2008

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Mit dem Blick der Gleichberechtigung

Erschienen in "kulturissimo" (Luxemburg) am 9. Oktober 2008


Lernen junge Luxemburger heutzutage die Karte Afrikas genauso gut kennen wie die Karte Amerikas? Oder Asiens? (In meiner Jugend lernte man die Karte Afrikas nicht.)
Wenn ja, dann wissen sie, wo die Demokratische Republik Kongo liegt: südlich der Sahara und zu einem Viertel nördlich des Äquators, zu drei Vierteln südlich davon. „Kongo“ heißt auch der Fluß, der das Land in einem großen Bogen durchzieht und in seinem letzten Teil die Grenze zu einem andern Land namens Kongo bildet: zu Kongo-Brazzaville oder Republik Kongo, einer ehemals französischen Kolonie.
„Kongo-Kinshasa“ ist heute als Demokratische Republik Kongo bekannt. Zwischen 1974 und 1997 hieß derselbe Staat „Zaïre“. Kinshasa nannte man anfangs „Leopoldville“ nach seinem Besitzer, König Leopold II. von Belgien. Dieser König erhielt 1885 das Land zu seiner persönlichen Verfügung, er nannte es den „Unabhängigen Staat Kongo“, „État Indépendant du Congo“, EIC. Selbst ist der König nie dort gewesen, er vergab Privilegien für Handelsleute, die erst mit Elfenbein, dann vor allem mit Kautschuk handelten, und an die Kirchen, die missionieren sollten. Der Schriftsteller Joseph Conrad hat um 1890 eine kurze Zeit lang als Kapitän auf einem Kongodampfer gearbeitet und später darauf seine Erzählung „Heart of Darkness“ aufgebaut. Die Abenteurer, die im Staate Kongo nach ihrem Profit und dem ihrer Auftraggeber suchten, führten eine so ungeheuerliche Mißwirtschaft ein, weltweit als „Kongogreuel“ bekannt („les atrocités du Congo“), dass der König auf internationalen Druck hin das ganze Gebiet  schließlich an den belgischen Staat abgeben  mußte – er verkaufte es für 95,5 Millionen belgische Francs. Mit einem Federstrich verwandelte sich 1908 der „Unabhängige Staat“ in eine Kolonie. Freilich wurden die Menschen, die dort lebten, nicht nach ihrer Meinung gefragt.
Es sollte noch weitere fast fünfzig Jahre dauern, ehe die Meinung der Kongolesen irgendeine Rolle zu spielen begann. 1960 erlangte der Kongo seine Unabhängigkeit, ohne dass seine Bewohner darauf vorbereitet waren. Die belgischen Missionare hatten streng darüber gewacht, dass der Bildungsstand von Menschen mit schwarzer Haut niedrig blieb, da sie ohnehin nur subalterne Tätigkeiten zugeteilt bekamen.
So begann die Unabhängigkeit mit einer Reihe von Katastrophen und schon ein halbes Jahr nach den ersten demokratischen Wahlen wurde der Ministerpräsident Patrice Lumumba ermordet: von  rivalisierenden Landsleuten mit belgischer, amerikanischer und weiterer westlichen Unterstützung massakriert, sein Leichnam in Säure aufgelöst, damit kein Märtyrergrab entstehe. Es gibt einen Film aus den 90er Jahren, in dem ein pensionierter belgischer Armeeangehöriger stolz und schamlos ein paar Zähne vorzeigt, die er sich bei der Gelegenheit als Andenken an Lumumba heimlich in die Tasche gesteckt hatte.
Was ist seither aus diesem Land geworden, das gewaltige Bodenschätze – Gold, Diamanten, Kupfer, Koltran, Zinn usw. - besitzt?
Der  taz-Journalist Dominic Johnson hat im April 2008 ein Buch veröffentlicht, das sorgfältig recherchiert ist und genaue Antworten auf die Frage gibt. Nicht weniger als 23 mal hat er selbst den Kongo besucht, weltweit reichen seine Kontakte. Er beginnt mit der Geschichte des Landes, lange vor der Kolonisierung, stellt chronologisch die Ereignisse dar und setzt in seinem Bericht eine große Zäsur im Jahr 1997: in jenem Jahr begann ein Krieg, der bis heute andauert. „Kriege und Krisen im Kongo sind nicht weniger rational als anderswo auf der Welt, und sie sind auch nicht komplizierter“, erläutert Johnson gleich zu Anfang und lehnt jede Mystifizierung ab. Sorgfältig verfolgt er anhand der jeweils aktuellen Nachrichten und mit Hilfe seiner persönlichen Erfahrungen, was wann wem nützt in diesem Krieg, der heute in Ostkongo geführt wird. Er hat recherchiert, warum gerade hier im Osten die Menschen einen rebellischen Geist entwickelt haben, und er forscht nach, welche Kräfte von außerhalb – Ruanda und Südafrika, der Westen und China – sich einmischen und Vorteile erringen wollen, mit Gewalt oder Geld. Er weiß auch aus Erfahrung, wie stark der nationale Zusammenhalt des Kongo belastbar ist, dieses Riesenreiches von der Größe Westeuropas. Ihm ist bewußt, dass die Kirchen dort heute ein Stabilitätsfaktor geworden sind.
Johnson spekuliert nicht, räumt Vorurteile aus und nimmt seine Leser mit auf die Wege von Warlords, Milizen und humanitärer Hilfe, von Friedensvertrag und Wahlkampf, von Kabila zu Kabila. Statt der 13 Millionen Einwohner zur Zeit der Unabhängigkeit leben heute 60 Millionen Kongolesen dort. Sie überleben, sie organisieren sich unterhalb der Staatlichkeit.  Von einem gewissen Standpunkt aus herrscht ungehemmte Korruption; für diejenigen, die von der Korruption nichts mitbekommen, gilt: Schattenwirtschaft und immer auf alles gefaßt sein. Während sich in abgeschiedenen ländlichen Gebieten der Hunger ausbreitet – mancherorts bis zu 30% schwerer Unterernährung – drängeln sich in der Hauptstadt Kinshasa acht bis zehn Millionen Menschen, oft in schlechten Hütten. Johnson beschreibt einen informellen Kleinhandel zwischen Dörfern und den Märkten der Großstadt, der sich oft in den Händen von Frauen befinde und ein Mindestmaß von verläßlicher Versorgung ermögliche. Privates Kapital bewirke oft mehr als die Entwicklungshilfe. Ein Beispiel: die Ausbreitung der Mobiltelefone auch in entlegene Kleinstädte. Andererseits könnte Kongo von seinen landwirtschaftlich nutzbaren Flächen her ungefähr soviel produzieren wie die EU, doch werden nur etwa 10% der Flächen bebaut. Warum? Die Steuern auf die lokale Agrarproduktion sind zu hoch. Importe kommen billiger.
Das Buch enthält einen mehrteiligen Anhang mit Endnoten, einem historischen Überblick, einer Personenbeschreibung, einem Abkürzungsverzeichnis und einem Namens- und Sachregister. Für Menschen, die mit Afrika zu tun haben oder sich für seine Menschen interessieren, ist Johnsons Werk unverzichtbar. Allen anderen kann es den Horizont erweitern.
Es ist im Verlag Brandes & Apsel erschienen, der sich seit langem u.a. auf das Thema Afrika spezialisiert hat. Kürzlich erschien dort auch „Verborgenes Afrika“, ein Band, der Aufschluß über den „Alltag jenseits von Klischees“ verspricht. Leider bleiben die Autoren dieses Bandes in antimodernistischer Polemik stecken („Die Nahrungskette ..... kettet die Menschen an vorfabrizierten Fraß“), kommen über paternalistisches Wohlwollen („muß man staunen über die Geschicklichkeit und Phantasie, mit der aus dem Nichts Unterkünfte geschaffen... werden“) selten hinaus und wechseln zwischen Predigtton und Bürokratensprache. Umso größer das Verdienst von Dominic Johnson, ein Afrikabuch auf der Ebene des gleichberechtigten Blickes zustande gebracht zu haben.

„Kongo : Kriege, Korruption und die Kunst des Überlebens“ von Dominic Johnson; Verlag Brandes & Apsel, 2008, Frankfurt am Main

Leserbrief:

an "d'Letzebuerger Land" (erschienen am 31. Oktober 2008)


Ins Blaue zielen statt ins Schwarze

Das Schreiben über die Frankfurter Buchmesse in ihrer Vielfalt von Perspektiven stellt immer wieder eine Herausforderung dar, und der Schreiber muss wählen, muss sich dies und das herauspicken. Claude Reiles (LL 43 vom 24.10.08) hat das elegant bewältigt – nur einen schwergewichtigen Punkt hat er völlig ausgelassen: den Luxemburger Stand. Ich durchsuchte die Zeitung: hatte sich jemand anders mit diesem Thema befasst? Tatsächlich. Rewenig. Und so las ich, zum erstenmal seit Jahren, wieder Rewenig. Es hat sich aber nichts geändert: da werden Leute verspottet, die sich nicht wehren können, und Schlußfolgerungen gezogen, die ins Blaue zielen statt ins Schwarze.
Rewenig war nicht in Frankfurt. Er interessiert sich auch nicht für den Gemeinschaftsstand der Luxemburger Verleger. Er kommentiert nur einen Zeitungs-Artikel über ein Ereignis, das an diesem Stand  stattfand, nämlich eine öffentliche Rundtisch-Diskussion mit dem Thema „Lesen in Luxemburg: Bücher als Mittel zur Integration“. Beteiligt daran waren die Autorin Linda Graf, der Autor Nico Helminger, die CNL-Direktorin Germaine Goetzinger und der Buchhändler J.-P. Ternes. Die Diskussion leitete die tageblatt-Redakteurin Heike Bucher. Sie berichtete anschließend im tageblatt darüber. „Integration“ wurde bei der Diskussion nicht definiert. Die Runde einigte sich letztlich darauf, dass luxemburgische Autoren mehr Leser brauchen, und das nicht nur unter den Migranten (dem sprichwörtlichen Portugiesen). Warum befasste sich niemand sonst mit dem Ereignis, überließ alles der Moderatorin, der es möglicherweise jetzt leid tut, dass sie sich auf diesen Auftritt überhaupt eingelassen hat?
Der luxemburgische Gemeinschaftsstand bemühte sich mit dieser Veranstaltung um Lebendigkeit, um Teilhabe am Zeitgemäßen. Worum es aber eigentlich geht, um die Identität – wer bin ich, mit wem will ich kommunizieren, mit welchen Mitteln erreiche ich das und wer bestimmt darüber mit welchen Argumenten? – also um die Darstellung des Großherzogtums auf dem Weltmarkt der Bücher, um Transparenz, all diese Fragen kamen nicht zur Sprache. Als ich fragte, warum nicht alle luxemburgischen Verleger hier ausstellten, erhielt ich zur Antwort: „Jeder ist eingeladen mitzuarbeiten.“ Daraus darf man folgern, dass es Streit gibt. Wer bemüht sich, den Streit zu schlichten?
In Luxemburg leben und schreiben grossartige Autoren und Journalisten. Sie repräsentieren die verschiedensten Weltsichten. Doch als ich nach dem Zweck der Bemühungen auf dem Buchmessenstand fragte, hörte ich: wir wollen zeigen, dass es Luxemburg auf der Landkarte gibt.
Ich wünschte mir die volle Vielfalt der Perspektiven am Luxemburger Stand UND echte Streitgespräche! Natürlich mit Respekt vor dem Andern im eigenen Lande.

Barbara Höhfeld



Ist "Vernichtung" das richtige Wort?


In „kulturissimo“ Nr. 63 vom 20. Dezember 2007 forderte Prof. Wolfgang Frindte:  „Der Antisemitismus muss als Ideologie und als Vorurteil vernichtet werden“. Wie stellt sich  Prof. Frindte die  „Vernichtung“ einer Ideologie vor?  Wie soll man erfolgreich aus der Palette unzähliger Vorurteile einen einzigen Begriff endgültig entfernen? Werden Vorurteile nicht wesentlich von Gefühlen getragen?

Ausgangspunkt des Interviews war ein Buch von Prof. Frindte, das 2005 erschienen ist, das den Titel „Inszenierter Antisemitismus - eine Streitschrift“ trägt und das sich auf Deutschland bezieht. Diese Einzelheiten – Inhalt und Zweck des Buches, sein Bezug auf Deutschland – sind  im Interview gar nicht oder undeutlich dargestellt worden. So steht im Übertitel „Rechtsextremismus in Europa – Prof. Frindt im Gespräch“; und die erste Frage bezieht sich nicht auf den Buchinhalt, sondern auf einen „Streit“. Eine Streitschrift ist Teil eines Streits, sie sucht möglicherweise einen Streit, aber sie IST  nicht der Streit. Zum Streit gehören zwei. Nach Duden ist eine „Streitschrift“ eine Schrift, in der, auch polemisch, gewisse Fragen behandelt werden. Auf die kulturissimo-Frage: „Worum ging „der Streit“ ?“ und auch auf den gesamten vier Seiten des Gesprächs kommt  immer nur eine Seite zu Wort.

Nun stellt sich jedoch das ganze Interview wie eine Behandlung von Fakten dar und nicht als Polemik. Das Polemische liegt in der Auswahl der Fakten. Deutschland hat über 80 Millionen Einwohner, und  viele davon äußern irgendwelche Meinungen.  Daraus kann man auswählen, daraus lassen sich die verschiedensten Gesamtbilder zeichnen. Und so zeichnet Frindt ein antisemitisches Deutschland. Vielleicht ertmuntern ihn auch die Fragen dazu. Es sind  Fragen, die von Vorurteilen ausgehen. Wer möchte von sich behaupten, frei von Vorurteilen zu sein? Ich  nicht.

Was mich stört, ist das Wort „vernichten“ in diesem Zusammenhang. Der Duden erklärt „vernichten“ mit „völlig zerstören, gänzlich zunichte machen“. Eine Ideologie, also etwas, das nur in Köpfen existiert, das keine Sache ist, die man völlig zerstören könnte wie ein Gebäude etwa, ein solches Gedankenkonstrukt kann man nie ungeschehen machen.  Es ist ein geschichtliches Phänomen, das analysiert und ad absurdum geführt werden kann, aber nicht „vernichtet“. Was also ist es, das Professor Frindt eigentlich fordert?

Die „andere“ Seite in diesem Streit, wer könnte das sein?  Ein nichtjüdicher Deutscher, der behauptet, in diesem Land gebe es keine Antisemiten?? Den wird niemand finden. Es gibt sie. Genau wie in allen andern Ländern auch. In viel größerer Zahl jedoch gibt es in Deutschland und anderswo Menschen, die keine Antisemiten sind, die Antisemitismus verabscheuen. Wie wären sie zu gewinnen für den Kampf gegen Vorurteile, Unwissen  und nicht bewußte Gefühle? Zufällig las ich eben ein Interview mit der Leiterin des Europäischen Informationsbüros in Lubljana, in Slowenien. Nach ihrem Arbeitsziel gefragt, antwortet sie: „When I was working for television, I learnt that no general audience exists. Only specific target audiences do. You have to shape your actions accordingly.“

Professor Frindte ist Wissenschaftler, Professor der Sozialpsychologie und wird darüber bescheid wissen, wie man ein bestimmtes Wissen in die Köpfe der Menschen transportiert. Mit dem Interview in kulturissimo werden nach meiner Meinung nur Vorurteile bestätigt, kein neues Wissen begründet.  


Erschienen in "kulturissimo" (Luxemburg) im Februar 2008

Eine kurze Geschichte

Ist die deutsche Literaturgeschichte eine Erfindung?

„Die kurze Geschichte der deutschen Literatur ist so kurz, dass ihrem Leser Zeit bleibt, sich wieder der deutschen Literatur zuzuwenden, der dieses Buch sein Dasein verdankt.“  Mit diesem Satz beendete Heinz Schlaffer, renommierter Literaturkritiker in führenden deutschen Feuilletons, seine schon 2003 erschienene, aber 2007 noch mal als Taschenbuch herausgebrachte „Kurze Geschichte der deutschen Literatur“.
Der Lebenszweck eines Literaturkritikers besteht zweifellos darin, seine Leser zur Lektüre anderer Autoren hinzuleiten. Muß er sich aber, wenn er nun schon mal selbst ein Buch geschrieben hat, unbedingt kurz fassen?
Nun, die Kürze ist nicht nur ein Ausdruck seiner Bescheidenheit. Sie führt schnurstracks zum Thema, zu seiner These. Heinz Schlaffer hält die übliche „deutsche Literaturgeschichte“ vom Mittelalter bis zur Neuzeit für eine Erfindung von nationalistisch gesinnten Germanisten des 19. Jahrhunderts. Wer liest denn Walter von der Vogelweide? fragt er, oder Oskar von Wolkenstein? Niemand. Erstens, weil man sie nicht versteht, sie schreiben in einer fremden Sprache. Zweitens, weil ihre Kunst aus einer anderen Kultur stammt. Schlaffer vergleicht diese Heroen der mittelalterlichen Epochen mit Dante (13. Jhdt), der heute verstanden werden kann und der gelesen wird, mit Molière (17.Jhdt), der in heutigen Theatern gespielt wird. Dergleichen Klassisches hat Deutschland nicht aufzuweisen, und Schlaffer legt auch dar, warum das so ist. Die wahre „deutsche“ Literatur läßt er um 1750 mit Lessing und Klopstock (und Gottsched) beginnen; es folgen Wieland, Goethe usw.  All die herausragenden Autoren ab etwa 1750 gehören nach Schlaffer in die Rubrik „Romantik“. Den Begriff „Klassik“ hätten die national denkenden Germanisten im 19. Jhdt. nur deswegen eingeführt, weil sie mit England, Frankreich, Italien auf einer Ebene stehen wollten, sie brauchten „Klassik“, um zu verschleiern, wie spät sich die Literatur in Deutschland entwickelt hatte.
Schlaffer zeigt ausführlich die Bedeutung des Protestantismus für die deutsche Literatur, spricht von „weggelaufenen Pfarrerssöhnen“, die die Kunst an die Stelle von Religion setzten. Im Gegensatz zu Safranskis derzeit populärem Wälzer über „Romantik“ schreibt Schlaffer nüchtern, kritisch und literaturgerecht. Er untersucht die Verhältnisse von vielen Seiten, begnügt sich jedoch nicht mit Aufzählungen von Namen und Eigenschaften wie Safranski, sondern faßt zusammen, deckt Zusammenhänge auf, erlaubt einen neuen Blick auf eine alte Gemarkung.
Und wie bin ich auf Schlaffers kurze Literaturgeschichte gestoßen?
Im Jahre 2007 veröffentlichte er „Das entfesselte Wort“, eine Untersuchung über Nietzsches Stil, deren Rezension mich neugierig machte. Tatsächlich fand ich in dem Buch, was ich suchte: eine unerwartete, eine völlig überraschende neue Einordnung von Nietzsches Person und seinen Werken in die Literatur, in die Philosophie – die beiden waren in Deutschland oft schwer zu trennen – und in die deutsche Geschichte. Schlaffer geht geradezu wissenschaftlich vor in seiner Beschreibung von Nietzsches stilistischen Tricks, so dass man ihm glaubt, so dass man ihm folgt, auch noch, wenn er selbst fast lyrisch wird und erst recht am Schluß, wenn er seine Leser zum „Antistil“ jener deutschen Autoren führt, die sich von Nietzsches Selbstüberhebung und Irrationalität haben befreien können. Brecht zum Beispiel. Schlaffers Brecht-Zitat werde ich hier verschweigen, denn seine ganze Wucht entfaltet es erst, wenn man vorher das „entfesselte Wort“ Nietzsches in seinem vollen Umfang begriffen hat, wenn man Schlaffers Buch für eine Weile verfallen war.  
Erst danach wandte ich mich der „Kurzen Geschichte“ zu, und ich fühlte mich gleich noch einmal belohnt.

Heinz Schlaffer, „Die kurze Geschichte der deutschen Literatur“; 2007, dtv, € 8,50
Heinz Schlaffer „Das entfesselte Wort“, Nietzsches Stil und seine Folgen, 2007, Carl Hanser Verlag, gebunden, € 19,50



Erschienen in "kulturissimo", Luxemburg, im Frühjahr 2008

Mahmud Darwish

Machmud Darwisch ist tot. 1942 in Galiläa/Palästina geboren, starb er am 9. August 2008 bei einer Herzoperation in Houston/Texas. Seine letzten Jahre verbrachte  er in Ramallah. Ich erinnere mich daran, wie in Israel vor 1994 nicht einmal sein Name erwähnt werden durfte, wenn man  nicht befürchten wollte, Schwierigkeiten zu bekommen. Machmud Darwisch hat ein neues, palästinensisches Arabisch geschaffen, seine Gedichte sind Bestandteil der Nationwerdung Palästinas. Gleichzeitig gehören sie zum Besten der arabischen Gegenwartsliteratur. Zur Erinnerung an ihn sei eins seiner Gedichte zitiert, ins Deutsche übersetzt von Adel Karasholi.                                                 Barbara HöhfeldWas bleibt?Was bleibt vom Geschenk der weißen Wolke?Ein HolunderWas bleibt vom Sprühregen der blauen Woge?Rhythmus der ZeitWas bleibt vom Erguss des grünen Gedankens?Wasser in den Adern der EicheWas bleibt von den Tränen der Liebe?Ein Brandmal auf PurpurWas bleibt von der zermürbenden Suche nach Bedeutung?Der Weg des ÜbermutsWas bleibt vom großen Ritt zum Unbekannten?Das Lied des Reiters für sein PferdWas bleibt vom Trugbild des Traums?Die Spuren des Himmels auf der ViolineWas bleibt von der Begegnung der Dinge mit dem Nichts?Das göttliche Gefühl von SicherheitWas bleibt vom Wort des arabischen Dichters?Ein Abgrund und ein Faden aus RauchWas bleibt von meinen eigenen Worten?Notwendiges Vergessen für das GedächtnisAus „Wo du warst und wo du bist“ von Mahmoud Darwish, A1 Verlag, 2004, München

 

(An "kulturissimo", Luxemburg, für September 2008)