Frühjahr 2010: Die Reise nach Bordeaux

Frankfurt, 1. Juni

Gestern gegen Mitternacht kam ich heim. Ich wurde am Bahnhof mit einem Blumenstrauss abgeholt, ich kam "nach Hause", ich schlief sehr gut in meinem eigenen Bett. Was fang ich nun an mit meinen Schatz an Erinnerungen, Erkenntnissen, Wissen, Beziehungen? Wie passt Bordeaux nach Frankfurt? Sind das Fragen, die man überhaupt versteht?

Ich will nichts erklären. Das "'Erklären" schätzt man in Frankfurt meistens nicht, und vermutlich haben die Leute recht. Die Sache muss sich von selbst verstehen. Sonst braucht man sie nicht.

Nun liegt es allein an mir, so gut, so klar, so einnehmend zu erzählen, dass alle begeistert nicken. Nur damit würde ich meinen Gastgebern in Bordeaux gerecht.

Dafür brauch ich etwas mehr Zeit. Die Antwort auf die Frage Wie passt Bordeaux nach Frankfurt? wird auf einem andern Blatt stehen.

Die Reise ist zuende.

Bordeaux, 30. Mai

Mein letzter Tag, trübe und regnerisch. Das passt.

Wovon nehme ich Abschied? Etwas genauer werde ich das erst nach meiner Rückkehr wissen, denn ich habe vergessen, was mich daheim erwartet. Hier lebte ich in der Offenheit - "Komm, ins Offene, Freund!", jenes Hölderlin-Zitat erhielt für mich hier in Bordeaux eine Greifbarkeit, eine Wirklichkeit, wie ich sie mir vorher nicht vorstellen konnte.

Hier lebe ich in der Offenheit: selbst am letzten Tag. Wohin gehe ich noch einmal in den letzten Stunden? Ich hatte mir die Kirche St. Eloi vorgenommen, sie liegt in einem Viertel der Altstadt, das ich kaum besucht habe, und sie dient den katholischen Integristen als Gotteshaus. Gestern begegnete mir vor dem städtischen Theater eine Demo der Linken, eine Anti-Demo gegen die Integristen eigentlich, die diese aber offenbar an einem andern Ort abhielten, ich sah sie nicht. Usprünglich wollte ich schon gestern abernd zur Messe nach St.Eloi, konnte mich aber dazu nicht aufraffen. Mir starrsinnige, rückständige Katholiken anzuhören, empfinde ich als Folter. Mir fehlte der Mut dazu. Vielleicht die Neugier, da ich ja schon zu wissen schien, was mich erwartete. Etwas von vornherein zu wissen zu glauben - darin liegt immer ein Fehler, ich weiß.

Ich habe stattdessen gemütlich gefrühstückt und mich noch einmal in die Geschichte der Gironde vertieft. Das Haus steht voll mit Büchern über die Landschaft - ob Region oder Departement. Nur verstehe ich diese Bücher jetzt erst, nachdem ich das Land ein wenig kenne. Vorher trübten sie mir mit ihrer angestrebten Poesiehaftigkeit den Blick.

Und jetzt brauche ich sie nicht mehr. Oder ich wittere Fehler, Auslassungen: von Ausonius wird in dem Kapitel über die Geschichte der Gironde berichtet, er habe in Trier sozusagen die kaiserliche Autorität ausgeübt, "über ganz Westrom geherrscht", nachdem sein Zögling, der Kaisersohn, gestorben war. Dann sei er im Glanze seines Ruhmes nach Bordeaux zurückgekehrt (an dieser Stelle vermisste ich eine Jahreszahl), wo er mehrere Weingüter besessen habe. Es wird nicht klar gesagt, welchen Standes er vor seiner Trierreise war - die immerhin an die 20 Jahre dauerte, wenn ich mich recht erinnere - war er Professor, und wo?, und welchen nachher. Nach meinem deutschen Ausonius-Buch war er von Trier vertrieben worden, weil er sich zu viel in die Politik eingemischt hatte.

Mein Koffer ist halb gepackt. Es hat zu regnen aufgehört. Die Sonne scheint nicht, und doch blendet das Mittagslicht. Ich breche auf zu einem letzten Stadtgang.

Bordeaux, 29. Mai

Ins Périgord hatte ich meinen Computer nicht mitgenommen, zum Schreiben blieb eh keine Zeit. Ich war zu Gast bei Chantal Tanet, der Autorin, die im Herbst als "Résidente" des Hessischen Literaturrates nach Wiesbaden kommen wird. Sie wohnt auf dem Lande, ganz in der Nähe der Höhlen  von Lascaux. "Auf dem Lande" bedeutet im Périgord nur, dass es rundherum mittelalterliche Städte mit den herrlichsten Palästen zu sehen gibt. "Auf dem Lande" bedeutete in meinem Fall auch, dass meine Gastgeber, Chantal Tanet und ihr Gefährte, der Literaturkritiker Tristan Hordé, ihren eigenen Garten bewirtschaften, Hühner halten und die Vögel schützen. Ein paar hundert Meter entfernt stand ein verfallender Bauernhof, dessen Bewohner vor drei Jahren gestorben waren. Eine Katze gehörte noch zu diesem Anwesen, von ursprünglich dreien, sie blieb dort, und Chantal brachte ihr täglich zu fressen.  Es gab nämlich Hunde in der Nähe, und die alte, sehr alte Katze fürchtete sich vor ihnen.

Rundum entstanden auch neue Einzelhäuser, sie waren gewöhnlich in einem pseudo-provenzalischem Stil gebaut, dienten zum Teil als Sommerhäuser für Pariser, für Belgier, Engländer, Italiener. Alle in freundlicher Nachbarschaft. Täglich fuhr Chantale ins Dorf, um die Zeitung zu holen. Der Briefträger kam mit dem Auto bis vors Haus.

Man lebt nicht außerhalb der Zeit in Périgord, man fährt häufig nach Paris, das Telefon und das Internet bringen alle möglichen Nachrichten herbei. Doch man kocht in Ruhe, man schläft in Ruhe, und man liest viel. Meine Gastgeber hatten wegen einiger Renovierungsarbeiten die Hälfte ihrer Bücher in Kartons verpackt - und doch legten sie mir mehr Bücher zum Ansehen vor, als ich in acht Tagen hätte lesen können, geschweige denn in zwei. Außerdem zeigten sie mir Montignac, St Amand, Sarlat und zuletzt, in Eile, noch Perigueux. Im übrigen diskutierten wir hitzig, stundenlang, über die Dichtkunst, über Politik, das Bildungswesen, über Geschichte,  die Gegenwart, die Zukunft und über Personen des Kulturwesens im Südwesten. Ich lernte viel. Es war eine wunderbare Zeit. Als ich gestern abend wieder in Bordeaux einfuhr, war mir, als käme ich von einem andern Stern.

Bordeaux, 26. Mai

Die letzten zwei Tage liefen fast über .... Nun ist meine amerikanische Freundin wieder auf dem Heimweg. Am Pfingstmontag hatte sie für uns beide ein Bustour nach Blaye und Bourg beim Touristenamt gebucht. Sie wollte noch ein bisschen Landschaft genießen. Blaye ist eine Vauban-Festung an der Gironde - war es zu seiner Zeit, heute eine Kleinstadt in den Weinbergen - Bourg muss noch kleiner sein, ich habs gar nicht gesehen.

Die Fahrt galt nämlich zwei Weingütern, "Châteaux" genannt, die Businsassen wurden zur Weinprobe geführt, sollten danach möglichst viele Flaschen kaufen. Die Winzer möchten, so hörten wir, dass die Kunden junge Weine kaufen und sie in ihren eigenen Kellern reifen lassen. Zehn Jahre oder länger. Solche "alterungsfähigen" Weine sind auch in jungen Jahren schon recht teuer, so ab 17 oder 20 Euro die Flasche.

Auf der Busfahrt wurden wir zu Spezialisten getrimmt, zu Fachleuten für Bordeaux-Wein. Die Reiseleiterin redete von der ersten bis zur letzten Minute. Sie lispelte und ihr Französisch-Akzent im Englischen hätte jeden Kabarett-Test bestanden. Am Ende der Reise, wir überquerten gerade den Pont d'Aquitaine, verstieg sie sich zu der Behauptung, dem Weinhandel gehe es schlecht, weil die Jugend in Frankreich keinen Wein mehr trinke. Stattdessen begnüge sie sich mit diesen Soda-und-Schnaps-Getränken! Davon würden die jungen Leute dann Alkoholiker! Nicht so mit Wein: wer behaupte, vom Wein würde man Alkoholiker, der sei ein Lügner.

Sie hatte selbst an allen Weinproben teilgenommen.

Nun forderte sie die 51 Businsassen auf, dafür zu sorgen, dass ihre Kinder und Enkel wieder "sauberen, gesunden Wein" tränken. Um den Bordeleser Weinbau, wo nicht ganz Frankreich zu retten.

Ich fühlte mich erschöpft danach. Aber die Landschaft war sehr schön, ein welliges Land, nicht ausschließlich mit Wein bepflanzt, auch mit Bäumen, Hecken, Blumen. Dazwischen die gepflegten Winzerhäuser, denen der "Château"-Charakter  meist nicht abzusprechen war.  Meiner Freundin hat es gut gefallen.

Pfingstdienstag waren wir noch zum Kaffee - d.h. um 14 Uhr nach dem Essen - bei einer Dame geladen, die ich bei meinen Lesungen kennengelernt hatte. Eine Freude, auch mal in ein Privathaus zu kommen: in eins dieser typischen Bordeleser Häuser mit einem Gärtchen innen drin, in das kein Nachbarfenster hineinschaut! Vier ältere Damen, und alle redeten wir der Amerikanerin zuliebe auf Englisch, in sehr angeregter Unterhaltung. So viele gemeinsame Interessen waren zu entdecken, nicht nur Literatur, auch das Schulwesen etwa: hier, in Deutschland, in Amerika, auch in England.

Um sechs Uhr stellte in der Buchhandlung Mollat ein junger Historiker sein Buch über das Pressewesen in Deutschland zur Zeit der Aufklärung vor. Ich fand es hochspannend, auch in Bezug zu Hölderlin, und ich habe es nur deswegen nicht gekauft, weil ich nachher zum Essen mit dem Direktor der Ecla verabredet war. In ein Restaurant  draußen am Bassin à flots, im Jachthafen.

Dorthin machte ich mich anschließend auf den Weg, merkte, dass ich Adresse und Telefonnummer zuhause liegengelassen hatte. Macht nichts. Sollte neben der Base Soumarine sein. Ich hatte neulich nichts dergleichen bemerkt, aber jemand wird es wohl kennen. Ja, der Busfahrer hatte den Namen "L'Huître à flots" schon mal gelesen, er besann sich, und weil ich fast der einzige Fahrgast war, hielt er direkt hinter dem Büdchen an, in dem sich das Restaurant befand. Es lag mitten im Werftgelände, wo die Jachtbesitzer ihre Boote für den Sommer vorbereiten. "Für drei Monate mit den Kindern in See stechen ...."

Der Direktor der Ecla, mit dem ich bis dahin noch nie ein Wort gewechselt hatte, zeigte sich als jovialer, kluger Mann von Welt im karierten Hemd. Den Wirt, einen ausgestiegenen Kulturmenschen, kannte er persönlich. Das Essen - Gambas auf Gemüse - war köstlich und bekömmlich.  Wir unterhielten uns  angeregt, es war ein wunderbarer Abend. Ich erfuhr einiges über die Basken. Es gibt die Basken "im Süden", das ist Spanien, vier Provinzen, und es gibt die "im Norden", das heißt in Frankreich, drei Provinzen. In Spanien haben die Basken mehr Autonomie als in Frankreich. Durch die Sprache finden sie ihre Identität.
Ecla habe zahlreiche Projekte zusammen mit den Basken des Nordens laufen.

Welch ein Tag!

Heute nachmittag fahre ich ins Périgord. Vorher will ich noch Bücher bei der Post aufgeben, für die mein Koffer zu klein wäre. Ich muss Schluss machen, es wird höchste Zeit.

Bordeaux, 24. Mai

Wie konnte ich mich derart irren und den Ursprung des Künstlers so verkehrt aufnehmen? Warum fiel mir die Bezeichnung "baskisch" gar nicht auf? Ich schloß aus ein paar Worten mit X und vielen Rs auf "Inka" oder "Azteken"! Dabei waren es baskische Worte und Namen.

Bordeaux gehört nicht zum Baskenland, so muss es nicht verwundern, wenn hier, unfern der französischen Seite des Baskenlandes,  von Problemen mit den Basken keine Rede ist.  Manchmal entdecke ich einen typisch baskischen Namen an einer Tür. Um ein Beispiel zu bringen, schlag ich das Telefonbuch unter "Eche...." auf und finde etwa: Echezeverre, oder so ähnlich. Es spielt keine Rolle, ob einer baskisch ist, nicht an der Oberfläche. Manchmal lese ich in der Zeitung eine Meldung von Schießereien zwischen Polizisten und Basken; im "Sudouest" wird darüber als schiere Meldung ganz sparsam berichtet, ähnlich wie von einem Autounfall. Wahrscheinlich müsste ich online unter www.rue89.fr  suchen, dort würde ich wohl tiefer gehende Beschreibungen finden.

Diese Webadresse erfuhr ich vom Fotografen der "ecla", von Stephan Ferry, auf dessen Webseite sehr schöne Fotos von Bordeaux zu sehen sind:  www.photographe-bordeaux.fr  und nicht allein von der prächtigen Seite der Stadt. Er machte ein Interview mit mir, das im Herbst in der Hauszeitschrift der "ecla" (meine Gastgeber hier) erscheinen wird.

Hätte ich mich im U-Boot-Stützpunkt für die baskische Seite der Ausstellung interessiert, wäre ich vermutlich auf allerlei Gesichtspunkte gestoßen, die das Baskische, die Rolle der Basken in Frankreich unterhalb der Oberfläche abtasten. Ich war aber so angespannt von der U-Boot-Vergangenheit des Ortes, vielleicht auch schon ein bisschen müde vom Hinweg - es hat uns ja auch auf dem Hinweg kein Bus vor dem Eingang abgesetzt - dass ich die Ausstellung vor allem als Ablenkung empfunden habe, als einen Trost, als eine Annehmlichkeit. Das war sie auch. Ob ich es schaffe, noch einmal hinzugehen, um mich für das Baskische zu interessieren? Die Zeit wird knapp, es bleibt mir nur noch eine Woche in Bordeaux. Heute fahren wir nach Blaye, das ist eine alte Festung flussabwärts, an der Gironde.

Bordeaux, 22. Mai

Wir haben heute 29 °C, und für morgen sind sogar 30° angekündigt, bei weitem blauem Himmel. Da findet man die Überschwemmungs-Fotos aus Polen befremdlich, die einem der Computer liefert.

Befremdliches findet sich freilich auch hier in Bordeaux: wir erkundeten heute die "Base Soumarine", die Unterseeboot-Basis aus der Zeit der deutschen Besatzung. Wie überall am Atlantikwall die Ungeheuerlichkeit der Betonmauern. Aber hier eine weitläufige Architektur: Räume, Durchblicke, Pfeiler, Wasser. Der Ort dient für Ausstellungen, nur wenn es Ausstellungen gibt, ist er geöffnet, bei freiem Eintritt. Ich fand zwischendrin einen langen, schmalen, mindestens zehn Meter hohen Betongang, der mich an die Architektur von Libeskind erinnerte (in Osnabrück das Nussbaum-Museum, in Berlin das jüdische Museum). Die andern Räume besaßen wechselnde, doch einigermaßen menschliche Abmessungen - oder schien das nur so im Dunkeln, wo mit raffiniertester Lichttechnik die einzelnen Kunstwerke angeleuchtet wurden, und alles übrige im kaum erkennbaren Dämmer blieb? Es wurden Holzskulpturen von einem südamerikanischen Künstler namens Zigor gezeigt, der sich nach einem Journalistenleben in Frankreich niedergelassen hat. Die Figuren vermag ich nicht zu beschreiben, sie wirkten. Sie wirkten äußerst stark, sie trugen Leben in die feuchtkühle Finsternis, nein, die Umgebung versank, wurde bedeutungslos. Glatt polierte Holzstücke, ineinander gesteckt, auf unsichtbare Weise mit einander verbunden, erinnerten sie manchmal an die Bilderschrift der Inkas. Meine Freundin fand Formen der Inuit wieder. Dennoch keine Wiederholung zwischen den einzelnen Figuren, keine Ermüdung, keine Anstrengung  für den Betrachter. Eine Ergriffenheit, der sich kein Besucher entzog. Die Ausstellung war von diskreter Musik aus Lautsprechern begleitet, das spielte auch eine Rolle für die Wirkung und sollte nicht verschwiegen werden.

Als wir zuletzt wieder hinaus in das gleißende Sonnenlicht traten, empfanden wir etwas wie eine Reinigung. Darf das sein? An einem Ort, der kriegerischer Eroberung diente, an dem viele Unschuldige ermordet wurden? Von Deutschen versklavt und erschossen? Oder einfach im Beton verschwanden?

Eine Bushaltestelle gab es in der Nähe nicht, Hinweisschilder zur "Base Soumarine" übrigens auch nicht, außer unmittelbar am Eingang. Der Ort wird in Bordeaux wie ein Geheimtipp behandelt, den freilich jeder kennt. Wir gingen ein ganzes Stück zu Fuß, ehe uns ein Bus mitnahm.  Dieser unbequeme Weg zur Haltestelle diente uns, gewissermaßen, als eine kleine Buße für die Schönheit, der wir an solch mörderischem Ort teilhaftig geworden waren.

Nicht mal die Kälte des Untergrunds hat uns an diesem heißen Tag etwas anhaben können.

Korrektur vom 23.5.: Der Künstler Zigor ist Baske, er stammt aus dem französischen Baskenland, nicht aus Südamerika!

Bordeaux, 20. Mai

Bei dem schönen Wetter habe ich um drei Uhr einen ganz kurzen Schatten! Höchstens einen Meter lang, eher weniger. Bordeaux liegt auf dem 43. Breitengrad.

Es weht noch immer eine kühle Brise, doch die Sonne brennt gewaltig, wenn man sich ihr aussetzt. Sogar die Straßenbahn blieb heute stecken. Dabei wurde doch in den Erzählungen immer der Regen für einen Stromausfall an der Tram verantwortlich gemacht. Heute wars am frühen Nachmittag, und alle Welt machte sich zu Fuß auf den Weg. Innerhalb der Stadt dehnen sich die Entfernungen nicht besonders aus, zur nächsten Bushaltestelle brauchte man nicht mehr als zehn Minuten.

Immer vertrauter wird mir die Stadt, immer betrübter sehe ich auf das Ende meines Aufenthaltes. Immer öfter ist von "Wiederkommen im nächsten Jahr" die Rede. Aber noch bleiben mir zehn Tage. Ich habe sie schon weitgehend verplant. Irgendwie kommt man ohne Planung nicht aus. Gleichzeitig stehle ich mir selbst durch das Planen die Freiheit des Erlebens und des Deutens ... Diese Erkenntnis muss ich mir merken ... Nicht mehr als höchstens die Hälfte meiner Zeit verplanen, nein, höchstens ein Drittel. Oder noch weniger, wenn es  geht. Die Frage ist, warum geht es nicht? Warum schaffe ich es nicht, mich völlig dem Fluss des Geschehens zu überlassen? Damit auch dem Bedürfnis des Schreibens. Denn ohne dieses Bedürfnis käme ich gar nicht dazu. Das Planen betrifft sehr wohl den Zweck meines Hierseins: Kennenlernen, Kontakte knüpfen, Deutsches und Französisches verbinden.

Niemand trug mir deutsch-französische Verständigung auf. Diejenigen, die sich beruflich drum kümmern, mögen den Terminus gar nicht mehr. Schon gar nicht, wenn er mit "Versöhnung" verbunden wird. Diejenigen allerdings, die hier Deutsch lernen, die sich für Deutschland interessieren, die fragten und hörten mit großer Aufmerksamkeit zu, als ich in ihren Deutschunterricht kommen durfte. Es ging da nicht nur um meine Texte (einige waren zu diesem Zweck ins Französische übertragen worden), es ging um Europa, um die Besonderheiten von Deutschland, die von Frankreich, z.B. derzeit, wo die Währungsfragen in aller Munde sind. Die Fixierung der Deutschen auf "Stabilität" der Währung, die konnte ich doch ein wenig plausibel machen, glaube ich. Hoffe ich. Die Notwendigkeiten und Probleme des Übersetzens in Europa. Ich wurde auch um meine Meinung über Bordeau gefragt ("Ich bin begeistert"), und ob ich nicht auch Kritik übte? Ich entgegnete, dass mir in Bordeaux soviel kritisches Denken und eine solche Vielfalt der Meinungen begegnete, dass ich voller Hochachtung zuschauen könne, ich als Gast. Wenn ein katholischer Priester in der Base Soumarine  einen Krimi vorstellt, in dem er den Unterschied zwischen dem vatikanischen Katholizismus und dem  Integrismus verarbeitet hat, dann sagt das sehr viel. (Leider konnte ich nicht dabei sein.) Die hiesige integristische katholische Gemeinde, zu der auch Mitglieder der Pius X.-Bruderschaft gehören, und der die Stadt, nachdem der Papst die Gruppierung wieder in den Schoß der Kirche aufgenommen hatte, nun auch eine nicht gebrauchte Kirche zuwies, war mit versteckter Kamera für eine Fernsehsendung gefilmt worden und hatte sich daraufhin allen möglichen Vorwürfen - Antisemitismus usw. - ausgesetzt gesehen. Am 29. Mai wollen sie eine Demo gegen die Abtreiung organisieren, es sammeln sich jetzt schon die Gegner für die Gegendemo.

Die Base soumarine stammt noch von der deutschen Besatzung und ist eine absolut hippe location hier in Bordeaux, es werden dort u.a. Bilderausstellungen veranstaltet. Ich werde versuchen, noch dieses Wochenende dorthin zu gelangen.

Von wegen, keine Planung!

 

Bordeaux, 17. Mai

Zurück zu Hölderlin. Gestern fuhr ich an einen Ort, wo es ihm gutgegangen ist, wenn man seinem Gedicht "Andenken" glaubt, und das tun einige kluge Menschen.

Mit der Straßenbahn fuhr ich nach Lormont. Die "Tram" windet sich oben am Berg entlang, durch Gewerbezonen, Baustellen, über die Autobahn, in Neubauviertel, und nichts erinnert an die Zeit von Hölderlin, außer einem Schild an der Haltestelle "Mairie de Lormont": es zeigt in Richtung  auf das "alte Lormont". Die Straße  geht sachte bergab, knapp vor der Autobahn, die  auf die neue Brücke, den "Pont d'Aquitaine", nach Süden führt. Genauer gesagt, nach Westen an dieser Stelle, wo sie über der Garonne schwebt.

"Geh aber nun und grüsse / die schöne Garonne, / und die Gärten von Bourdeaux / Dort, wo am scharfen Ufer / hingehet der Steg und in den Strom / tief fällt der Bach, darüber aber / Hinschauet ein edel Paar / von Eichen und Silberpappeln" - das trug Hölderlin dem heimatlichen Nordostwind auf, und mit dem Wind trug er seine eigenen Erinnerungen zurück an diesen Ort, an dem die Reisenden über die Garonne setzten. Zum Beispiel die Pilger auf dem Jakobsweg, jene, die die Route über Tour genommen hatten. Gestern schritt ich diesen steilen Fußweg hinab, die Verwüstungen des Autonbahnbaus hatten ihn unversehrt gelassen zwischen alten Mauern. Auch die Straße, zu der er führte, war wie aus Hölderlins Zeiten: die Häuschen, das Lavoir mit mehreren Becken (nicht sichtbar von der Straße, nur auf kundigen Schildchen verheißen!), die uralte Martinskirche. Und schon stehen die Besucher am Strom, der hier tatsächlich viel enger fließt als weiter oben, bei der Stadt, sich also besonders für eine Fähre eignet. Es erstreckte sich auch ein Anlegesteg hinaus bis an die Wassergrenze, der aber nur noch individuell benutzt wird, es gibt keinen öffentlichen Bootsverkehr mehr. Seit oben die Straßenbahn fahre, berichtete die Wirtin, sei der Schiffsverkehr eingestellt.

In der folgenden Strophe erzählt Hölderlin von einem Mühlenhof mit Feigenbaum, wo "An Feiertagen gehn / Die braunen Frauen daselbst / Auf seidenen Boden / Zur Märzenzeit / Wenn gleich ist Tag und Nacht, / Und über langsamen Stegen, / von goldenen Träumen schwer / Einwiegende Lüfte ziehen."

Die Mühle stand oben auf der bewaldeten Anhöhe, wurde mit Wasser betrieben, das las ich irgendwo. Es gibt sie heute nicht mehr, ich suchte nicht danach. Was meinte Hölderlin mit "Stegen"? Das Wort hat im Deutschen mehrfache Bedeutung, und die Übersetzer verstehen manchmal so was wie "Anlegesteg", manchmal "Pfad". Ist der "Steg" in der ersten Strophe derjenige, an den die Fähre anlegte? Sind die "Stege" in der zweiten Strophe über Mühlenbäche gelegt,  oder meinen sie Waldwege? Wieso nennt der Dichter diese Stege "langsam"? Bereitet er vor auf das, was in der dritten Strophe geschieht, nicht ausgesprochen wird, nur angedeutet durch ein Konditional - "denn süß wär unter dem Schatten der Schlummer". WÄRE! Er hat also nicht geschlafen. Ich habe noch keinen Interpreten gefunden, der darauf hinweist, auf dieses Konditional. Hölderlin spricht nie von sich als Person. Er sublimiert immer. Waren es "die braunen Frauen", die gehen "auf seidenen Boden", die er besser vermieden hätte, wenn er dank eines Becher Weins rechtzeitig in den süßen Schlummer gefallen wäre? Stellt er sich vor, er läge auf einem schaukelnden Steg, in "einwiegende(n) Lüfte(n)" und träumte in den goldenen Himmel?

Es bleibt sein Geheimmnis, doch ermöglichen die Zeilen jedem Leser, seine eigenen Träume an die Stelle zu setzen.

Gestern abend musste ich den Berg nicht wieder hinaufsteigen, ich fand einen Bus, der mich am Flussufer entlang hurtig in die Stadt zurücktrug, zurück zu der steinernen Brücke, die es zu Hölderlins Zeiten nicht gab.

Ich fühlte mich erschöpft und zufrieden zugleich. Allen Zerstörungen der Neuzeit zum Trotz hatte ich etwas von dem Charme erspürt, den die Anhöhe von Lormont in früheren Zeiten ausstrahlte.

 



Bordeaux, 15. Mai

Das Samstagsvormittagsläuten klingt gerade aus, vielleicht war es auch nur ein Ruf zur Messe in St. Seurin, dieser uralten Kirche am Rande der Altstadt von Bordeaux, neben der ich wohne. Heute Nachmittag gehen wir sie besichtigen, meine Freundin Martha aus dem Staat Washington, die mich hier für kurze Zeit besucht, und ich. Uns wurde eine Krypta aus dem vierten Jahrhundert in Aussicht gestellt. Die riesige Grabanlage weit über die Fläche hinaus, auf der die Kirche steht, diente schon zu vorchristlichen Zeiten für diesen Zweck, und an ihrer Oberfläche zaubern heute die bordelesischen Stadtgärtner eine traumhafte Grünanlage zwischen die Platanen und Ulmen. Karl der Große begrub hier, so heißt es, nach der Niederlage gegen die Mauren bei Roncesvalle Rolands Schwert.

Martha zeigt unbändige Freude an guter französischer Küche, von der es hier in Bordeaux wahrhaftig mehr als ein Beispiel gibt. Sie genießt es so, dass sie schon davon träumt: Foie gras mit Weingeleewürfelchen, Entenschenkel, oder Austern in warmer Soße! Ziegenkäse und luftgetrockneter Schinken! Frische Croissants am Morgen, duftende Quiche am Abend! Nein, sie träumte nicht von einzelnen Gerichten, die Reihenfolge habe ich jetzt aufgestellt, sie träumte einfach vom Essen.

Gestern abend besuchten wir die "Ecole du Vin", wo jedermann jeden guten Wein probieren kann, im Glas, um später, en connaissance de cause, eine Bestellung von soundsovielen Flaschen an jenen Winzer aufzugeben, dessen Wein ihm am besten geschmeckt hat. Dazu serviert man in der Ecole du Vin für einen geringen Obolus ein Tellerchen mit verschiedenen Wurst-, Schinken- und Pâtésorten oder mit einer Ziegenkäseauswahl oder mit sonst irgendwelchen Spezialitäten. Alles nur in Happengröße, aber köstlich, unvergleichlich. Wir bestellten noch nichts bei irgendeinem Winzer, das hat Zeit; meine Freundin Martha entdeckte aber den süßen Bordeauwein, dessen  Süße so gar nichts mit gewöhnlichem Zucker zu tun hat. Der Kellner empfahl uns zum Süßwein eine kleine Schokoladenauswahl, d.h. Pralinen, die stammten natürlich vom ersten Chocolatier am Platze. Diese "Ecole du Vin" ist auch architektonisch ein ganz besonderer Ort, eine Mischung aus Style Moderne und heutiger Innenarchitektur, dabei unglaublich romantisch. Gestern abend standen wir Schlange, ehe wir einen Platz fanden, es saßen überwiegend junge Menschen an den Tischchen, in den Sofaeckchen, an der Bar. Wir brauchten dennoch nicht lange zu warten, wir waren "nur" zu zweit, die anderen suchten Platz für fünf. Auch sie fanden bald ihren gemütlichen Winkel.

Bordeaux, 13. Mai

Heinrich Mann und sein Henri IV haben mich erst recht in ihrem Griff, seit ich gestern nachmittag im Goethe-Institut die beiden Bände ausgeliehen habe: "Die Jugend des König Henri IV" und "Die Vollendung des Königs Henri IV". Obwohl ich sie schon vor 30 oder 40 Jahren gelesen habe, entdecke ich den Text ganz neu, seit ich in Pau war. Dort hat man mich darauf hingewiesen, dass H.Mann seinen Roman als ein Bollwerk des Humanismus gegen die Nazi-Ideologie verstanden hatte. Er schrieb daran von 1932 bis 1938, und gleichzeitig veröffentlichte er in Amsterdam ein Buch mit Aufsätzen zur Tagespolitik unter dem Titel "Hass". Er sprach darin von der hasserfüllten Haltung der Nazis, die "gegen" etwas, gegen die andern waren, ohne positives Bild des Menschen. Heinrich Mann entwickelte Henri IV als Gegenposition, als einen Monarch der Güte und des Wohlwollens für alle. Religionsfreiheit, Vergebung dem Feinde waren zwei politische Ziele Henris.

Heinrich Mann beschreibt konkret seine politischen Auffassungen, und zwar in den beiden Büchern, in jedem auf seine Weise. Doch als ich in meinen jungen Jahren das Buch über den König Henri IV las, merkte ich nichts von diesem politischen Gegenwartsbezug. Die Erzählweise fesselte mich, die Geschichte begeisterte mich, aber sie trug mich auch fort in eine ferne Zeit und in ein fernes Land. Wenn ich mir jetzt den Klappentext von meinem ausgeliehenen Buch anschaue, das 1964 erschienen ist, dann wundert es mich nicht, dass ich den Gegenwartsbezug nicht erfasste: "Der Weg ... führt durch eine Epoche der französischen Geschichte..", heißt es da, "in der Mord und Gewalttat, Lüge und Verrat, die Politik mit anderen Mittel, in ihrer gräßlichsten Entartung triumphierten." (Natürlich, diese Franzosen, dachte ich damals, ohne es zu wissen!) Zum Schluss schreibt der Verlag von dem "Gemälde einer Epoche, die in ihren Wirrungen und Gefährdungen Wesentliches zur Struktur des heutigen Frankreichs beitrug."  Nein, mit Deutschland hatte das gar nichts zu tun!

Die Literatur- und Sprachwissenschaftler aus Pau können sehr wohl etwas anderes beweisen.

Dass Heinrich Mann seiner Verzauberungskünste auch aus dem Grab heraus nicht verlustig gegangen ist, merkte ich gestern abend, da ich zum Bahnhof ging, um eine Freundin abzuholen. Ich war zu früh da, vertiefte mich in mein Buch - und plötzlich stand die Freundin vor mir! Die ich auf dem Bahnsteig hatte abholen wollen! Ich schämte mich, weil ich mal wieder über einem Buch alles um mich herum vergessen hatte. Wenn das meine Mutter wüsste!

 

Bordeaux, 11. Mai

Ich kam nachhause - ich kam nach Bordeaux zurück und fühlte mich daheim. Gestern abend war das. Vor dem dunklen Himmel leuchteten die Häuser, die steinerne Brücke, die modernen Laternen, eine richtige, selbstbewusste Stadt. Es war ein gutes Gefühl.

Ich kam von Pau, das Heinrich-Mann-Institut hatte mich zwei Tage lang nach dorthin eingeladen. Pau liegt 250 km südlich von Bordeaux, im Vorland der Pyrenäen, wo sich die grünbunten Hügel und Täler des Béarn bis hin zum Gebirge ausdehnen. Auf einem Hügel erhebt sich Pau, ich könnte auch sagen, auf einem Balkon, von dem aus man die Gebirgskette betrachtet. Der "Balkon" ist begrenzt von einer schier endlosen Balustrade, hier und da stehen Palmen davor, von denen viele blühten, es waren Dattelpalmen, und in der Ferne sah ich die von frischem Schnee leuchtenden Gipfel der Pyrenäen. Gewissermaßen in erster Loge. Auf dieser Linie erbauten auch die Könige von Navarra ihr schönes Schloss, das heute in bestem Zustand zur Besichtigung offen steht. Hier wurde Henri IV geboren, der erst König von Navarra war und dann durch die Unwägbarkeiten der Thronfolge sich als König von Frankreich wiederfand. Er hatte große Feinde, er besiegte sie alle und führte nach jahrzehntelangen Kriegen endlich wieder Frieden ein. Das war 1600, und die Franzosen danken es ihm noch heute. Er ist der beliebteste französische König, und doch wurde er am 14. Mai 1610 ermordet. In Pau "feierte" man gerade die vierhundert Jahre seit Henris Ermordung mit allerlei Veranstaltungen, insbesondere einer speziellen Gemälde-Ausstellung. Die riesigen Leinwände, ursprünglich 26 Stück, zeigten Henris Lebensstationen, sie wurden 1610 in Florenz in Auftrag gegeben, weil man dort, in der Heimat von Henris Gattin, einer Medici, eine gewaltige Trauerfeier mit Hilfe der Bilder veranstaltete. Der Thronfolger war erst zehn, im französischen Adel wäre manch einer selber gern König geworden - die pompöse Trauerfeier diente der Unterstützung der Witwe, jetzt "Königinmutter" und Regentin.

 

Na, ich sehe schon, wenn ich so anfange, werde ich mit dem Erzählen überhaupt nicht mehr fertig. Nur noch kurz: Heinrich Manns Biografie von Henri IV, im Exil geschrieben und als Bollwerk gegen die Nazi-Ideologie verfasst, wird in Pau in die Erinnerung an den großen  König mit einbezogen. Vor drei Jahren fand sogar ein mehrtägiges Kolloquium über Heinrich Mann und diese Zusammenhänge statt, die mit der deutsch-französischen Verständigung verknüpft sind. Paul Selinger, der Leiter des Heinrich-Mann-Instituts, und Professor Hans Hartje von der Universität Pau haben das Ihre dazu getan, das heißt, sehr viel.

Die beiden und viele andere Begeisterte richteten auch die Europa-Feier aus, die im Rathaus am 9. Mai stattfand, und zu der sich Franzosen, Deutsche, Spanier und Portugiesen zusammengefunden hatten, zu der auch ich einen bescheidenen Beitrag leisten durfte (mit dem Gedicht "Sprache in Europa").

Die übrigen Europa-Feiern, z.B. in Bordeaux oder sonstwo in der Region, waren gewöhnlich auf den 8. Mai gelegt, und die meisten Menschen, die ich traf, glaubten, dass der 8. Mai der Europatag sei. Der achte Mai, in Frankreich ein amtlicher Feiertag, erinnert an die deutsche Kapitulation von 1945, während am 9. Mai 1952 Robert Schuman seine Europa-Erklärung abgab, die die Grundlage für die gesamte nachfolgende Europäische Gemeinschaft bildet.

In Pau traf ich eine große Zahl von gesprächslustigen Menschen, besonders auch eine Studentin, die sich meiner annahm, Nathalie Klug aus Frankfurt. Sie fuhr mit mir am Montag hinaus zum Schloss "Château d'Orion", das nordwestlich von Pau in einer ganz und gar traumhaften Landschaft liegt, direkt am Jakobsweg.

Über dieses Schloss berichte ich ein andermal, es lohnt sich, doch wer neugierig ist, kann schon mal im Internet schnüffeln!

Die Anstrengung fühlte ich, als ich in der Nacht heimkam, und ich danach habe gut geschlafen.

 

Bordeaux, 7. Mai

Nach einigen Tagen der Kälte - die Winzer fürchteten schon für ihre Reben! - bricht heute wieder die Sonne durchs Gewölk, und geschwind hänge ich, vom Markt heimkommend, den Wintermantel an den Haken. Sofort genügen wieder leichtere Kleidungsstücke.

Jeden Freitag kommt ein Fischhändler auf den kleinen Markt, der sich an diesem Wochentag bei mir gleich um die Ecke ausbreitet. Auf einer an die fünf Meter langen Theke bietet die Poissonerie die unwahrscheinlichsten Fische und Meerestiere an, ich stehe nirgendwo so gern Schlange wie bei dort, weil ich mich an den Formen und Farben, an diesen (mir) durch und durch fremden Körpern nicht satt sehen kann. Silber, leuchtendes Grau, Schwarz und mancherlei Schattierungen von Rot überwiegen. Heute lag da ein hellroter, kleiner Stachelfisch, so lang etwa wie meine Handfläche vom Mittelfinger bis zum Handgelenk misst. In einem dicken, kantigen Kopf endete das Fischlein, in einem dünnen, gleichfalls kantigen Schwanz auf de anderen Seite. Auch der Fischhändler bewunderte das Tierchen, wußte seinen Namen nicht, hatte es in seinen Lieferungen vorgefunden, ohne es bestellt zu haben. Eine Figur wie aus einer bande dessinée!

Schade, dass ich kein Foto gemacht habe, jetzt ist es schon zu spät, sie packen um ein Uhr ein. Vielleicht kann ich das Bild aus dem Gedächtnis aufzeichnen.

Die Gestalt bedeutet etwas, aber ich weiß der Bedeutung keine Richtung zu geben. Wird sie sich im Traum mit anderen Vorstellungen in meinem Kopf verbinden?

Seit einigen Tagen lese ich Hölderlin, das verbindet sich in meinem Kopf auch in verschiedene Richtungen. Ich lese vor allem ÜBER Hölderlin, bei den Franzosen, bei den Deutschen, und ich bin überrascht, wie viele Geistesgrößen sich mit dem geheimnisvollen Dichter beschäftigt haben. Er lässt in seinen Texten häufig mehrere Deutungsweisen zu, das beflügelt, das regt an und darf gleichzeitig persönlich aufgefasst werden.

Übrigens ist Hölderlin offenbar doch auf seinem Weg von Deutschland nach Bordeaux und zurück nicht immer zu Fuss gegangen, manchmal soll er auch die Postkutsche genommen haben. Auf dem Heimweg reiste er über Paris und schaute sich dort Kunstwerke aus der Antike an, die ganz frisch nach napoleonischen Kriegszügen ins Pariser Museum gebracht worden waren. Dieser bewusste und zielstrebige Parisbesuch ist belegt. Der Dichter war offenbar dort ganz bei Sinnen. Ob erst die Wiederbegegnung mit deutscher Kälte und Plumpheit ihn so wütend gemacht hat, dass er in Raserei verfiel? (Neben vielen anderen Gründen, natürlich.) Auch das Gedicht "Andenken an Bordeaux", irgendwann in den ersten Jahren nach seiner Heimkehr entstanden, ist klug und tief durchdacht. Davon hat mich der erläuternde Essay von Jean-Pierre Lefebvre überzeugt, der einem Buch mit dem Originaltext und 29 Übersetzungen vorangestellt wurde.

Die Lektüren erlauben mir, nicht nur mit meinen eigenen Augen, sondern, in einem gewissen Umfang, auch mit den Augen des Dichters meine Umgebung zu betrachten. So taucht auf einmal die Frage auf, wie die Postkutschen damals über die Garonne gelangten? Mit einer Fähre, ja, aber auch mit den Pferden? Oder ließ man die Pferde am Ufer und spannte am anderen Ufer neue Pferde vor? Ein Verfahren, das eine erhebliche Organisation voraussetzt, von der aber bisher nirgends die Rede war. Oder wurden auch die Kutschen ausgewechselt, das Gepäck einzeln auf der Fähre verstaut ....

Morgen fahre ich für zwei Tage nach Pau - nicht zu Fuß, nicht mit dem Wagen, sondern mit dem TGV ("Train Grande Vitesse"). Fahrzeit: über zwei Stunden.

 

Bordeaux, 6. Mai

Tatsächlich, schon der sechste Mai! Die Zeit fängt an zu rennen. In dem Maße, wie ich mit der Stadt vertraut werde, eröffnen sich auch neue Wege für den Wissensdurst, für  Einfühlung, Erkenntnisse, werden neue Formen der Tätigkeit möglich. Dass die fremde Sprache keine Barriere bedeutet, schenkt mir eine ganz eigene Freiheit.

Gestern wurde ich im Goethe-Institut Bordeaux von seiner Direktorin Frau Bechstein einem nicht sehr großen, aber  interessierten Publikum vorgestellt. Die Veranstaltung lief in etwa nach einem hier vertrauten Muster ab: die Moderatorin fragte mich nach Biografischem, besonders nach meinen "europäischen" Erfahrungen, sie fragte nach meinen Büchern und nach meinem neuen Manuskript, an dem ich gerade arbeite und für das ich in Bordeaux Recherchen anstelle. Zweimal durfte ich auch kleine Texte lesen, und da der ganze Abend auf Französisch ablief, las ich französische Übersetzungen meiner Texte: die erste Seite eines Romans, für den ich noch keinen Verleger gefunden habe, dessen erste Seite aber in "Hessische Literatur im Porträt" abgedruckt wurde und über den zu sprechen viele Themen anrührt, und ein halbes Dutzend meiner Gedichte. Hier muss ich unbedingt meinen Übersetzern danken, deren Arbeit gestern von sachkundigen Besuchern sehr gewürdigt wurde: Jean-Marie Velleine für die Gedichte und Odile Demange für die Prosatexte.

Neulich erzählte ich von den Auseinandersetzungen zwischen Paris und Bordeaux; heute heißt das "l'état" und "la région", und es läuft auf dasselbe hinaus. Momentan arbeitet man in Paris an einem Gesetz, das, wenn es angenommen wird, den Regionen und den Kommunen die Mittel kürzen wird, was u.a. auf Kosten von Sport und sonstigen außerschulischen Angeboten für Kinder und Jugendliche gehen wird, und einige andere Nachteile für die Region mit sich bringt. Ich las in der Zeitung den empörten Aufruf: "Que l'État quitte ses habits de jacobin et devienne girondin!" In der Übersetzung würde das in etwa heißen: "Der Staat soll endlich sein Jakobiner-Gewand ablegen und Girondin werden!"

Das bezieht sich auf Vorkommnisse während der französischen Revolution (dank Dr. Michael Hohmann, der mich am Anfang meines Aufenthalts hier besuchte, verstehe ich das jetzt, in der Schule muss ich es überhört haben). Die Partei der Girondins vertrat damals in der  neu geschaffenen Nationalversammlung den Standpunkt, dass es richtige Wahlen geben müsse (wenn auch kein allgemeines Wahlrecht, sondern ein an Vermögen gebundenes), gleich ob  in einer Republik oder in einer konstitutionellen Monarchie. Sie dachte eher föderalistisch, während die Gegenpartei der Jakobiner zentralistisch dachte und ein Wahlrecht für jeden einzelnen Bürger forderte. Die Jakobiner gewannen die Oberhand und führten "la Terreur" ein: in Bordeaux wurde gut zwei Dutzend unbescholtene angesehene Bürger per Guillotine geköpft. Diesen Opfern des Terrors wurde in der Stadt das größte und prächtigste Denkmal errichtet. Vermutlich weiß hier jedes Kind von dieser Auseinandersetzung. Und so sprach die für jedermann geschriebene Zeitung "Le Sud-Ouest" wohl auch den meisten Lesern aus dem Herzen mit der Aufforderung: "Que l'État quitte ses habits de jacobin et devienne girondin!" Denn damit entspräche "er", der Staat, ohnehin dem liberalen Kaufmannsgeist von Aquitanien. Doch Paris streicht wohl die Gewinne lieber selber ein und findet vielleicht die vor Jahren begonnene Dezentralisierung inzwischen gar nicht mehr so vergnüglich.

So, hoffentlich hab ich euch nicht gelangweilt.

 

Bordeaux, 3. Mai

Heute regnet es, ein sanfter Hauch von einem Regen, der immer mal aufhört und wieder neu beginnt. Die Wetteranzeigen auf der letzten Seite meiner Tageszeitung verkünden "bewegte See" ("mer agitée").

Seit ich in Lacanau am Strand war, am ungebändigten Meer, seit mir eine plötzlich vorschwappende Flutwelle das Handtuch genässt und der kleinen Louise die Spielsachen weggeschwemmt hat, lese ich die Wetteranzeigen in der Zeitung mit anderen Augen. Lacanau besitzt auf dem Höhepunkt der Flut praktisch gar keinen Strand mehr, das macht man sich nicht klar, wenn man bei Ebbe ankommt und die ausgedehnten Flächen von feinem, blondem Sand vor sich sieht.

Nicht nur die Luft- und die Wassertemperaturen lese ich jetzt aus den Wetterkarten, ob Sonne oder Regen zu erwarten sind, sondern auch die Windrichtungen auf See - die sich zwischen Rohan und Biarritz, also innerhalb der Biskaya, voneinander unterscheiden -, auch die Höhe des Wellenkamms bei der Brandung. Bei unserm Besuch in Lacanau war die Welle einen Meter hoch, genug um jeden umzuwerfen, heute steigt sie auf anderthalb Meter, lese ich.

Manche Windrichtungen besitzen eigene Namen: "alizé" heißt ein regelmäßiger Ostwind, "suroît" wird der Südwestwind genannt, der den Salzgeruch vom Meer aufs Land trägt. Seit ich in meiner Zeitung auf diese Windrichtungen achte, sehe ich fast nur geringfügig wechselnde Südostwinde. In Bordeaux selbst merkt man davon nicht viel: nur manchmal erhebt sich eine stärkere Brise, lässt aber bald wieder nach. Ja, die Schiffe von einst waren wohl geschützt im "Hafen des Mondes", le Port de la Lune, so nannte man die Rade von Bordeaux, weil die Stadt an einer Biegung des Flusses liegt, die fast die Außenlinie eines Halbmondes nachzeichnet.

Hier gab es nie eine feste Brücke über die Garonne, bis Napoleon kam. Er wollte in Spanien Krieg führen, musste seine Truppen über den Fluss schaffen. Mit Fähren dauerte ihm das zu lange. Den Holzbrücken mangelte es an Zuverlässigkeit. Napoleon wünschte eine steinerne Brücke. Die Bordeleser Stadtoberen schüttelten die Häupter: der Fluss sei viel zu wechselhaft mit seinen Wirbeln, seinen Gezeiten, die Strömung viel zu heftig und unberechenbar, um eine feste Brücke darüber zu schlagen. Napoleon erließ ein kaiserliches Edikt, fand einen tüchtigen Architekten - und die Brücke steht heute noch, sieht wie neu aus, ist schön anzusehen.

Sie brachte einen tückischen Nachteil für die Bordeleser, den die Pariser wohl gar nicht so ungern außer acht ließen: flussaufwärts, hinter der steinernen Brücke, würde es fortan weder Schiffahrt, noch Hafentätigkeit, noch Schiffsbau mehr geben. Die Brückenbogen waren nicht breiter als ein Kanal - es gibt seit dem 18. Jahrhundert viele schiffbare Kanäle in Frankreich - sie reichten für die Binnenschiffahrt, die Hochseeschiffahrt zogen sie nicht in Betracht. Bordeaux hatte aber immer zur See hin gelebt, nicht zum Hinterland. Die Brücke trug bei zum Machtkampf zwischen der selbstbewussten Hafenstadt und dem zentralistischen Paris.

Heute hat sich das Hafenwesen weiter flussabwärts hin zur Mündung verzogen, in Bordeaux selbst verkehren nur noch ein paar Passagierschiffe.

Oder es legen Kriegsschiffe an. Am ersten Mai habe ich die "Frégate Cassard" besichtigt, ein graugestrichenes Schiff für die Luftabwehr auf See. Das 150 m lange und 15 m breite Schiff mit masthohen Antennen blieb ungefähr zwei Tage am Quai liegen, armdicke Seile hielten es an den Pollern fest. Am Vormittag durften Familienmitglieder der Besatzung aufs Schiff, ab 14 Uhr wurden sonstige Interessenten eingelassen, in Gruppen von je 15 Personen. Viele Männer sah ich, während ich in der Schlange stand, ein paar halbwüchsige Kinder, eine alte Dame. Ein älterer Mann drängelte sich vor, ein lederner Mensch mit Weinatem, der aber vernünftig redete: dem aufsichtführenden Matrosen erzählte er von den Deutschen, die so blöd gewesen waren, sich hier im Krieg als Besatzung aufzuspielen, aber auch die französische Regierung sei blöd gewesen: mit Säbeln und zu Pferde seien die Franzosen anfangs gegen die Panzer losgezogen! Der Matrose zuckte mit den Achseln: ja, Frankreich hatte eben noch die gleiche Bewaffnung wie im Ersten Weltkrieg.

Nach der Besichtigung wusste ich, wie sich die französische Marine heute bemüht, auf dem neuesten Stand zu bleiben. Der junge Waffenspezialist, der uns herumführte, hob die Vernichtungskraft der verschiedenen Kanonen, Raketen und Maschinengewehre hervor, mit denen das Schiff gespickt war, die Reichkraft der Radarschirme, und zum Schluss, als Höhepunkt, zeigte er uns den bordeigenen Helikopter, der selbst die Winkel, in die der Radar nicht hineinreiche, noch kontrollieren und sogar beschießen könne.

Ich fragte verschiedene Matrosen, was der Name "Cassard" bedeutete. Der erste wusste es nicht. Der zweite sagte: ein berühmter französischer Seefahrer aus der Zeit der Segelschiffe. Ein dritter meinte wegwerfend: "Ein Söldner!" Ich erfuhr, dass dies schon das siebte oder achte Schif der Nationalen Marine unter dem selben Namen sei. Man führe nicht gern neue Namen ein. Der Name des Flugzeugträgers "Charles de Gaulle" bilde gewissermaßen eine Ausnahme.

Im Internet fand ich dann den Rest: die Abenteuer des Korsaren Jacques Cassard, der im Auftrag von Louis XIV, des Sonnenkönigs, die Kolonien Englands, Hollands und Portugals überfiel und plünderte ....

Bordeaux, 30. April

Nun hatte ich drei Tage Besuch von meiner Tochter und meinem Enkel. Sie waren noch nie in Bordeaux gewesen, und ich konnte ihnen ein bisschen von den Schönheiten der Stadt zeigen. Auch, wie man auf der Rue Ste. Cathérine einkaufen geht. Diese über einen Kilometer lange Straße, der altrömische "Cardo", beherbergt die schönsten Geschäfte.

Eine Freundin meiner Tochter war ebenfalls hier, sie wohnte bei ihrer Schwester, und so kam es, dass wir vorgestern in einer großen Gruppe, so wie es in Frankreich gang und gäbe ist, ans Meer, nach Lacanau-Océan, fuhren. Vier Erwachsene und fünf Kinder in zwei Autos! Es gab Gelegenheit zum Plaudern, und sie wurde genutzt: im Auto eher von den Erwachsenen, nachher am Strand auch weidlich von den jungen Leuten. Drei Jungen im Alter von 14 und 15 verständigten sich ohne Hindernisse, wenn sie unter sich waren. Die beiden Mädchen, dreizehn und fünf, bezogen sich allerdings meistens lieber auf die Mutter als auf einander, der Altersunterschied war zu groß. Als die Große auf Geländern an der Strandpromenade herumturnte, hörte ich, wie die Kleine ihr drohend sagte: "Wenn du nicht aufhörst, mache ich das auch!" Offenbar hat die Kleine gelernt, dass man nicht auf fremden Geländern herumturnt. Insgesamt benehmen sich die Kinder hier sehr korrekt, wobei ich einräumen muss, dass ich kaum in Arme-Leute-Vierteln verkehre.  Gute Manieren sind eben eine Klassenfrage. Sie zeigen, wo man hingehört.

Eine andere Frage will mir nicht aus dem Kopf gehen: ist auch "Toleranz" im Sinne der Respektierung einer Meinung, die der eigenen entgegensteht, eine Klassenfrage? Oder eine Bildungsfrage? Eine Korrespondenz beschäftigt mich seit einigen Wochen, die damit begann, dass jemand, den ich kenne, Anstoß an einer Geschichte nahm, die ich am 17. März hier auf meiner Webseite veröffentlicht habe: die Geschichte von dem Taxifahrer, der wütend und laut schimpfte, weil jemand an der Verkehrsampel vor ihm bei Grün nicht gleich losgefahren war. Die Person befand, ich hätte nicht schreiben dürfen, was ich geschrieben habe, und wollte mir das immer wieder beweisen, nicht nur, dass ich unrecht hatte, sondern vor allem, dass ich die Geschichte so nicht hätte veröffentlichen dürfen. Dass sie damit die Nähe von "Zensur" erreichte, schien ihr nicht in den Sinn zu kommen, und mir war dieses Argument zu vordergründig, um es zu gebrauchen. Ich versuchte zu erklären, was ich gemeint hatte, versuchte es in immer neuen Formulierungen. Ohne Erfolg. Sie ging nicht darauf ein, sie wollte einfach nur, das ist mein Fazit nach vier Wochen, dass ich meine Geschichte zurücknehme, mich womöglich dafür entschuldige, sie jedenfalls als "unmöglich" anerkenne. Was natürlich mit meiner eigenen Wahrnehmung nichts, aber gar nichts zu tun hatte und hat.

An dieser Korrespondenz erkenne ich die Grenzen des schriftlichen Ausdrucks; mir schenkt das Schreiben Klarheit, ich finde darin eine Ordnung, und wenn es jemand liest und antwortet darauf, so bin ich doppelt froh. Aber hier, in dieser Korrespondenz, hat es mich nicht froh gemacht: wir redeten  mit aller Macht aneinander vorbei.

Am Meer aber zählten nur noch Mut und Überwindung: das Wasser war etwa 12 ° kalt, und die Brandung, mit einer ein Meter hohen Welle, schlug selbstherrlich und unaufhaltbar zu. Aufgeregt und angeregt kamen diejenigen unserer Gruppe  zurück (ich ging nicht hinein), die es gewagt hatten, sich der Brandung zu stellen. In der sommerlichen Sonne wärmten sie sich bald wieder auf, und nicht jeder entging einem Sonnenbrand. Zuletzt kehrten wir in einem Café direkt am Rand der Klippe ein: unter uns donnerten die Wogen, und gleichzeitig ließ die sinkende Sonne vom Westen her jede Welle durchsichtig, wie aus Kristall und Silber scheinen. Das sah unendlich schön aus.

 

Bordeaux, 29. April

Ja, ich hab noch gar nicht von dem Dichter Friedrich Hölderlin erzählt. Er verbrachte ein Zeitchen in Bordeaux, und das kam so:

1801 schrieb er an Schiller nach Jena und fragte, ob er an der dortigen Universität nicht altgriechische Literatur lehren könne. Ich weiß nicht, ob ein Antwortschreiben überliefert ist, doch wurde offenbar daraus nichts. Hölderlin war immer in Geldnot. Oder in Liebesnot. Seine letzte Hauslehrerstelle in Frankfurt hatte er aufgeben müssen, weil er seinem Verhältnis zu und mit der Hausherrin keine Zukunft bieten konnte. So nahm er das Angebot von Konsul Meyer aus Bordeaux an, der einen deutschen Lehrer für seine Kinder und einen Hausprediger suchte. (Hölderlin hatte, wenn auch widerwillig, einst Theologie studiert. Nichts begeisterte ihn mehr als altgriechische Literatur und ihre Übertragung ins Deutsche.)

Er machte sich Mitte Dezember 1801 auf den Weg nach Bordeaux: zu Fuß. Nach ungefähr vierzig Tagen und manchen Abenteuern - die er in Briefen knapp andeutete, aber nicht erzählte - kam er an. Der Konsul empfing ihn mit den Worten: "Sie werden glücklich sein."

Und glücklich muss er wohl zeitweise gewesen sein, wenn man sein Gedicht studiert, das "Andenken an Bordeaux", das er geschrieben hat, als er schon wieder zurück in Deutschland war. Er blieb nur etwa vier Monate in Bordeaux. Am 6. Juni 1802 passierte er die deutsche Grenze, das haben Forscher herausgefunden. Bei seiner Mutter in Nürtingen kam er erst Ende Juni an: verwirrt und ohne Gepäck. Manche Wissenschaftler vermuten, dass er sich im Juni in Frankfurt aufgehalten habe, denn dort starb zu dieser Zeit seine große Liebe, Diotima, die Bankiersgattin Suzanne Gontard.

Man weiß nichts. Ich fand hier in einer bibliophilen Gestaltung ein Heft mit dem Gedicht "Andenken" und fünf Briefen des Dichters, die sich auf die Bordeauxreise beziehen. Ein Hölderlin-Verehrer aus Bordeaux hat alle Texte neu übersetzt und die Ausgabe zweisprachig gestaltet. Anscheinend war "Andenken" das letzte kohärente und auch in sich abgeschlossene Gedicht, das Hölderlin geschrieben hat. An den Ufern der Garonne den Verstand verloren? Oder erst am Totenbett der Geliebten? Er hat es niemandem verraten, und wenn, so wurde es nicht überliefert. Ich muss gestehen, dass mich Hölderlins Bordeauxreise ein wenig beschäftigt - sie öffnet der Fantasie so viele Spielräume.

"Nicht ist es gut, /seellos von sterblichen / Gedanken zu sein. Doch gut / ist ein Gespräch und zu sagen / des Herzens Meinung, zu hören viel / von Tagen der Lieb, / und Taten, welche geschehen."

Auch das steht in dem Gedicht, und es stimmt!

 

Bordeaux, 27. April

Wie die Zeit dahinschlingert! Die ersten Zeilen von Hölderlins Bordeaux-Gedicht habe ich auswendig gelernt:

"Der Nordost wehet / der liebste unter den Winden / mir, weil er feurigen Geist / und gute Fahrt verheisset den Schiffern."

Wenn das nicht schon eine Hymmne aufs Reisen, auf die Seefahrt ist! Ein Bordeleser zeigte mir gestern eine Lagerhalle in der Nähe der Quais: "So sah es vor zwei Jahrhunderten aus! Der Staub stammt noch aus Hölderlins Zeiten. Es wurde hier seither nichts verändert." Er hat allerdings vor, was zu ändern, dort Büros einzurichten.

Die Lagerhalle öffnete sich durch ein großes Tor in Richtung Quai und Garonne. Von hinten her fiel Licht aus einem Lichtschacht in die Halle. Der ungefähr runde Schacht verband Vorderhaus und Hinterhaus mit einander. Die Wände des Lichtschachtes bestanden aus sehr langen, schmalen Planken. Ich erfuhr, dass es Schiffsplanken waren, solche, aus denen das Deck eines der alten Segelschiffe gezimmert wurde. So halfen also die Schiffszimmerleute auch beim Hausbau. Aus dem dritten Stock des Lichtschachtes hing ein Seil herunter: an einem solchen Seil hievte man die Waren in die höher gelegenen Lagerräume hinauf. Ab dem ersten Stock gab es auch Wohnräume. In einem anderen alten Haus, wo der Innenhof ein wenig größer war und nicht gedeckt, sah ich vom Innenhof her eine offene Treppe in die oberen Stockwerke führen, offen, weil sie von Steinbögen flankiert war. Wie überall waren es die blonden Steine, Sandstein, würde ich sagen, hier nennen sie es "du calcaire".

Samstag und sonntag war ich von der Übersetzerin meiner Texte in ihr Haus im Périgord eingeladen. "Le Périgord noir" nennen sie die Landschaft, obwohl ich selten eine schönere, leuchtendere, abwechslungsreichere Landschaft gesehen habe. Warum noir, schwarz? fragte ich. Wegen der vielen Wälder, hieß die Antwort, dort ist es dunkel.

Dort wachsen auch Trüffel. Na ja, und sonst wächst natürlich auch einges, im Périgord. Der Kuckuck rief den ganzen Tag, vom Walde her. Im Garten hörte ich meistens nichts anderes als das Summen der Bienen und den vielfältigen Gesang von Vögeln.

Mir begegnet hier in der Stadt wie auf dem Lande eine überwältigende Gastfreundschaft.

Bordeaux, 23. April

Gestern sah ich mir endlich den Film "Gainsbourg (une Vie héroique)" an, der diesen Winter in Frankreich herausgekommen ist. Aus den Kritiken, die ich gelesen hatte, schloß ich, dass der Film eher mißlungen war. Dennoch musste ich ihn unbedingt sehen, denn ich bin viele Jahre lang eine  unbedingte Anhängerin von Serge Gainsbourg gewesen. Er starb 1991, viele trauerten um ihn, auch ich. In Frankreich war er zu Lebzeiten bekannt wie kaum ein anderer, er wurde geliebt und gehasst. Im vergangenen Jahr gab es in Paris in der "Cité de la Musique" eine Ausstellung ihm zu Ehren, die große Besucherzahlen anlockte.

Gainsbourg war nicht nur Musiker (für die, die ihn nicht kennen), er war auch ein Dichter, wenn man sich die Texte seiner Lieder anschaut. Ich hatte 1989 ein Buch mit den Übersetzungen von 30 seiner Gedichte herausgegeben, es war zweisprachig gedruckt und ist vergriffen.

Es fällt mir noch immer schwer zu beschreiben, was mich an diesem Menschen - dem ich leibhaftig nie begegnet bin - so angezogen, so verzaubert hat. Aber es ist in solchen Fällen ja ein Trost, wenn man nicht allein mit seinen Gefühlen ist.

Gestern wurde also im Kino eine Biografie von Gainsbourg gezeigt, etwas idealisiert, aber nicht zu viel, und genau in dem Sinne, in dem ich so begeistert von dem Künstler war. Der Film erschütterte mich so sehr, dass ich nicht nur während der Vorstellung mehrmals in Tränen ausgebrochen bin, sondern auch Stunden danach noch nicht wieder richtig bei mir war. Oder so sehr, so tief bei mir, dass die Außenwelt bebte. Ich muss noch darüber nachdenken, was gestern mit mir geschehen ist. Oder damals, als ich nach Paris gefahren war, um ihn zu treffen, und dann schließlich nicht hingegangen bin, weil mich der Mut verlassen hatte. Er galt ja zu Lebzeiten als ein gewaltiger Provokateur, und erfahrenere Leute als ich waren ihm nicht gewachsen gewesen (was eine Ursache des Hasses war, den manche pflegten). Ich wusste, dass er sich auf diese Weise nur selber schützte, dass seine Grundhaltung die eines liebevollen Menschen war - aber ich sah mich nicht in diesem Spiegel von Öffentlichkeit, ich hatte Angst. Dies und vieles andere stieg mir gestern nach dem Film wieder ins Bewusstsein.

Bordeaux, 22. April

Gestern fuhr Frau Althaus mit mir nach Arcachon, das Wetter war auch mit uns; die Sonne schien, was das Zeug hielt. Wir brauchten ungefähr eine Stunde, ohne Staus wäre es vielleicht ein bisschen weniger gewesen.

Frau Althaus leitet in Bordeaux eine Schule für Deutsch-Unterricht, die Schule heißt "La clé de l'allemand". Früher war Frau Althaus beim Goethe-Institut angestellt; vor etwa fünf Jahren hat die deutsche Außenpolitik den Goethe-Instituten die Mittel zusammengestrichen. Wenn das Bordeleser Goethe-Institut überhaupt noch existiert, dann dank der Unterstützung durch die Universität in Bordeaux, natürlich auch dank der Hartnäckigkeit seiner Leiterin, Frau Bechstein, die sich mit Leib und Seele für ihr Institut einsetzt. Deutsch in Bordeaux - das war seit Jahrhunderten eine Selbstverständlichkeit. Frau Bechstein meint, dass Hölderlin, als er seine Stelle als Hauslehrer in Bordeaux antrat, Französisch nicht einmal gebraucht hätte, so verbreitet war hier das Deutsche.

Frau Althaus wurde jedenfalls entlassen, hat darauf ihre eigene Schule eröffnet, und mit Erfolg! Ich werde im Mai in einigen ihrer Deutschklassen als  "Stipendiatin aus Hessen" auftreten, dann erzähle ich hier mehr davon. Gestern zeigte sie mir einen herrlichen Fleck von Frankreich. Zuerst bestiegen wir die Düne von Pyla (so heißt sie richtig), die ungefähr 100 m hoch ist und die wandert. Weil Schulferien sind, bestiegen neben uns sehr viele Familien und Jugendgruppen die riesige Düne, von deren Gipfel man die ganze Bucht von Arcachon und ihren Ausgang zum Ozean hin überblicken kann. Anschließend setzten sich die meisten Gruppen unter die Kiefern und picknickten.

Ich hatte mir diesen Ausflug gewünscht, weil ich mir die "Wanderdüne" einfach nicht habe vorstellen können. Nun also machte ich mir ein Bild davon, ja, jetzt weiß ich, wie sie aussieht - aber erwarte nur niemand, dass ich versuche, ihren Anblick in Worte zu verwandeln! Sie besteht aus allerfeinstem reinen, hellblonden Sand, und alles fließt, wenn man hineintritt, oder wenn der Wind weht. Oben auf dem Kamm sah ich, wie sich im Wind eine etwa handbreite Sandstaubschicht durch die Luft bewegte. Die Düne zieht sich wohl einen Kilometer  lang oberhalb vom Strand hin, und auf der hinteren Seite erstreckt sich Kiefernwald bis zum Horizont.

Zum Essen fuhren wir nach Arcachon, einem Städtchen mit Hafen und mit Häusern von 1900 bis heute, für die Sommerfrischler, und auch einem herrlichen Strand. Hinter dem Strand eine Promenade, und am Rand der Promenade die Restaurants, eines würdiger als das andere. Was aß ich? Natürlich Austern. Die  wurden vor meinen Augen in der Bucht eingesammelt, von Fischerbooten zum Markt gefahren, und von dort direkt in die Küche und auf meinen Teller gebracht. So schmeckten sie auch: frisch!

Lange habe ich nicht mehr einen Tagesausflug so genossen wie gestern die Fahrt nach Arcachon: der Meeresgeruch! Und wie die kleinen Jungens am Strand Krebse fingen! Wie das Wasser so kühl um die Füße spielte!

Bordeaux, 21. April

Weil jetzt Ferien sind, wird vor der Schule die Straße aufgerissen. Freundlicherweise fangen sie erst um acht Uhr mit dem Lärm an. Ich konnte auf einer Bekanntmachung lesen - die am Schultor befestigt ist - dass die Wasserrohre von der Straße zu den Häusern noch aus Blei bestehen und nun ausgetauscht werden. Das geschieht auch schon in anderen Straßen der Umgebung. Ich bekomme die Arbeitsabläufe mit: die Mittagspause dauert mindestens eine Stunde, und die Männer reden so richtig kameradschaftlich miteinander. Man spürt nicht Hetze oder Unwillen, sie fühlen sich wohl, wo sie sind.

Bei ihrem Anblick fiel mir die Geschichte mit den Selbstmorden bei der französischen Telecom ein. Die hat deswegen sogar eine Klage am Halse. Eine junge Führungskraft - wohl der sprichwörtliche BWLer, für den nur der Profit gilt - hatte in die Betriebsstrukturen eingegriffen, Leute auf andere Arbeitsplätze verschoben,  quer durch Frankreich versetzt, ohne Rücksicht. Er hatte das gemacht, was die Deutschen gern "durchregieren" nennen  (das schöne Wort entstand, als alle merkten, dass das nicht geht). Es gab daraufhin gut dreißig Selbstmorde, mancher Verzweifelte hinterließ einen Brief, der die Ursache klar darstellte. Der forsche Manager und noch ein paar andere wurden inzwischen ihrerseits ersetzt, und der Prozess läuft. Geklagt wird auf Körperverletzung und Ähnliches.

Heute fährt Frau Althaus, Deutschlehrerin in Bordeaux, mit mir zur Wanderdüne von Pila an der Bucht von Arcachon. Ich freue mich riesig über das gastfreundliche Angebot und bin sehr gespannt.

Bordeaux, 19. April

Gestern entdeckte ich das "Entrepôt Lainé", ich entdeckte es wieder, wie mir dämmerte. Das alte Lagerhaus steht am Anfang des Viertels "Chartrons", aber  nicht am Quai, wie die meisten andern alten Lagerhäuser, sondern eine Straße landeinwärts. Es beherbergt heute das "Museum für zeitgenössische Kunst" und dort fand ich endlich die Ausstellung, über die in "Libération" vor etwa zwei Monaten so begeistert berichtet worden war, dass ich schon in Frankfurt neugierig  wurde.  Eine winzige "Dokumenta", mit mehr Raum, mit begrenzterem Spielfeld: ein Richtstrahl auf Konzeptkunst zwischen 1960 und 1990, ein Blick auf die jüngste Geschichte, aufs Private und Symbolische. Ganz viele Werke "ohne Titel", wobei die Hinweise so entfernt vom Werk angebracht waren, dass nicht klar hervorging, welches nun das Bild "ohne Titel" sei. Die Bezeichnung entsprach einmal einer Mode, die wollte, dass man die Wahrnehmung des Betrachters nicht vorbelaste. Ich durchwanderte mit Vergnügen die fast leeren Säle im obersten Stock des ehrwürdigen Hauses. Überall das blasse Beige der Ziegelsteine, überall hohe Bögen.

Mir ist eingefallen, dass ich vor etwa fünfunzwanzig Jahren  unten im Erdgeschoß eine Aufführung von Jannis Ritsos' "Agamemnon" gesehen habe, an die ich mich so eindringlich erinnere, weil seitlich Pferdekojen eingerichtet waren, wo Pferde gemütlich kauten, ihr Geschirr leise klirrte und das Stroh raschelte. Das aus Ziegelsteinen in sich auftürmenden Bögen gebaute Lagerhaus sollte damals den Palast des Königs Agamemnon darstellen; in dem Stück ging es, wenn ich  mich recht erinnere, um seine Heimkehr vom trojanischen Krieg. Gestern erblickte ich die verwirrende Bogenfolge zuerst wie eine Fata Morgana, um mich dann langsam heimisch zu fühlen. Ja, ich war schon mal hier! Es ist ein Bau von ergreifender Schönheit, und seine Nutzung als Museum für moderne Kunst geschieht mit Fingerspitzengefühl.

Im "Musée des Beaux Arts", ein Prunkbau des 19. Jahrhunderts hier oben in der Stadt, wusste man nichts über diese Ausstellung. Möglich aber auch, dass ich nicht verstanden habe, weil alle hier immer in Abkürzungen reden.

Wenn man mit der Straßenbahn zum "Entrepôt Lainé" fahren will, oder eben zum Museum für zeigenössische Kunst, dann muss man bei der Haltestelle "CAPC" aussteigen. Es sind nur ein paar Schritte bis dahin. Dort erfährt man, dass aus der Sammlung des "CAPC" und des "Frac" Aquitaine hier eine Ausstellung unter dem Titel "La vie saisie par l'art" zu sehen ist, "das Leben wie es von der Kunst erfasst wird".

Im ersten Stock befindet sich übrigens eine Architekturausstellung, wo sich gestern junge Leute in die Bilder und Kataloge vertieften, Architektur- und Kunststudenten, nehme ich an.

 

17. April, Fortsetzung

Wir wirklich kommen mir die Menschen vor? Eine seltsame Frage?

Ich wohne in einem bürgerlichen Viertel, wo die Leute nicht unbedingt reich sind, aber doch selbstbewusst, wahrscheinlich konservativ. Sie sehen niemanden an, den sie nicht kennen. Sie verfügen über eine verblüffende Disziplin der Blicke. Auch die Enge der Gassen, gar der Bürgersteige - oft nicht breit genug, dass ich mit prallen Einkaufstaschen durchkäme  - verführt meine Nachbarn nicht dazu, mir einen Blick zu schenken. Das gilt ebenso für die Küchenmädchen der gegenüberliegenden Schule, die für eine Zigarettenpause oft auf den sonnigen Platz hinausgehen, der vor meinem Haus angelegt wurde, mit einem jungen Baum und einer schönen hölzernen Bank. Die Bank wird genutzt, von jung und alt. Ich komme vorbei, oder ich schaue aus dem Fenster, oder ich stehe mal in der Tür, um auch die Sonne zu genießen - aber niemals guckt jemand in meine Richtung, keiner nimmt mich wahr oder würde gar grüßen.

Die gleiche Erfahrung mache ich mit den Halbwüchsigen, die sich dort zu gewissen Zeiten nach der Schule treffen. Sie lärmen, aber nicht zu sehr, und immer verständlich - gestern sangen und tanzten sie eine Stunde lang, dann verschwanden sie. Gestern war letzter Schultag. Gewöhnlich kommen morgens zwischen acht und neun die Autos, um die Kinder abzusetzen, ganz wenige bringen ihre Kinder auch zu Fuß zur Schule - hier lässt man kein Kind unter acht oder neun allein zur Schule gehen  - und das bringt gelegentliche Unruhe in das Viertel. Die Straßen sind eng und jedes Geräusch produziert gewissermassen sein eigenes Echo. Mit den Ohren kann ich also schon gut verfolgen, was unten vorgeht. Doch gestern morgen, als die Ferien anfingen, hörte ich mehr, hörte ich Gespräche. Als ich hinausging, sah ich: Eltern, die fröhlich mit einander redeten, ganz ohne die sonst übliche Eile, Kinder, die miteinander spielten. Später die größeren Kinder, vielleicht zwölf oder vierzehn. Sie legten ihre Schulsachen auf dem Platz ab, setzten sich im Kreis auf den Boden und lachten und scherzten. Mir war es trotz aller Anonymität ein Vergnügen, sie zu hören.

Ich werde herauszufinden versuchen, was für Kindergärten und Schulen hier in meiner Nachbarschaft angesiedelt sind. Wenn ich mehr weiß, erzähle ich ein wenig über das französische Schulwesen!

Bordeaux, 17. April

Seit vierzehn Tagen bin ich nun hier. Ich gucke überhaupt nicht fern, und das hat zur Folge, dass ich alles, was ich sehe, auch anfassen kann, oder könnte. Alles ist wirklich. Die Steine, ob schwarz oder blond, die Menschen, die Kinder ...

Bordeaux, das klassische Bordeau, ist aus Sandstein gebaut, der mit der Zeit pechschwarz geworden war, sei es durch  den Salzgehalt in der Luft, sei es  durch sonstige Verschmutzung. Der regierende Bürgermeister Alain Juppé hat dafür gesorgt, so berichtete mir die Leiterin des Goethe-Instituts,  dass die Häuser mit Sandstrahl gesäubert wurden, und nun schimmern sie wieder in leuchtendem Blond. Die Arbeiten sind noch im Gange, erst dieser Tage wurden zum Beispiel die Gerüste von einem Portal der Kathedrale St. André entfernt, natürlich in Anwesenheit der Honoratioren, und alle konnten sich von der hohen Qualität der gotischen Figuren überzeugen! Diese waren nämlich zu früheren Zeiten mit Gips oder irgendwas überzogen worden, so dass man sie gar nicht mehr erkennen konnte, was sie aber immerhin vor der Zerstörungswut der Revolutionäre bewahrt hatte. Der gotische Chor der Kathedrale verbirgt sich nach wie vor hinter schwarzen Mauern. Auch andere, private Häuser wurden noch nicht gesäubert; in der langen Häuserreihe der Quais sieht man gelegentlich ein Stück Fassade, nur eine Fensterachse breit, noch völlig dunkel, wie zurückgeblieben.

Ich fuhr mit der Straßenbahn zur Endstation "Bassins à flot", neugierig. Mehrere Stationen lang ging es an alten Lagerhäusern entlang, die heute einem neuen Zweck gewidmet sind: sie dienen als Geschäfte, Restaurants, Kulturzentren. Doch am Ende: eine Hafeneinfahrt mit mehreren Schleusen hinter- und nebeneinander, öde, verdreckt, zum Teil verlassen. Wahrscheinlich erlebte ich gerade "Ebbe", ich muss noch mal zu einer andern Zeit hinfahren. Hinter der zweiten Schleusenreihe: zwei alte Hafenbecken, jedoch fast ohne Schiffe. Ein rostendes Riesenwrack unterstrich, wie vergangen die Vergangenheit ist. Später las ich in der Zeitung, dass rund um die zwei Hafenbecken herum über fünftausend Wohnungen entstehen sollen, es ist geplant, eine richtige neue Stadt dort zu bauen, in der das Wasser zum allgemeinen Vergnügen beitragen kann. Dies ist ja von der Garonne nur bedingt zu sagen, sie lässt sich kaum kontrollieren, gewiss schwerer als zwei feste Becken hinter mehreren Schleusen.

 

Bordeaux, 13. April

Immer noch viel zu kalt. Letzten Samstag, ja, da kam der Sommer, die Wärme, la douceur - doch sie hielt nur einen Tag.

Aber ich bin hier nicht in der Sommerfrische.

Am Wochenende fand in Bordeaux "L'escale du Livre" statt, eine Art Mini-Buchmesse der Gironde.

("Aquitanien" heißt die Region, die aus vier Départements besteht; das Département, in dem Bordeaux liegt, heißt "Gironde", und mit "Gironde" bezeichnet man die letzten 70 km des gemeinsamen Flusslaufs von Garonne und Dordogne bis zum Atlantischen Ozean.)

Obwohl ich wegen einer Gastroenteritis nicht in bester Form war, wollte ich doch die Gelegenheiten dieses Bücherfestes nicht verpassen, und einige solcher Gelegenheiten konnte ich tatsächlich wahrnehmen. Ich kam mit einem halben Dutzend Bücher nachhause. Es ist ja etwas anderes, wenn man sie einfach in der Buchhandlung ersteht, als wenn man eine halbe Stunde dem Autor gegenübersitzt, ihm oder ihr Fragen  stellen kann, seine oder ihre Antworten auf die Fragen der andern hört usw. All die Subtilitäten der Vorstellung durch den Moderator, der Stimmen, der Ausstrahlung. Ich komme vielleicht noch einmal zurück auf einzelne Autoren und ihre  Bücher, sie beschäftigen mich.

Wichtiger waren die Momente, in denen ich den Mut aufbrachte, mich selbst vorzustellen ("je suis la résidente de l'ecla à Bordeaux" war eine Ausdrucksweise, mit der mein Gegenüber was anfangen konnte), und ich bemerkte jedesmal, dass der oder die Angesprochene sofort einen Reflex der Gastfreundschaft entwickelte und weiteren Kontakt in Aussicht stellte. Bisher hat sich daraus konkret noch nichts ergeben, ich bin gespannt. Ohnehin will Ecla selbst mir ja auch Kontakte eröffnen. Das braucht man, wenn man nicht ständig am Telefon hängen und mit zuhause telefonieren will.

Ich möchte mein Französisch wieder in Gang bringen. Zwar verstehe ich alles, und im Alltag kann ich mich ohne Schwierigkeiten bewegen, doch wenn es um etwas komplexere Gesprächsthemen geht, dann gerate ich ins Stottern, was mir peinlich ist. Wo doch die Leute des Buchgewerbes mehr noch als alle andern in die Eleganz des Französischen gekleidet sind wie in ein immer neues, schimmerndes Gewand aus Seide oder Wolle oder einem Gemisch daraus. "L'esprit", hier begegnet er mir, lebendig, mutig, heiter. Vielleicht gelingt es mir noch, auch in diesen Spalten verständlich zu machen, was Esprit bedeutet. Eine Lebensart, eine Kunst, ein Leben im Staunen, im Lächeln, in der Wahrhaftigkeit und der Umschreibung.

Ich lese gerade ein Buch mit dem Titel "Die Einsamkeit der weißen Blume". Auf Deutsch würde man dahinter einen Groschenheft-Roman vermuten, unerträglich vor Kitsch. Auf Französisch - "La solitude de la fleur blanche" - erwartet man ganz ironiefrei viel Symbolik, Schönheit und Melancholie. Und findet sie auch. Die Verfasserin heißt Annelise Roux.

 

Bordeaux, den 10. April

Genau eine Woche bewohne ich nun schon dieses Häuschen hinter der uralten Kirche - zur Straße hin, wo die Fenster sind, schätze ich die Dicke der Mauern auf fast einen Meter, und daraus läßt sich doch schließen, das es mehr als ein oder zwei Jahrhunderte auf dem Buckel hat, das Haus! In Bezug auf moderne Einrichtungen läßt es aber nichts Wesentliches zu wünschen übrig, man kann heizen, es läuft heißes Wasser aus dem Kran, in Küche und Bad finde ich alles Notwendige. Die nächsten Bushaltestellen sind nur fünf Minuten Fußweg entfernt, in zehn Minuten erreiche ich auch die Straßenbahn.

Die Straßenbahn ist noch immer ein Ereignis in Bordeaux, das merkt man daran, dass die Kinder mit den Türenschließ-Mechanismen spielen, so dass die Bahn nicht abfahren kann. Als ich eine solche Szene gestern beobachtete, stellte ich aber auch fest, dass der Fahrer nach dem dritten, vierten Versuch durchgreifen konnte. Und das verspielte Kind wurde von Gleichaltrigen solange getadelt, bis es das erloschene Gesicht einer Verliererin bekam. Des ungeachtet küssten es die Freundinnen bei der nächsten Station herzlich zum Abschied, und sein Gesicht hellte sich wieder auf.

Rein technisch dürfte diese Bahn auf der Höhe des Fortschritts stehen, SOLCHE raumfahrtbahnhofmäßigen Trams habe ich noch nirgendwo angetroffen. Sie fährt, wenn ich recht verstanden habe, seit Februar 2010. Die Stadt verteilt aufwendige Pläne über die Routen, Fahrpläne und Tarife, deren Übersichtlichkeit für mich erstmal nicht ausreichte, weil sie die Kenntnis der Stadt voraussetzten. Aber so langsam gewöhne ich mich ein. Welch eine Fahrt unten am Quai entlang! die Bordelaisische Silhouette zur Garonne hin ist mehrere Kilometer lang und von immer neuer Schönheit.

Ich habe auch schon Veranstaltungen besucht; weil aber gerade jetzt bald wieder eine beginnt, wo ich hinmöchte - es findet an diesem Wochenende eine kleine Buchmesse statt -, erzähle ich darüber beim nächsten Mal.

Bordeaux, 8. April

Zur Erläuterung:

für zwei Monate wohne ich als Stipendiatin der aquitanischen Organisation "écrire - cinéma - livres - audiovisuel", kurz "ecla", in einem alten Haus hinter der Kirche St. Seurin, am Rande der Altstadt von Bordeaux. Das Arrangement hat mit der Partnerschaft zwischen dem Land Hessen und der Region Aquitanien zu tun. Ein übers andere Jahr - nein, in Wirklichkeit jedes Jahr - kehrt ein hessischer Autor oder eine Autorin hier ein, und danach ein aquitanischer Kollege oder Kollegin in Wiesbaden, in der Villa Clementine. Das läuft schon seit gut zehn Jahren so bzw. über zwanzig für Aquitanien -, und dieses Jahr bin ich die Auserwählte.

Ich hatte mich beworben, denn ich wollte mich gern in der französischen Provinz umsehen. Paris kenne ich inzwischen gut, ja, es hat in den letzten Jahren an Charme für mich verloren: seine unsägliche Enge, die Hektik, die Bettler einerseits, andererseits das Theater meistens zum Einschlafen. Ich war zuletzt über Weihnachten dort, und in der Zeit gab es praktisch überhaupt kein anpruchsvolles Programm mehr: Opéra Bastille geschlossen,  Opéra Versailles geschlossen (ja, die wurde vor einem Jahr eröffnet, als Kick für die Superreichen) und auch in den Theatern nur flacher Boulevard.  Früher fand ich in Paris immer etwas Interessantes, egal zu welcher Jahreszeit. Jetzt langweile ich mich manchmal. Als ich jung war, brachte ich den Strahlenkranz mit, unter dem Paris mich bezauberte, und davon habe ich lange gezehrt.

Letzten Donnerstag kam ich mit diesen Gedanken mal wieder nach Paris. Und was entdeckte ich in der Metro? Eine Lebendigkeit in allen Körpern, eine Heiterkeit auf allen Gesichtern, oder doch den meisten, eine Stimmung: good vibrations. Eine Kraft, ein Behauptungswille - man muss einräumen, dass einem vor allem junge Menschen begegnen, besonders in der Metro. Für Gebrechliche ist wenig Platz in Paris, mit seinen endlosen Treppen.

Am Samstag morgen um acht nahm ich den Zug nach Bordeaux, ich war schon kurz nach sieben am Bahnhof Mont Parnasse und wollte frühstücken. Einen Milchkaffee, einen Croissant und ein Pain au Chocolat balancierte ich auf einem Tablett zum nächstgelegenen Tischchen und ließ mich nieder. Zwei Tischchen weiter saß ein alter Mann und blickte mich an. Einen solchen Blick habe ich lange nicht mehr gesehen: er sprach von Hunger. Ncht wütend, nicht gierig, nicht mal aufdringlich - nur hungrig. Ich spürte den Hunger in meinem Magen, und ohne ein Wort reichte ich ihm meinen Crosissant hinüber, und er ergriff ihn. Aus den Augenwinkeln  sah ich ihn bedächtig kauen. Als wir beide mit Essen fertig waren, rutschte er näher, bedankte sich förmlich. Dann fragte er, ob er mir nicht meine Koffer zum Bahnsteig befördern könne, dass er ein bisschen Geld .... Er sprach undeutlich, ich war nicht sicher, ihn richtig verstanden zu haben - und was schwerer wog: ich reiste allein, unausgeschlafen, an einen unbekannten Ort und durfte vor allem nichts falsch machen. So lächelte ich ihn an und sagte: "Merci." Darauf ging er fort.

Ich behielt ein schlechtes Gewissen.

 

Bordeaux, den 7. April

Ausonius hieß ein Dichter des 4. Jahrhunderts, er schrieb  lateinisch und verbrachte 20 Jahre in Trier. Danach kehrte er in seine Heimatstadt Bordeaux zurück ("Burdigala" hieß sie damals) und verfaßte ein Lob auf sie:


(Gegrüßt seist du), "oh meine Heimat! Berühmt bist du für deine Weine, deine Flüsse, deine großen Männer, für die Traditionen und den Charakter deiner Einwohner und für den Adel deines Senats.
In Bordeaux bin ich geboren, in Bordeaux, wo sich die Güte eines milden Himmels mit dem großmütigen Entgegenkommen eines wasserreichen Landes verbindet, wo der Frühling lang ist und der Winter von der zurückkehrenden Sonne abgekürzt wird, wo sich Flüsse am Fuße überquellender Weinberge wild in die Strömungen stürzen und so das Brodeln des Meerwassers nachahmen.
Quadratisch präsentieren sich deine Wehrmauern, bestückt mit so hohen Türmen, dass ihre Spitzen bis an die Wolken reichen. Drinnen bewundert man die gut angelegten Straßen, die Aufreihung der Häuser und die weiten, ihres Namens würdigen Plätze, schließlich auch die Tore, die genau den Straßenkreuzungen entsprechen.
In der Mitte der Stadt das Bett eines Flusses, der von Quellen genährt wird, und man sieht, wenn der verehrungswürdige Ozean ihn mit der Flut seiner Wellen füllt, wie er mit all seinen Flotten einem richtigen Meere gleicht.
Braucht man denn noch an jenen Brunnen zu erinnern, der mit Marmor aus Paros bedeckt ist und brodelt wie der Euripos? Wieviel Wasser birgt er in seinen Tiefen? Welche Strudel in seinen Strömen! Wie ergießen sich doch so breite und rasche Wassermengen, ohne dass sich seine zweimal sechs Stutzen am Rande des Brunnen jemals leeren für die unzähligen Bedürfnisse der Bevölkerung!“

Das habe ich aus dem Französischen übersetzt, so wie ich es im "Musée d'Aquitaine" abgeschrieben habe. Vier Tage bin ich nun schon hier, lebe als Gast von "ecla" ( einer Vereingung zur Förderung von Schreiben, Film- und Buchwesen sowie Audiovisuellem) in einem alten Häuschen hinter der Kirche St. Seurin. Zu meinem ersten Eindruck - Bordeaux war schon immer eine Handelsstadt - passt die Lobpreisung des Ausonius. Er war außerordentlich gebildet, ein Lehrer, aber ich denke, am meisten verdiente er mit Lobpreisungen. Auch ich musste unterschreiben, dass ich bei allem, was ich hier im Haus verfasse, den Namen "ecla" einfüge.

 

 

 

II. Ich habe nachgeguckt, bei Wikipedia: "schon in der Antike war die griechische Insel Paros berühmt für ihren strahlend weißen Marmor" und im Griechenland-Lexikon: "der Euripos ist die schmalste Meerenge der Welt. Bis zu zwanzigmal am Tag durchströmt das Meerwasser diesen engen Kanal in wechselnder Richtung mit der Gewalt eines Gebirgsbaches." Der Ausonius war wirklich sehr beschlagen und zeigte es.

 

Bordeaux liegt rund hundert Kilometer vom Atlantik entfernt. Der Fluss Garonne bildet unterhalb von Bordeaux zusammen mit dem Fluss Dordogne eine Trichter-Mündung, genannt "Gironde". Die Gezeiten des Ozeans seien manchmal bis hierher spürbar, wurde mir berichtet. Wenn ich Ausonius lese, denke ich, dass die Übersee-Schiffe immer mit der Flut nach Bordeaux hineinkamen.