reicher.

 

Frankfurt, 30. Juni

Mein Leserbrief an die taz wurde nicht gedruckt. Früher sind doch schon mehrere meiner Briefe erschienen. Bin ich inzwischen aus dem Themenkreis herausgefallen, der die Leser interessiert?

Mein Thema ist z.B. "Sexismus", ich hatte schon vor zwei Monaten dazu eine Beschwerde geschickt, die nicht gedruckt wurde. (Es handelte sich um eine extrem sexistische Beschreibung des TV-Gesprächs zwischen der Bundeskanzlerin und der Journalistin Anne Will.) Ich habe mit verschiedenen jüngeren Frauen gesprochen. Spöttisch fragten sie mich - es ging um den Vergleich eines "Sehnenrisses" mit  der Niederkunft von Rachida Dati, der französischen Justizministerin - : "Was sollte man stattdessen sagen?" und "Worüber regst Du Dich auf?"

Darauf wußte ich keine Antwort, und das brachte mich auf die Idee, dass ich mit meinen Wahrnehmungen und Standpunkten aus der Gegenwart "rausgefallen" bin.

Wie kommt das? Warum merken Frauen nicht mehr, wenn sie herabgesetzt werden? Merken nicht, dass sie zu Lustobjekten von Männern degradiert werden? Bzw. verhöhnt, sobald sie die Lusterzeugung verweigern?

Die derzeitige Mode verlangt von den (jungen) Frauen körperliche Provokation: Busen, Hintern, Beine. Sie müssen bieten, was eine Hure ihr Betriebskapital nennen könnte. Hängt das damit zusammen, dass die Kinder in den letzten zwanzig Jahren mit Pornografie aufgewachsen sind? Dass ihnen Pornografisches als normale Grundlage ihres Seins vorkommt? Ja, was ist denn eigentlich "Pornografie"? Ich schau jetzt nicht bei Wikipedia nach, sondern in meinem Kopf: es sind Bilder, die sexuelle Lust beim Betrachter erzeugen sollen. Das erinnert mich daran, wie einst eine Nachbarin mir gestand, dass sie und ihr Mann sich oft solche Bilder anguckten, um in Stimmung zu kommen. Staunend hörte ich ihr zu. Ich war fast immer in Stimmung, und pornografische Bilder hätten auf mich in entgegengesetzter Richtung gewirkt: von Ekel abgekühlt.

Was will ich damit andeuten? Dies: ich bin aus meinen eigenen Erfahrungen gar nicht fähig, mich in das Körper- und Erotikempfinden einer Generation einzufühlen, die von klein auf mit allgegenwärtigen Pornografie-Bildern aufgewachsen ist. Kinder mußten diesen Anblick in ihr eigenes Körperbild, in ihre Gefühle integrieren. Wie machten sie das? ICH WEISS ES NICHT. Was wurde daraus? Weiß ich auch nicht.

 

Frankfurt, 27. Juni

 

An taz-Leserbriefe
Betr. „Eine angeblich klare Geschichte“, von Elisabeth Raether, aus taz vom Montag, 22. Juni 2009 S. 15


Für Tratsch zu teuer

„Bettelarm“ seien Rachidas Datis Eltern gewesen,  schreibt Ihre Autorin und findet die Bezeichnung gar nicht ehrenrührig. Anfang der sechziger Jahren seien sie „eingewandert“ – damals waren maghrebinische Länder noch französische Departements! Wenn ein Maurer von einem Departement zum andern reiste, dann ging er seiner Arbeit nach. Mit Bettelei hatte das nichts zu tun. Jede Familie bekam eine Wohnung und war sozial abgesichert. Die Kinder gingen zur Schule, und wenn sie begabt und fleißig waren, machten sie Abitur, wie andere auch. Falls sie wegen besonderer Umstände eine private (meist kirchliche) Schule besuchten, konnten sie in den Genuss von Freistellen kommen. Wenn Rachida Dati ab sechzehn nebenher gearbeitet hat, dann sicher nicht wegen der Schule, sondern vielleicht für die Garderobe. Die spielt bekanntlich eine große Rolle, wenn man ehrgeizige Pläne hat.  Ihre Journalistin qualifiziert die Kleidung der (inzwischen arrivierten) Rachida Dati als „erlesen“, was die Schreiberin an „hohen Schuhen“ und „geschlitzten Kleidern“ erkennt und insgesamt zu missbilligen scheint.  – Mit 41 bekam Dati eine Tochter, gewiss ein Wunschkind. Frau Raether jedoch vergleicht diese Niederkunft mit dem „Sehnenriss einer Kunstturnerin“! Wie einfühlsam. Datis Versetzung ins Europäische Parlament (als zweiter auf der Parteiliste war ihr der Einzug garantiert) deutet die Journalistin als vom Präsidenten „gefeuert“ – stattdessen wäre doch ebenso denkbar: Dati, die junge Mutter, entfernt sich für ein paar Jahre vom Pariser Haifischbecken der Intrigen und der Häme, sie lernt – nach Wirtschaftswissenschaften und Jura – alles über europäische Politik, und wenn ihr Kind reif für die Schule ist, kehrt sie zurück: eine zweite Karriere wäre möglich, etwas Neues – vielleicht hätte sie sogar das Zeug zur Präsidentin? In Deutschland gelten Europapolitiker als „abgeschoben“, das stimmt, es hat mit der deutschen Provinzialität zu tun; bei französischen Beamten hingegen gelten auch die Jahre in Brüssel oder Strassburg als normale „Dienstjahre“.
Sexistisch und arrogant berichtet Ihre Reporterin über eine Frau, die in der Mitte ihres Lebens steht und die, wenn sie will, ihre eigene, ihre wirkliche Karriere noch vor sich hat. „Ihre Fachkompetenz wurde jedenfalls bald infrage gestellt“ lese ich - Raether fragt nicht, wer das tat, und nennt dafür auch kein einziges Beispiel. Sie tratscht einfach. Dafür ist mir die taz zu schade!  

Barbara Höhfeld
Frankfurt am Main

Ob das wohl gedruckt wird?

Frankfurt, 26. Juni

Wieder drin!

Ich komme mit meinem Mac nach dreieinhalb Wochen endlich wieder normal ins Netz. Das Hindernis? Die meisten "Berater" von der technischen Hotline  der Telekom, mit denen ich in den drei Wochen sprach - es war nie derselbe -  kannten sich nicht mit Mac aus und gaben verkehrte Ratschläge. Meist ein, zwei Stunden lang, sie bestanden darauf, immer wieder dasselbe auszuprobieren. Ein Arbeitszeitvernichtungsprogramm hätte kaum effizienter sein können. Offenbar ging es keinem meiner Telekomgesprächspartner darum, dass ich schnell mit meinem Gerät ins Netz kam, sondern dass sie hinterher in ihren Arbeitsbericht schreiben konnten: erfolgreich Hilfestellung geleistet, oder sowas. Dafür war ihnen keine Zeit zu lang.  Meine Zeit leider auch nicht. Offenbar werden Mac-Kundige besser bezahlt und sind daher rar ....

Draussen in der Welt geht alles weiter, und es wird immer noch über Iran geredet. Auch die taz ist hundertpro für die Protestierer. Niemand zweifelt den Vorwurf eines riesigen Wahlbetrugs an, niemand hat aber dafür bisher einen Beweis erbracht. Kaum jemand  - außer Barth-Engelbart - weist auf den Aspekt hin, dass das Milieu der Protestierer aus reichen und gebildeten Städtern besteht, die allerdings zahlenmäßig keine Mehrheit aufbringen. Auf der Vorderseite der taz von gestern las ich: " ... die paramilitärischen Garden" "rekrutieren sich in der Masse aus einfachen jungen Männern. Diesen steht symbolisch unübersehbar eine Vielzahl junger städtischer Frauen gegenüber." Also "symbolisch" steht "eine Vielzahl" von städtischen Frauen "einfachen", will sagen, ungebildeten, jungen Männern "in der Masse"  gegenüber. Merkt denn keiner, dass es hier auch um Klassenkampf geht? Dass außerdem Leute, die seit Jahren einen Krieg gegen Iran führen wollen, hier die "symbolischen" Frauen, die reichen Städter und die Exiliraner für sich nutzen wollen? Geht es nicht auch um die Vorherrschaft im Nahen Osten? Sind CIA und Ölmultis eine bessere Partei als die geistlichen Gelehrten?

Ja, es stimmt: die Argumentationsebenen werden vermischt und das gehört sich nicht. Man muss offen fragen: Wem geht es um demokratische Gesinnung und wem um Vorherrschaft und Öl?

 

Frankfurt, 24. Juni

Nein, ich komme noch immer nicht ins Internet. Gestern hatte ich mir eine halbe Stunde Zeit dafür genommen; nach einer Viertelstunde sollte ich endlich zu einem Techniker durchgestellt werden, der mir kurz angesagt hätte, auf welche Fenster ich klicken muss - da verschwand die Verbindung in den Tiefen des Netzes, es blieb nur ein Besetztzeichen übrig. Heute nachmittag versuch ichs noch mal. Ich vermute, man will mich zwingen, eine kostenpflichtige Leitung zu benutzen; denn auf dem Telekom-Brief mit den neuen Zugangsdaten steht NUR eine solche. Das war zuvor nicht so.

Ein richtiger kleiner Fortsetzungsroman! Falls es mir gelingt, meinen Mac doch wieder ins Netz zu bringen, muss ich einen Beschwerdebrief an die Post schreiben und Schadenersatz fordern.

Derweil geht das Leben weiter. Ich hatte umfangreiche Zahnbehandlungen, aus denen ich mit erstaunlich geringen Schmerzen hervorgegangen bin. Ich habe einen weiteren Artikel über die Ergebnisse der Europawahl für das Gästebuch der SPD-Sachsenhausen geschrieben, er soll in den nächsten Tagen dort erscheinen. Ich habe auch den Entwurf für einen Leserbrief an die taz verfasst, der sich mit dem scheußlichen Artikel ("ein Porträt") über Rachida Dati vom letzten Freitag oder Samstag befasst. Darin finde ich Sexismus ("ein Schlitz im Kleid"!!), Verunglimpfungen (Eltern "bettelarm", obwohl die ganz gewöhnliche Arbeiter waren), es wird fast nur das Mobbing übernommen, das eine gehässige Presse für eine ledige Mutter, die Karriere macht, sich so ausdenken kann.

Die "taz" erscheint momentan als Chaos-Mühle: zu viele neue, zu junge Reporter, die von niemandem im Zaum gehalten werden und die mit  ihren jugendlichen Vorurteilen prahlen. Ohne es zu merken, natürlich. Die so manches nicht zu merken scheinen. Schade.

Frankfurt, 19. Juni

Inzwischen ist mir erläutert worden, was da passiert war: weil man versäumt hatte, mir zu sagen, dass ich einen neuen "Rooter" brauchte mit dem neuen Tarif, hat man mir den Rooter für den halben Preis verkauft. Das machte allerdings noch mal eine Tarifänderung nötig, von der man mir gar nichts sagte, bloß später eine schriftliche Mitteilung schickte, die wie alle Telekom-Mitteilungen viel zu klein und unübersichtlich gedruckt sind. Sie enthalten viele Formalitäten, die in kleinster Schrift drei, vier Seiten füllen. Ich hatte nicht drauf geachtet, es hat keiner gesagt und die Techniker, die man anruft - JEDESMAL ist es ein anderer! und jedesmal muss man alles neu erklären! - fanden die unterschiedlichsten und wunderlichsten Begründungen und Hinweise, nur nicht den, dass ich vor dem 18. Juni von der Post aus gar nicht ins Netz konnte.

Kurz und gut, ich komme immer noch nicht rein. Jetzt brauch ich erst neue Zugangsdaten. Absurd, sich die Zeit mit solchem Müll zu vertreiben - jedes Telefongespräch dauerte zwischen einer halben und zwei Stunden!!

Kam ich denn überhaupt noch zu sonst was?

Ja, gestern traf ich die Kollegen von Poseidon in Darmstadt, im hübschen Restaurant der Comedyhall, und es war lustig. Die Gruppe liest - leider ohne mich - am Sonntag um 11 Uhr im Darmstädter Literaturhaus. Jeder und jede von ihnen haben etwas Besonderes, einen eigenen Stil. Ich werde als nächstes den Roman von Fritz Deppert lesen. Wenn ich recht verstanden habe, ist es ein Kriminalroman, der in Darmstadt spielt und ist diesen Frühjahr neu erschienen.

Das erinnert mich daran, dass ich selbst ja auch einen neuen Roman zu schreiben begonnen habe, aber nicht besonders rasch damit weiterkomme..... Es wird Zeit!

 

Frankfurt, den 15. Juni

Noch immer kann ich von zuhause nicht ins Internet. Ich habe noch einmal sorgfältig die "Auftragsbestätigung" der Telekom gelesen, die vom 3. Juni datiert war. Nun ist mir aber schon am 2. Juni die DLS-Verbindung abgeschaltet worden. Und in dem Brief entdecke ich unter der Rubrik "Termin" (für was auch immer): 18. Juni 2009. Hat man also höheren Orts stillschweigend beschlossen, dass ich 16 Tage ohne Internet auskommen muss? Ohne mir das von  vornherein zu sagen natürlich und zu einem Moment, wo man den Auftrag nicht mehr rückgängig machen kann, weil die Verbindung ohnehin schon abgestellt wurde?

Bizarr. Hinterhältig. Heimtückisch. Aber was haben die davon??

Ich probier also die verschiedenen Internet-Läden in Frankfurt aus, derzeit sitz ich in der Nähe des Hauptbahnhofs und bin ganz zufrieden mit der Maschine. Hab schon einen Beitrag fürs Gästebuch unter www-spd-sachsenhausen.de abgeschickt, der von Europa handelt.

Denn wochenlang wurde ich mit Mails wegen der Europawahl bombardiert, doch niemand machte sich nach der Wahl die Mühe, mir oder den andern SPD-Mitgliedern mitzuteilen, welche Abgeordneten nun aus Hessen ins Europäische Parlament gewählt worden sind. Auf Nachfrage wurden mir zwei Internetadressen geschickt und die Vermutung hinzugefügt, es handle sich wohl um Udo Bullmann und Barbara Weiler. Weiler? Hatte ich noch nie gehört! Ich musste eine Weile forschen. Das machen natürlich die wenigstens. Sie verstehen das Schweigen der Oberen indirekt: Europa ist nicht wichtig.

Das soll jetzt anders werden, kein Schweigen mehr!

Frankfurt, den 14. Juni

Noch immer kann ich von zuhause aus nicht ins Internet, morgen werde ich mich wieder diesem Problem zuwenden. In der Zwischenzeit muss ich in öffentliche Internet-Läden gehen, um weiter zu schreiben, wie jetzt.

Ich genieße den strahlenden und ruhigen Sonntag - schade nur, dass ich nicht auf meinem Balkon sitzen kann! Die Blüten und das leuchtende Grün bilden einen Fensterrahmen, durch den der Blick auf die Welt von Freude durchwebt wird. Hier, im öffentlichen Raum, reden Menschen rechts und links in unverständlichen Sprachen. Aber ich komme zurecht..

Heute nachmittag werde ich wieder zu einer Arbeitssitzung mit Muepu und seiner Frau Maria gehen. Bekanntlich versuche ich seit bald vier Jahren, eine Anthologie mit Texten von Muepu Muamba auf deutsch zusammenzustellen. Das Manuskript ist auch schon seit einem Jahr fertig, aber nun gehen Maria und Muepu die Texte noch mal im Einzelnen durch, und es ergeben sich dabei vielfältige Verbesserungen. Gut, dass wir nicht auf Termine schauen müssen. Der Verleger ist geduldig!

Zuhause habe ich mit einem Bericht über das "Gastland Chinas auf der Buchmesse" begonnen, ich war vergangene Woche auf der ersten Pressekonferenz. Im überfüllten Raum herrschte eine eigenartige Mischung aus Neugier und Zürckhaltung - auf der chinesischen Seite ebenso wie auf der der Journalisten. Die Chinesen wollten nichts weniger als perfekt dastehen, die Journalisten wollten was über "Freiheit" oder dergleichen wissen, wagten aber nicht zu fragen, wohl aus der Sorge, die Gäste möchten das übelnehmen. Ich überlegte mir die Frage nach einer Beteiligung der chinesischen Diaspora, verzichtete aber schließlich, weil zwei Journalisten zuletzt doch noch ähnliche Fragen stellten, z.B. : "Werden chinesische Autoren etwa aus Singapur oder aus USA einbezogen? Auch wenn sie englisch schreiben?"

Die Antwort lautete: "Unter chinesischer Literatur verstehen wir Texte von Autoren, die in China leben. Die Sprache hingegen spielt gar keine Rolle: wir haben 56 Sprachen in China!"

Na ja, ich will meinen Artikel hier nicht vorwegnehmen. Ob ich freilich die voraussichtliche Komplexität des chinesischen Auftritts angemessen darzustellen vermag - das steht auf einem andern Blatt!

Frankfurt, den 10. Juni

Nach acht Tagen habe ich es noch immer nicht ins Netz geschafft. Weder die Techniker von t-online noch die von Apple konnten mir helfen. Bei t-online sagten sie mir: "über Mac wissen wir nicht bescheid", bei Apple wurde ich heute mit dem Argument abgefertigt, mein Gerät sei älter als das, an dem mein Gegenüber arbeite, daher könne er mir nicht helfen.

Jetzt werde ich versuchen, die ganze Umstellung rückgängig zu machen -  freilich garantiert mir auch das nicht die Rückkehr ins Internet.

Heute bekam ich wie zum Hohn von T-online eine PIN-Nr. zugesandt, mit der ich mir auf der umgestellten neuen Telefonleitung Pornofilme ("Filme für Erwachsene") auf dem Fernseher angucken könne!!! Vielleicht sollte ich mal einen Rechtsanwalt einschalten.

Als möglicher Trost bleibt mir der Anspruch, aus dieser Affäre einen lustigen Text zu machen.

Ein Anspruch, den zu erfüllen ich im Moment nicht imstande bin.

Frankfurt, den 7. Juni

Im Jahr 2001 wurde in Paris ein Verein mit dem Namen ADEN gegründet, eine Abkürzung für "Association des Descendants d`Esclaves Noirs", auf Deutsch "Verein der Nachkommen schwarzer Sklaven". Dieser Verein stand u.a. hinter dem vom französischen Parlament 2002 verabschiedeten Gesetz, wonach "Sklaverei" künftig offiziell als Verbrechen gegen die Menschheit betrachtet werden muss.

Das erfuhr ich gestern auf einer Tagung über die Frage, ob man die Geschichte mit Gesetzen beeinflussen kann und soll. Das Institut Francais hatte die Tagung zusammen mit dem Romanistischen Institut der Uni Frankfurt ausgerichtet, es sollte auch ein deutscher Vertreter da sein, um das Thema aus deutschem Blickwinkel zu betrachten. Der deutsche Teilnehmer Prof. Perels musste wegen Krankheit leider absagen. So wurde es eine Auseinandersetzung zwischen Frankreich und seinen Kolonien.

Lebendig nachvollziehbar für alle  stand die Frage im Raum, was das mit einem Menschen macht, der sich selbst als Nachkomme von Sklaven definiert. Auf den karibischen Inseln, z. B. Gouadeloupe, stammen 80% der Bevölkerung von Sklaven ab. Die Schriftstellerin Gisèle Pineau hat in den Archiven von Gouadeloupe nach ihren Ahnen geforscht; sie fand um 1820 die Sklavin Angélique, die vierzehnjährig zu dem weissen Vorfahren kam, ihm fünf Kinder gebar. Als die Kinder erwachsen wurden, hat der Vater sie "frei" gegeben - "affranchi", ein bürokratischer und daher dokumentierter Vorgang. Kurz vor seinem Tod hat er Angélique geheiratet, die damit sein ganzes Vermögen erbte. Gisèle Pineaus eigene Geschichte hat auch mit Krieg zu tun, denn ihr Vater engagierte sich als Berufssoldat in der  französischen Armee, wodurch die Tochter von früh auf weit in der Welt herumkam und in Frankreich zur Schule ging. Pineau erzählte, wie man vor zwanzig, dreissig Jahren sich als die Nachfahren afrikanischer Könige fantasiert habe, später sah man Rebellen und Widerständler in den Vorvätern - doch heute könne sie selbst sich mit dem Gedanken aussöhnen, dass Angélique eine Sklavin war, auf dem Markt gekauft wie ein Stück Vieh, und dass ihr Selbstbewusstsein darunter nicht mehr leide. Ihr (erfolgreiches!) Schreiben hilft ihr dabei. Die Wahrheit herausfinden, daran ist ihr vor allem gelegen.

Frankfurt, den 5. Juni 2009

Nun habe ich mein kleines Referat doch nicht vortragen können, es blieb keine Zeit dafür. Die fünf Tage waren randvoll ge- und verstopft mit dem Surfen zwischen Theorie und Praxis, mit dem Erfassen der Zusammenhänge zwischen der Evolution des Skeletts und dem Aufspüren der Drehungen von Brustwirbeln. Bei mir und bei anderen. Das nur als Beispiel, es gab auch darüber hinaus viel Neues.

Nebenher nahm ich die Schönheiten des Odenwalds wahr, zu dieser Jahreszeit, bei dem herrlichen Wetter freute auch schon der kleinste Spaziergang die Seele und das Auge. Nicht zu vergessen die Nase wegen der tausend Düfte und die Ohren, denn die Lerchen und alle anderen Vögel jubilierten, die Grillen zirpten, was das Zeug hielt.

Leider komme ich momentan schwer ins Internet, die Firma T-Online hatte mir einen neuen Tarif aufgeschwätzt:"Kostet dasselbe, hat die und die Vorteile!" Auf meine Frage, welchen Vorteil die Firma davon hat, erwiderte man mir: "gar keinen!"  Doch als der Tarif dann umgestellt war, zeigte sich, dass ich einen neuen Modem brauchte, der knapp 50 € kostete und den anzuschließen mir bisher nicht gelungen ist. Kein Wunder, dass ich mich betrogen fühle. Der Schluss, den ich daraus ziehe, heisst: nie etwas ändern, das funktioniert!!

Sobald ich mit meinem eigenen Computer wieder ins Netz kann, werde ich mein Referat über das jüdische Menschenbild bei Moshé Feldenkrais hier einstellen.

Frankfurt, den 26. Mai

Jeden Tag passiert was, aber ich finde oft keine Zeit, um es aufzuschreiben. Seit drei Tagen befasse ich mich zum Beispiel mit der Ausarbeitung eines Referats über ein etwaiges "jüdisches Menschenbild" in der Feldenkrais-Methode. Ich will es am kommenden Wochenende bei der Feldenkrais-Fortbildung vortragen. Es ist die Fortbildung mit Roger und Ulla Schläfke aus Heidelberg, die drei Jahren dauern soll und die zum Thema hat: "Mapping the Method". Ich hatte meine Idee beim letzten Mal aufgebracht, und die Organisatoren fanden sie interessant.

Zwischendurch war ich aber auch in Luxemburg. Und dort wurde ich mit einer gewissen Aufregung empfangen: "Ihr Deutschen!" hieß es zornig, "habt Ihr noch immer nicht genug mit Euren militärischen Fantasien?! Könnt Ihr es einfach nicht lassen?"

Ich musste mich erstmal ins Bild setzen, denn ich wusste gar nicht, wovon die Rede war. Müntefering. Ach, der! (Ich empfinde ihn als eine wandelnde Maske mit eingebauter Sprechanlage.) Ja, der SPD-Mann Franz Müntefering hatte von Luxemburg und von dessen Attribut "Steueroase" gesprochen und dann gesagt: "Früher hätte man da ein paar Soldaten hingeschickt!" (Ich zitiere so, wie es mir in Luxemburg berichtet wurde.) Nun leben aber in Luxemburg noch Menschen, die die deutsche Besatzung und Zwangsannektierung von 1940 bis 1944 am eigenen Leibe miterlebt haben. Die Jüngeren haben davon in der Schule und anderswo gehört, die Greueltaten der deutschen Wehrmacht und der NS-Parteibonzen sind nach wie vor bei allen in lebendiger Erinnerung. Und da droht ein deutscher Politiker wieder mit dem Einmarsch von Soldaten??

Ich bedauerte die Entgleisung klar und deutlich. In der Zeitung las ich, dass der Ministerpräsident des Saarlandes sich "dafür schämt". Und dennoch. Andere Politiker der Bundesrepublik haben für solche Dummheiten ihren Rücktritt einreichen müssen. Müntefering ist nur Parteifunktionär, kein amtlich besoldeter Politiker, die Partei selbst müßte die Unmöglichkeit seiner Worte erkennen und ahnden. Tut sie aber nicht, sie hat kein Gespür dafür. Da steigt die Mentalität der Kleinbürger auf, die vor allem an die Macht und an die Tröge wollen. Die sich um das Bild, das Deutschland nach außen hin abgibt, keinen Deut scheren. Ich bin selber Mitglied in dieser Partei und werde es auch noch eine Weile bleiben. Ob ich was ändern kann?

Ich versuche, hier im Arbeitskreis "Migration" mitzuarbeiten. Dieser Tage erstattete ein (ethnisch) deutscher Genosse aus der Fraktion im Römer (Frankfurter Stadtparlament) dem Arbeitskreis Bericht über die Frankfurter Migranten-Politik. Er zitierte unentwegt Statistiken, und die Kategorien in diesen Statistiken hießen "Südeuropa", "Osteuropa", "Vorder- und Mittelasien", "Fernost" oder so ähnlich. Unter "Fernost" fiel z.B. die Geschichte eines Taxifahrers aus Frankfurt, der schon hier geboren wurde und dessen Eltern aus Pakistan eingewandert waren. Einige Mitglieder des Arbeitskreises bemühten sich, den deutschen Genossen auf die Unangemessenheit der territorialen Unterscheidung von Frankfurter Bürgern in seiner Statistik hinzuweisen. Er verstand es nicht! Wir wollten gern soziale, linguistische, bildungsmäßige oder andere Unterscheidungen - er aber verstand nur, wir hätten was gegen Statistik!

Da fühlt man sich ziemlich hilflos. Aber die Verständigung unter den Genossen im Arbeitskreis selbst, die verbessert sich zumindest in solchen Augenblicken.

Frankfurt, 17. Mai

Fortsetzung:

Gleich zu Beginn des Besuches in Tel Aviv nahm ich mir vor (nach reiflicher Überlegung), nicht von mir aus ein Gespräch über Politik anzufangen. Ich war gekommen, um den Geburtstag meiner Tochter mit ihren Freunden und der Familie zu feiern, nicht dazu, meine politischen Meinungen zu verbreiten. Im Gegenteil, ich wollte hören, wenn möglich auch lesen, wie man dort gegenwärtig denkt, welche Hoffnungen bestehen. So aktiv, wie dort alle Leute sind, gibt es immer Hoffnungen, auch wenn längerfristig niemand ganz frei von Pessimismus ist. 

Einmal fragte ich meine Enkeltochter, die gerade eine Geschichtslektion lernte, worum es darin ginge. Sie erklärte mir folgendes - wir sprechen englisch miteinander, aber sie lernt jetzt auch deutsch -: Sie sollte  Definitionen lernen, in denen das Wort "national" vorkam, jedenfalls muss man es so in europäische Sprachen übersetzen.

Eine "ethnische Gruppe" wurde definiert als eine Menschengruppe mit gemeinsamer Geschichte, Kultur, Sprache, Religion (Reihenfolge beliebig), aber ohne ein definiertes Territorium. Man wird in diese Gruppe hineingeboren, man kann sie nicht wählen. "National" hingegen nennt man diesen Definitionen nach eine Gruppe, wenn sie die gleichen Eigenschaften wie die ethnische hat, jedoch obendrein Anspruch auf ein ganz bestimmte Territorium erhebt. "Nationalität'" schließlich wurde als ein "ideologischer" Begriff bezeichnet, wonach jeder beliebige Mensch je nach Wunsch eine "Nationalität" erwerben kann.

Mein Erstaunen konnte ich der Fünfzehnjährigen nicht vermitteln. Sie musste das, was da stand, für eine Prüfung lernen, und das wars. Ich aber versuchte mir bewußt zu machen, welcher Unterschied zwischen dem Wort für "national" im Hebräischen und im Deutschen (oder Französischen) besteht.

Fortsetzung 18.5.:

Wo wird einem das Gewicht des Sprachlichen besser verdeutlicht als in Israel? Die jetzige Regierung Israels verlangt neuerdings von den Palästinensern und der übrigen Welt, dass der Staat Israel als "jüdischer Staat" anerkannt werde. Darauf reagierten die Palästinenser abweisend, und der Papst erklärte in Jerusalem: "Diese Region war schon immer multiethnisch und multireligiös und wird es auch in Zukunft bleiben."  Jetzt lese ich aber bei Uri Avneri, dass die Regierung ihre Forderung anders formuliert hatte, nämlich: Israel solle ein "Staat des jüdischen Volkes" sein. Das bedeutet, das niemand anders als Angehörige des "jüdischen Volkes" dort Wohnrecht hätten. Bekanntlich leben Juden rund um den Erdball, nur etwa die Hälfte  von ihnen wohnt im Staate Israel. Müssten  dann alle nichtjüdischen Staatsbürger das Land verlassen? Der jetzige Aussenminister hat sich schon mal in diesem Sinne geäussert.

Ich las auch, dass verschiedene Juden aus der Opposition sich bemühen, in Israel als "israelische Staatsbürger" registriert zu werden. Bisher lehnt der Staat das ab, weil es eine solche Staatsbürgerschaft gar nicht gebe. Wer einen israelischen Pass besitzt, ist darin als "Jude" oder "Araber" oder im Fall meiner Enkeltochter als "Französin" gekennzeichnet. Den "Israeli" als solchen gibt es juristisch nicht. Es läuft ein Prozess über diese Frage.

Soweit mein Ausflug ins Politische. Davon abgesehen, ist Tel Aviv eine zauberhaft schöne Stadt, mit lebhaften, aufmerksamen Menschen, mit denen, wenn man die richtigen Worte findet, man sich gut anfreunden kann. Ich habe mich schon mit einigen angefreundet.

 

Frankfurt, 15. Mai

Nathalie hat Geburtstag. Herzlichen Glückwunsch, Nathalie!

Ich habe mich zwei Wochen lang nicht gemeldet, weil ich verreist war und kaum einen Zugang zum Internet und die dazugehörige Musse fand. Ich war in Israel, und in Israel lebt man schneller, ich war in Tel Aviv, da lebt man lauter, und ich war mit meiner Familie zusammen, da ist die Zeit besser aufgehoben als vor dem Bildschirm.

Tel Aviv wird immer schöner, auch wenn es erst hundert Jahre alt ist. Die Wohnhäuser aus der Bauhauszeit sind größtenteils liebevoll renoviert worden und die Häuser anderer Stile aus der britischen Mandatszeit ebenso. Dazwischen wachsen ganz viele verschiedene Bäume, exotische Arten, von einer Schönheit und Vielfalt, die mir immer wieder den Atem verschlägt. Sie grünten und blühten. Manche waren freilich auch schon verblüht, der Frühling ist vorbei, in diesen Tage beginnt die große Hitze. Letzte Woche erlebten wir noch ein mäßiges Klima, bis höchstens 24°, das verträgt man gut.

Ganz wenige Menschen gingen am Strand auch schon baden. Junge Männer nutzten die kräftigen Brandungswellen und den Wind, um in der Mittagspause Windsurfen zu gehen, ein Sport, der höchste Aufmerksamkeit fordert. Das Segel steht nach meiner Schätzung an die 50 Meter hoch im Himmel, und das muss man lenken; besonders bei dem heftigen Wind, der an manchen Tagen von Süden brauste, war das Wenden immer eine Herausforderung. Ich begnügte mich damit, die Sonne zu genießen.

(Forts. folgt)

Frankfurt, 2. Mai

Nun kommt mir meine letzte Eintragung voreilig vor. Es war der erste Eindruck von diesem Gespräch, in dem es um das Verhältnis zwischen dem Menschen und seinem Gehirn ging. Darüber wird ja seit einigen Jahren viel spekuliert, die "bildgebenden Verfahren" bieten Einblicke in die Arbeitsweise des Gehirns, so scheint es jedenfalls, und es werden Schlüsse gezogen, die den "freien Willen" in Frage stellen.

Einer der Gesprächspartner in Darmstadt war Professor Michael Hagner. Er hat Medizin studiert, er lehrt Wissenschaftsgeschichte an der Universität, und er hat mehrere Bücher über das menschliche Gehirn veröffentlicht. Wenn ein solcher Mann fordert, der Mensch müsse als Ganzes betrachtet werden, es bestehe eine Einheit zwischen Körper und Geist und die bildgebenden Verfahren seien viel zu ungenau (man könne nur Unterschiede der Durchblutung von einzelnen Hirnarealen feststellen), dann bedeutet dies sehr viel. Es bedeutet zunächst einmal, dass dieser Wissenschaftler weiß, was er nicht weiß, und es sagt. Ferner bedeutet es, dass er einen Mensch als eine Person betrachtet, als einmaliges Wesen, mit allen seinen Rechten und Pflichten.

Einem solchen Wissenschaftler leibhaftig zu begegnen, das ragt doch aus dem üblichen Geschwätz heraus, das tröstet einen - auch über die Eitelkeiten des Gesprächspartners hinweg. 

Ich bitte um Nachsicht für meine Worte des ersten Eindrucks, denn ich merke: ich hatte doch etwas gelernt!

Frankfurt, 29. April

Auf unverständliche Sachen fällt man leicht herein. Das ist mir gestern auch mal wieder passiert.

Die deutsche Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt lud ein zu einem Gespräch "über das Verhältnis von Geist und Gehirn". Die beiden Teilnehmer schienen mir verheißungsvoll: der eine, Michael Hagner, lehrt Wissenschaftsforschung an der ETH und hat mehrere Bücher über Gehirnforschung veröffentlicht, der andere, Marcel Beyer, war Schriftsteller und hatte einige Monate im Berliner Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte zugebracht.

Die beiden Herren waren sich verhältnismäßig rasch darüber einig, dass die heutigen Erkenntnisse über Gehirntätigkeit nicht ausreichen, um einen Menschen zu erklären oder zu definieren; sie sprachen daher lieber über Sprache, Literatur, "Kreativität" und eigene Erfahrungen. Zumal der Schriftsteller bedachte nicht - oder nur in seinem letzten Satz -, dass Worte keine Sachen sind, sondern Zuschreibungen, die unterschiedlich verstanden und eingeordnet werden können. Die Entwicklung seiner Romanfigur Kaltenburg entsprach seiner Vorstellung von "Kreativität"; als Hagner ihn spitzbübisch fragte, ob Kaltenburg ein "Mensch" sei, zögerte er immerhin und nannte ihn "eine Figur". Er ging nicht weiter auf diese Unterscheidung ein.

Marcel Beyer hatte seine Ausführungen mit einem Bericht über zwei alte Damen begonnen, die wegen eines leichten Schlaganfalls vorübergehend ihre Sprache verloren hatten. Ihm habe das die erschreckende Verletzbarkeit seiner auf Sprache gestützten Identität bewußt gemacht, erzählte er. Das war am Anfang, da wollte er wenigstens etwas darüber hören, was im Gehirn in einem solchen Fall vor sich geht; Hagner vertiefte sich jedoch nicht in anatomische Abläufe. Er interessierte sich mehr für anthropologische, geisteswissenschaftliche Ordnungen - für das Hergebrachte also. Beyer wars zufrieden, er konnte dann ungeniert über sich selbst reden. Ich beanstandete am Ende, dass "das Gehirn" zu kurz gekommen sei, und ich fragte: "Was ist mit den beiden alten Damen geschehen, als ihnen die Sprache zurückkam - wie haben sie das wahrgenommen? Was hatte sich verändert?" Zwar hatte Beyer sie mehrmals seine "Freundinnen" genannt, doch er wußte nichts darüber, vielleicht hat er nicht mal die Frage verstanden. Sie hatten eben ihre Sprache wieder, mehr hatte er nicht zu erzählen, und mehr schien ihn auch nicht zu interessieren.

Immerhin trug er zum Schluß  ein Erlebnis aus Prag vor, wo ihm übersetzende Mitmenschen klar gemacht hatten, dass es im Tschechischen Worte gebe, die mehrfache Bedeutungen hätten und zwar gleichzeitig. Dafür fand er Bewunderung, bedauerte aber, dass dergleichen im Deutschen "leider nicht gang und gäbe" sei.

Ich fuhr heim mit dem Gefühl, nichts gelernt zuhaben. Das Verhältnis zwischen Geist und Hirn blieb so unverständlich wie es war. Allerding sah ich zum ersten Mal die eigenartige Jugendstilvilla, in der die Akademie auf der "Mathildenhöhe" ihre Heimstatt hat.  Ihr Anblick war den Ausflug wert.

Frankfurt, 28. April

Die "taz" ist meine Lieblingszeitung, das habe ich schön öfter erwähnt.

Nach dreißig Jahren kleidet sie sich (mal wieder!) in ein neues Gewand: neue Druckschriften, neue Farbigkeit, neues Layout. Während ich mich sonst rasch an den neuen Anblick gewöhnte, will mir das diesmal auch nach gut einer Woche nicht gelingen. Immer wieder ertappe ich mich bei dem Gefühl, die falsche Zeitung zu lesen, eben eine solche, die sich dieser dünnen, pseudo-eleganten Lettern bedient. Schicki-micki-Gehabe fand ich immer. Und nun soll ich auf einmal glauben, was diese Lettern erzählen?

Seltsamerweise finde ich nun plötzlich auch die Inhalte schal. Da wird der Frankenstein-Mythos bemüht, um Finanzkrise und Schweinegrippe einzuordnen. Da wird über alte Edelautos wie bei RTL geplaudert. Das Wort "BMW-Group" taucht öfter auf, ich frag mich beiläufig, was ist das, wahrscheinlich die an Finanzhaie verkaufte Firma BMW? Ganz viele Kurzmeldungen stehen auf fast jeder Seite, jene, die sich auf Verlautbarungen von Mächtigen stützen ("der CDU-Politiker nannte die Ergebnisse alarmierend") oder jene, deren Hintergund man nicht versteht, wenn man nicht Journalist ist. Dann eine Überschrift mit dem Satz "Gerne wird über ihn gespottet - dabei ist er unglaublich erfolgreich". Als wenn sich das ausschlösse, ausgerechnet in der taz! Die mal stolz war auf ihren Spott gegen erfolgreiche Zeitungsleute (von "Bild"),  Staatsmänner (Kaczinski, die Kartoffel) usw.

Selbstkritisch muss ich mich fragen, ob die taz sich einfach mehr auf junge Leute einstellt, für die "Erfolg" einen alles überlagernden Maßstab bildet und denen "Wissen" nicht so viel bedeutet wie mir, oder ob ich vielleicht einen Schub hin zur Altersweisheit ("Kenn ich doch alles") gemacht habe? Oder gar zur Altersstarrheit, die Änderungen nicht mehr hinnehmen will?

Wie dem auch sei: ich fange an, der alten taz nachzutrauern.

 

Frankfurt, 27. April

Klassentreffen sind in. Von allen Seiten höre ich Berichte über Klassentreffen. Oder fallen mir diese Berichte nur deswegen auf, weil ich selbst jedes Jahr auf einem Klassentreffen bin? Und achte nicht auf die meist ein wenig traurigen Kommentare derjenigen, die jeden Kontakt zu ihren Schulkameraden im Laufe des Lebens verloren haben?

Letztes Wochenende genoß ich dieses Vergnügen mal wieder: sich mit Menschen zu treffen, die vor fünfzig Jahren die selbe Schule besucht, sich mit den selben Lehrern herumgeschlagen und die selben Klassenarbeiten geschrieben haben. Wir können uns auf einen Grundstock des gemeinsamen Wissens beziehen. Das ergibt einen breiten Bereich, der ergänzt wird von Reiseberichten, die sich manchmal überschneiden, die oft in Bezug zu diesem oder jenem Lehrstoff gesetzt werden ("Griechenland - das war für mich damals Iphigenie und ihre ganze Geschichte, weisst du noch?"- "Ja, ich weiß es noch. Das Land der Griechen mit der Seele suchend ..")

Wir treffen uns seit einiger Zeit tatsächlich jedes Jahr. Das bedeutet, dass wir nicht nur über unsere Jugend einiges wissen, sondern dass wir Anteil nehmen können an den weiteren Entwicklungen, an den Veränderungen in unserem Leben. Wir erfahrem, wenn jemand umzieht, wenn jemand krank wird, welche Leserbriefe die eine oder andere schreibt und warum. Wir kommen uns wieder näher, oder - seltsamerweise - wir kommen uns näher als wir es in der Schulzeit je waren. Damals, nicht lange nach dem Krieg, hatte jede ihre Sorgen, ihre Ziele, ihre besondere Form der Bewältigung von Kriegserinnerungen. Jetzt erst kommen diese Erinnerungen an den Tag! Immer wieder schütteln wir erstaunt die Köpfe, wenn wir die Abenteuer der Einzelnen aus den Jahren 1944 oder 1945 hören - warum hatten wir damals, zwischen 1948 und 1955 niemals danach gefragt? Wer von uns hat die Bombenangriffe miterlebt und wo - im Luftschutzkeller? In der Küche? Auf einer Straße? Wer wurde ausgebombt? Wem nahmen die amerikanischen Besatzer das Elternhaus weg? Eine von uns, die vom Bauernhof stammt, erzählte: für zwei Wochen richteten die Amerikaner auf unserem Hof ihre Kommandostelle ein. Die Familie - sechs Kinder, Vater, Mutter, Großmutter, Tante -  musste bei den Nachbarn, bei Verwandten unterkommen. Die Amerikaner hätten das Haus aber pfleglich behandelt, es sei alles in Ordnung gewesen, als die Familie zurückdurfte. Die meisten hörten die Geschichten zum erstenmal.

Die Organisation des Klassentreffens übernimmt eine von uns, wir einigen uns auf wechselnde Ort. Diesmal hatten wir uns für Köln entschieden. Es gab mindestens eine aus der Klasse, die noch nie im Kölner Dom gewesen war. So begannen wir mit einer Domführung, eine Stunde lang - die Stunde verging im Handumdrehn. Unser Führer wusste mit Glaubenswahrheiten ebenso selbstverständlich umzugehen wie mit historischen Wahrheiten, mit Ironie ebenso wie mit den Wissenslücken der Geschichtswissenschaften. Doch als wir zu dem neuen Glasfenster von Gerhard Richter kamen, da sprach nur noch Begeisterung aus dem Mann, dezent und entschieden, und ich muss gestehen: nach seinen Erklärungen habe ich das Fenster mit anderen, mit wohlwollenderen Augen angesehen. Der Kölner Kardinal hat sich dem Vernehmen nach negativ über das Kunstwerk geäußert, und unser Führer begann seine Erläuterungen mit dem Satz: "Dieses Fenster ist nicht mehr umstritten." Womit er seinen eigenen Standpunkt an den Anfang stellte. Das hat mir gefallen!

Zum Abschluss unseres Treffens wollten wir noch in das andere Kölle, das karnevaleske, hineinschnuppern und besuchten ein Theaterstück, das "op köllsch" gespielt wurde. Nun, mit dem Dialekt bekamen wir keine Probleme, umso mehr mit dem Lärm. Die Witze, die auf der Bühne gerissen wurden, kannten die meisten von uns, je nach Schlüpfrigkeit auch weniger, schließlich kamen wir von einer Mädchenschule, und die Handlung zerfaserte umso mehr, je weiter der Abend voranschritt, und als nach zwei Stunden eine Pause ausgerufen wurde, verließen wir das Theater ganz. Die meisten hatten sich die ganze Zeit die Ohren zugehalten, was einem zu einer "normalen" Lautstärke verhalf. Dann gingen wir essen und beredeten das Abenteuer. Wie kam es nur, dass die Besucher ab sechs Uhr im Saal saßen, obwohl die Vorstellung erst um halb acht begann? Es gab kein nummerierten Plätze, das war der Grund - aber warum lassen sich die Leute das gefallen? Meine Vermutung war, dass die Leute das vom Fussballstadion her kennen, wo sie auch immer schon Stunden vorher hingehen. Es war auch ein "Pistolenschuss" angekündigt worden, als eine Vorwarnung für "Schwangere und Leute mit hohem Blutdruck"! Nun rätselten wir, wer von den Bühnenfiguren wohl schießen und wer erschossen würde? "Das werden wir nun nie erfahren", lachten wir und freuten uns letztlich,  das heilige Köln auch von der Klamauk-Seite her kennengelernt zu haben.

 

Frankfurt, den 22. April

Saskia Sassen - am Ostersamstag hatte ich von ihr geschrieben, von ihrem Buch über "Das Paradox des Nationalen". Ich weiß nicht, ob ich es je zuende lesen werde. Die Sprache macht das Verstehen zu einem langsamen, mühsamen Prozess. Es ist eine Übersetzersprache, ihr mangelt das Flüssige, Selbstverständliche; doch vermute ich, das auch das amerikanische Original sich nicht als fließendes Englisch liest. Zu oft wird der ganze Satz auf abstrakte Begriffe gestützt, die durch nichtssagende Verben aneinandergehäkelt sind. Ein Beispiel? Hier ein Zitat: "Mein Anliegen ist nicht die historische Entwicklung, sondern die Entfaltung einer Analytik des Wandels unter Zuhilfenahme der Geschichte." Das verstehen Sie auf Anhieb? Nun, wie ist es denn mit dem kurz darauf folgenden Satz: "Jedes dieser Regimes ist eine jeweils individuelle Assemblage von Territorium, Autorität und Rechten." Hier hat der Übersetzer offenbar die Waffen gestreckt und sich auf eine Wort-für-Wort-Übersetzung zurückgezogen.

Je länger ich mich mit dem Text beschäftige, desto besser verstehe ich ihn, das stimmt auch. Desto mehr wird mir die unendliche Schwierigkeit klar, die darin liegt, einen Text in flüssiges, vertrautes Deutsch zu übersetzen, der im Original die meisten seiner Begriffe erst einmal definieren muss. Er klingt auch im Amerikanischen nicht selbstverständlich, nehme ich an. Obendrein stützt er sich auf Geschichtsauffassungen, die mir fremd sind. Wenn amerikanische Historiker Europa betrachten, besonders die Zeit vor der Entstehung der Vereinigten Staaten, dann stecken sie schon mal gern tausend Jahre unter einen Hut oder nehmen die Unterschiede zwischen den Regionen nicht ernst. Das muss die Leserin erst einmal als gegeben hinnehmen, um weiter lesen zu können. Wieder ein Beispiel: "Die europäische Gesellschaft war vom 5. bis 12. Jahrhundert zu sehr im Fluss und zu nomadisch ....". Ja, wie kann man denn im 5. Jahrhhundert von einer "europäischen Gesellschaft" sprechen??

Für Saskia Sassens Theorien gelten indes diese Einwände kaum, denn sie möchte nachweisen, wie "nationaler" Staat und "globalisierte" Welt auseinander entstanden, aufeinander angewiesen und miteinander verquickt sind. Jede dieser Ordnungen besitzt nach ihrer Darstellung eine große Zahl von "Potentialen" (potentials), also Möglichkeiten zu spezifischeren Entwicklungen. Ob solche Entwicklungen sich verwirklichen, ob sie tatsächlich stattfinden, und in welcher Form, hängt dann von vielen Umständen ab. Das Rizomartige an Saskia Sassens Bild von der Weltordnung bringt die Schwierigkeiten des Verstehens mit sich  und ist gleichzeitig das Interessante an ihren Thesen. Es herrscht ja überall Angst vor der Globalisierung, Glücksritter bemächtigen sich der rechtsfreien Räume, die sie schafft. Saskens Theorien aber bieten eine Grundlage, um dem ganzen Globus ein Recht auf Recht zu schenken. Eine neue Grundlage, wie mir scheint.

Ich bin erst beim zweiten Kapitel angekommen.

 

Frankfurt, 16. April

Ostern habe ich mit zwei jungen Mädchen verbracht, von denen eine meine Enkelin ist und die andere deren Freundin. Sie hatten sich lange nicht gesehen und kamen von verschiedenen Orten zu mir, um sich hier endlich einmal wiederzutreffen. Es ging soviel Freude von ihnen aus, dass mich der Umgang mit ihnen auch glücklich machte. Sie lachten viel, ich verstand meistens nicht, worüber sie redeten, aber das war auch nicht wichtig. Es war ihnen anzusehen, dass ihnen ihr Miteinandersein Vergnügen machte und gleichzeitig eine Selbstverständlichkeit war. Ich fand keinen Hauch von Streit oder Kränkung zwischen ihnen.

Was konnte ich ihnen bieten? Ein wenig Deutschland vielleicht - die Freundin war zum erstenmal hier. Ich holte die beiden Ostersamstag vom Flughafen Hahn ab, wir fuhren in den Abend hinein, durch die Frühlingslandschaft in der Hochebene des Hunsrücks und hinunter ins Rheintal von Bingen nach Wiesbaden, weiträumig um den Taunus herum und erblickten irgendwann die Skyline von Frankfurt.

Am Ostersonntag fuhren wir nach Wiesbaden ins Aukamm-Bad, ein Thermalbad, das sich aus der Quelle des berühmten Wiesbadener Kochbrunnens speist. Die Mädchen genossen die Sprudel im Becken, das Außenbecken, den Garten; die Augen brannten ihnen vom Salzwasser, sie rannten, um sich die Augen mit Süßwasser auszuwaschen. Kinder halt, obwohl sie eigentlich keine Kinder mehr sind. Da sie im Bad nicht essen wollten, führte ich sie ins Gasthaus Oberschweinstiege, das im Frankfurter Wald liegt, wo man auf der Terrasse Wildfleisch speisen kann. Die Freundin, die kein Fleisch von Tieren aß, die im Stall gehalten werden,  sondern nur "free-range"-Tiere, also solche, die in freier Wildbahn leben,  freute sich über ein Hirschgulasch. Der Wald war das Besondere.

Den beiden das richtige Essen vorzusetzen, bemühte ich mich - nicht immer mit Erfolg. Bemalte Ostereier fanden sie ein bisschen eklig. Doch Nudeln mit Tomatensoße waren immer willkommen. Am Ostermontag fuhren wir über Land, nach Kilianstätten, zu einem einfachen, ordentlichen Reitstall, wo man die beiden mit auf einen österlichen Ausritt mitnehmen wollte, in eine Landschaft aus Wiesenwegen, Feldern, Wiesen und fernen Hügelketten, im Sonnenglast jenes Tages und zwischen blühenden Bäumen und Sträuchern hindurch. Es gab allerdings einen Unfall: die Freundin, obwohl erfahrene Reiterin, wurde von ihrem Pferd abgeworfen. Das Pferd schickte sich an durchzugehen, und die erfahrene Reiterin hielt es zurück. Das wollte das Pferd sich nicht gefallen lassen und buckelte dermaßen, dass die junge Frau kopfüber zu Boden ging. Der Reitlehrer ließ ihr daraufhin ein anderes Pferd geben, und sie kamen heil wieder im Reitstall an. Die Kopfschmerzen waren am nächsten Tag auch vergangen. 

Ich kann gar nicht sagen, wie erleichtert ich war. Was hätte nicht alles  passieren können! Was mich aber immer noch kränkt, ist die Mißachtung des Gastes, so sehe ich das. War der Reitstall doch nicht so ordentlich, wie ich gedacht hatte? Musste man der Fremden das offensichtlich schwierigste Pferd geben? Ist sowas hierzulande normal? Und am Schluss der Pferdekette reitet kein Wegekundiger, sondern eine Fremde?

Am Osterdienstag reisten die Mädchen wieder ab, und versicherten mir, unabhängig voneinander, dass sie wunderbare Tage verlebt hätten. Naja, das hat mich natürlich gefreut.

Und ich kenne jetzt Lokale in Frankfurt, die gut gewürzte und bekömmliche  Pasta al Pomodoro auftischen.

 

 

 

Frankfurt, den 11.April (Ostersamstag)

"Die Vergangenheit bietet uns die Chance, die vielen Mikroweisen zu untersuchen, in denen diese neuen .... Ordnungen erreicht wurden, häufig über eine Zeitspanne hinweg, die viele Generationen umfasste und daher nicht als Transformation wahrgenommen wurde."

Den Satz las ich in dem Buch "Das Paradox des Nationalen" von Saskia Sassen. Frau Sassen lehrt Soziologie an der Columbia-Universität (New York) und an der London School of Economics & Political Science. Das Buch bietet neue Sichtweisen auf die Beziehungen zwischen dem Nationalen und dem Globalen.

Was interessiert mich an dem eingangs zitierten Satz? Klingt er nicht trivial? Nun, er bietet mir einen wohltuenden Gegensatz zu anderen Geschichtsauffassungen, die mir jüngst begegnet sind. Nicht nur die des ehemaligen israelischen Botschafters neulich im "Haus am Dom", der "Rom" für 2000 Jahre der Judenverfolgung verantwortlich machte, egal ob dort grade Kaiser Augustus oder Benedict XVI. residierte, auch wenn er Letzteren hochleben ließ. In vielerlei Hinsicht arrangierte er "Geschichte" nur nach seinem Bedürfnis, nämlich dem, die Juden als Opfer  darzustellen. Als eine Frau später bei der Diskussion bemerkte,  die jüdischen Israelis lernten im Allgemeinen nicht Arabisch, die Sprache ihrer Mitbewohner und Nachbarn, tat er das ab mit der Bemerkung: "Auf die Sprache kommt es nicht an."

Ein vergleichbarer Umgang mit Geschichte trat mir in einem Buch über "The Jewish Century" entgegen, das ich für jemanden anderes besorgte, dem es warm empfohlen worden war. Auch hier ist der Verfasser ein amerikanischer Universitätsprofessor, Yury Sezkine. In seinem "historischen" Überblick wählt er sich kulturgeschichtliche Ideen aus beliebigen Jahrhunderten, von beliebigen Orten aus, mit dem einzigen Ziel, seine Behauptung zu untermauern, alle kulturellen Errungenschaften auf der Welt seien Juden zu verdanken. Er guckt nicht, was ist dann und dann, dort und dort geschehen, sondern geht von Fertigerkenntnissen (wie man sie gut in gehobene Party-Gespräche einflechten könnte) aus und nutzt sie für seine Zwecke.

Ein ähnlich pauschales Vorgehen findet man öfter bei US-Amerikanern - ich erinnere mich, vor Jahren eine Untersuchung über die "Mutter Gottes" gelesen zu haben, die ungeniert über örtliche und zeitliche Unterschiede hinweg huschte und damit das Besondere der Marienverehrung in Europa schlicht verpasste. (Jesus wird als universaler Gottesssohn verehrt, die Madonna ist immer eine örtliche Gestalt.)

Mit "Geschichte" kann man, so meine ich, gar nicht genau genug umgehen. Frau Saskia Sassen ist sehr genau, und nur deswegen gelingt es ihr, wirklich neue Perspektiven zu eröffnen. So habe ich Freude an ihrem Buch, auch wenn es mühsam zu lesen ist und ich es gerade erst angefangen habe.

 

Frankfurt, 10. April

AUSSICHTSPUNKT EUROPA

Europa-Wahlen stehen bevor, und mich als ehemalige Mitarbeiterin des Europäischen Parlaments erschreckt immer aufs neue die Gleichgültigkeit, mit der die Leute hier diesem Umstand begegnen. Was sag ich: Umstand! Ereignis, müsste es heißen, Gelegenheit, Chance! Aber nein, die meisten wissen nichts davon. Und da es hier keine Kultur des Fragens gibt, weiß auch niemand so recht, was er/sie eigentlich fragen sollte. Welche Kandidaten stehen zur Wahl? Was versprechen sie? Was können sie halten? Wie funktioniert das Ganze überhaupt?


Gut, es gibt unsere üblichen Parteien, soviel ist klar. Eben habe ich mir den Fernsehsender des europäischen Parlaments (EP) im Internet angeschaut (www.europarltv.europa.eu) und festgestellt: nur selten wird deutsch geredet (es gibt aber gute deutsche Untertitel), und die deutschen Abgeordneten sagen dann nicht viel anderes als sonst auch. Sie haben eine höllische Angst davor, als „Volkshochschule“, als „Oberlehrer“ abgekanzelt zu werden, also erklären sie nichts. Sie meinen es gut, aber machen nicht deutlich, wie sie ihre guten Absichten verwirklichen wollen.
Ich sah Martin Schulz von den Sozialdemokraten und Cem Özdemir von den Grünen. Bei Özdemir kam einiges rüber, nämlich wie er in der nächsten Legislaturperiode als Parteichef der Grünen in Berlin die Beziehungen zwischen Bundestag und Europäischem Parlament verbessern will. Das lässt sich verwirklichen, er war ja jetzt vier Jahre in „Europa“. Doch wenn Martin Schulz versichert, dass seine Fraktion in der nächsten Legislaturperiode NUR einen Kommissionspräsidenten ernennen lassen wird, der/die schriftlich zugesichert hat, dass die sozialen Errungenschaften in den Mitgliedsländern gewahrt bleiben müssen, dann frage ich mich doch, ob er das wird einhalten können.  Da der „Lissabon-Vertrag“ noch nicht in Kraft getreten ist, kann nicht das Parlament den Kandidaten für das Kommissionspräsidentenamt auswählen, sondern das tut nach dem bisherigen Verfahren noch immer der Rat. Und im Rat sind die meisten Regierungen „konservativ“, wie Schulz sich ausdrückte, meinte aber wohl: nicht an sozialer Fürsorge für alle Bürger interessiert. „Die Gerechtigkeitslücke darf es nicht mehr geben!“ sagte Schulz und meinte mit „Lücke“: Boni für die oben und Kündigung für die unten. Wie will er das durchsetzen? Indem er immer wieder betont, dass es am  7. Juni eine hohe Wahlbeteiligung geben wird?
Das wäre tatsächlich eine Möglichkeit, es geht ja um Mehrheiten.


In Frankfurt bemüht sich eine SPD-Frau um einen Sitz im europäischen Parlament, sie heißt Ulrike Foraci, kann Deutsch und Italienisch, vermutlich auch Englisch, und will sich für die Rechte und Belange der Migranten einsetzen. Für die der Frauen. Und ganz allgemein für soziale Gerechtigkeit. Dazu hat man in „Europa“ tatsächlich Gelegenheit, das weiß ich aus eigener Erfahrung.
Es lohnt sich, Ulrike Foraci mal zuzuhören, soviel habe ich schon herausbekommen. Man kann ihr auch Fragen stellen!

(Dieser Text ist für die Webseite meines SPD-Ortsvereins bestimmt.)

Frankfurt, den 6. April

Jüngst fragte mich eine Frau über meine Meinung zu einigen Kinderbuchtexten. Ich las sie und bemerkte unter anderem, dass in diesen Geschichten die Jungen immer als aktiv Handelnde auftraten, während die Mädchen oder Mütter zuhause blieben oder höchstens mit gutem Rat zur Hand waren. Rollenklischees. Die Frau, die einiges jünger ist als ich, dankte und sagte, dass sie auf Gender-Fragen im allgemeinen nicht mehr achte, weil sie so daran gewöhnt sei, ihr eigenes Ding zu machen. Ein wenig beneidete ich sie.
Dann schrieb ich den Leserbrief an die taz (s.Tagebuch vom 4.4.09), und er wurde nicht abgedruckt. Sie drucken wohl nur zum 8. März mal Sachen zu Frauenfragen. Ansonsten scheint das bei den jungen Leuten kein Thema mehr zu sein.
Heute las ich in der taz über ein männliches Mannequin (um ein altes Wort zu gebrauchen, sowas nennt man jetzt „model“) in Japan:  Ein dreiunddreißigjähriger Deutscher namens Schumann spielt den Macho und kommt damit gross raus. Hat sogar ein Buch drüber geschrieben, und die taz widmet ihm eine ganze Seite. Hier wird ein Modell-Mann vorgestellt: einer, der  die Sehnsüchte von Männern nährt und sich gleichzeitig intellektuell von diesem Tun zu distanzieren vermag, das sogar auf unterhaltsame Weise.
Ich begreife, dass gegenwärtig das Rollenbild von Männern viel größere Aufmerksamkeit findet als das von Frauen. So entdecke ich in der heutigen taz-Ausgabe ganz hinten auf Seite 16 unter „Mode und Macht“ ein Foto von den „Gattinnen“ des NATO-Gipfels: Michelle Obama, Carla Bruni,  Hayrünnisa Gül. Michelle als modebewußte Ehefrau stand auch in der TV-Berichterstattung ganz oben. Beim Bericht über den Empfang in Baden-Baden entdeckte ich dann Hillary Clinton: Klein, unauffällig, stand sie irgendwo in der Reihe der engsten Mitarbeiter des Präsidenten. Ansonsten kam sie nicht vor.
Geht die Geschichte der Emanzipation zur Gleichberechtigung schon zu Ende? Gelten Frauen nur noch etwas als Ehefrauen?
Erzählen wir das den Kindern??

Frankfurt, 4. April

Die "tageszeitung" (taz) wird 30 Jahre alt, und ich bin von der Null-Nummer an Abonnentin gewesen, bis heute. Die Zeitung war mir in Luxemburg grad so wichtig wie sie es hier in Frankfurt ist. 

Immer mal wieder hab ich auch was dran auszusetzen: wenn z.B. die Machos durchschlagen. So berichtete neulich einer herabsetzend über das Fernseh-Gespräch zwischen der Bundeskanzlerin und der Journalistin Anne Will. Ich schrieb einen Leserbrief, er wurde nicht veröffentlicht. So setze ich ihn wenigstens hier in mein Tagebuch:

Frankfurt, 25.3.09

zu „Abfedern, aussitzen“, Seite 14, vom 24. März 09, von Stefan Reineke

Merkel und Will, zwei mächtige, selbstbewußte Frauen im Gespräch, und das im deutschen Fernsehen – als Zapperin war ich sehr glücklich über den Zufall, der mich das miterleben ließ. Und nun „berichtet“ darüber ein Mann in der taz, redet typisch Mann und hat nichts begriffen, nicht mal sich selbst. ER verbraucht ca. ein Viertel seiner Zeilen für „Obama und Leno“, also zwei Männer, bevor er zum Thema kommt. ER benutzt in diesem ersten Viertel Vokabeln wie ernst, Witz, wow, Selbstironie. Leno „murmelte“. Anne Will  dagegen „zischt“. Während Obama einfach „sagte“, heisst es bei Merkel: „sagte ... etwas trotzig“. Leno fragt nach dem Hund, Wills „Augen blitzen angriffslustig“. Sie sollte, nach Reinekes Vorgaben, die Kanzlerin „mutig in die Ecke“ treiben. 
Ja, hatte sie das nötig? War das Vergnügen, von gleich zu gleich zu reden, nicht unermeßlich größer, auch für die Zuschauer, als wenn, wie es sonst öfter geschieht, Intelligente mit törichten  Fragen zur Verzweiflung gebracht werden? Merkel hatte, schreibt Reineke, „ein, zwei Lacher auf ihrer Seite“ – ja was denn, eins oder zwei? Nicht mal das weiss er? Ich habe selbst mehr als zweimal geschmunzelt, gekichert, gelächelt. Merkel reisst keine Witze, sie weiss aber leise Scherze einzufügen, und Selbstironie beherrscht sie wie kaum jemand.
Herr Reineke sah, als Schlusspointe, Merkels „Niederlage“. Nur er habe sie bemerkt.
Ach, Männer!

Barbara Höhfeld, Frankfurt am Main





Frankfurt, 2. April

Ja, da ist er doch der schöne Sommertag, auf den wir im März vergeblich gewartet haben! Mein Balkon ist geputzt und erwartungsvoll bepflanzt, die Gartenstühle hab ich aus dem Keller heraufgeschleppt, denn ich erwarte obendrein Gäste, zusätzlich zu dem schönen Wetter, bei dem man auch wird draussen sitzen können.

Mit "erwartungsvoll" meine ich jene Geranien, die ich über den Winter gebracht habe und die noch nicht jene Drallheit aufweisen, die Pflanzen besitzen, welche frisch von der Gärtnerei kommen. Meine Geranien habe ich seit fünfzehn Jahren, lachsrosa; eine dunkelrote Sorte brachte ich aus der Türkei mit, die ist etwas jünger. Jetzt werden wohl bald die Blüten sprießen.

Vögel zwitschern, tirilieren, tschilpen .....