2013

Was man mit Gesetzen alles machen kann

Über "Das Landgericht", Roman von Ursula Krechel

(Im Februar 2013 in Luxemburg erschienen)

 

Als bester deutschsprachiger Roman des Jahres wurde „Das Landgericht“ von Ursula Krechel 2012 mit dem „Deutschen Buchpreis“ ausgezeichnet. Es geht darin um die Verhältnisse im Justizwesen von Nachkriegsdeutschland (West), die die Autorin scharf und eindrücklich schildert. Zehn Jahre lang forschte sie in den Archiven. Jeden Fehltritt der Nachkriegsjustiz, den sie erwähnt, kann sie mit Zitaten belegen.

Ihr Roman schildert einen Berliner Richter jüdischer Herkunft, der 1933 von den Nazis aus dem Beamtentum entlassen und dem jegliche Tätigkeit als Jurist verboten wurde. Noch 1939 flüchtete der Mann nach Kuba, nachdem er seine zwei Kinder mit einem Transport nach England hatte in Sicherheit bringen können.

Seine Frau, die keine Jüdin ist und immer zu ihm hält, bleibt in Deutschland. 1948 kehrt er zu ihr zurück, diese Ankunft eröffnet den Roman. Erst jetzt erfährt er, dass die Nazis ihm auch die deutsche Staatsangehörigkeit genommen haben, und ein erster Heimkehrer-Schock besteht darin, dass die bundesrepublikanische Obrigkeit sie ihm keineswegs automatisch zurückerstattet, sondern ihn als “staatenlos“ behandelt! Er, der mit Leib und Seele preußischer Beamter war, muss nun einen Antrag stellen, um wieder als „Deutscher“ zu gelten. Es sind Demütigungen dieser Art, die ihn mit der Zeit zermürben. Er wird tatsächlich wieder als Richter eingestellt, aber die Demütigungen hören nicht auf. Als Muster dafür hier ein Aktenvermerk, mit dem auf eine Beschwerde geantwortet wurde:

<Die dienstliche Beurteilung beschränkt sich auf die Feststellung, dass zeitweise Spannungen bestanden haben, und läßt die Frage offen, wer diese Spannungen verursacht und auf welcher Seite „vielleicht’“ eine „persönliche Empfindlichkeit“ mitgespielt hat. Aus dieser Feststellung können daher keine Ihnen nachteilige Schlußfolgerungen gezogen werden. Das gleiche gilt für den Hinweis auf Ihren Gesundheitszustand. Ebenso wenig läßt sich bestreiten, dass Sie in Ihrer äußeren Erscheinung „etwas massig“ wirken. Diese sachlich richtigen Feststellungen können Ihnen nicht zum Nachteil gereichen, da sie Tatsachen entsprechen, die von Ihnen nicht zu vertreten sind. Hiervon abgesehen sind Bemerkungen über den Gesundheitszustand und über die äußere Erscheinung eines Beamten als „dienstliche Urteile über seine Person“ anzusehen, so daß schon aus diesem Grunde eine vorherige Anhörung des Beamten nicht erforderlich ist. ( 42 Abs. 1 BGB).>

Nun ist Krechels Roman keine Dokumentation, sondern Literatur. Getragen wird er durch die Hauptperson, den Landgerichtsdirektor Dr. Kornitzer. Indem wir miterleben, was ihm zustößt, zieht uns die Verfasserin in seine Welt hinein, oder bemüht sich darum. Gelingt es ihr? Worauf legt sie Ihr Hauptgewicht? Auf Liebe, Zorn, Angst oder Trauer? Nein, leider nicht. Sie kennt auch keinen Unterschied zwischen „deutsch“ und „jüdisch“. Bei ihr erscheint Kornitzer nur nominell als Jude, er interessiert sich für das Jüdische nicht, und so leuchtete es ihm gar nicht ein, dass die Nazis ihn verfolgten. Die Autorin selbst widmet sich nur minimal den Besonderheiten des Judentums, indem sie ein paar Rituale beschreibt. Bemerkungen wie die, Kornitzers Mutter habe den Beistand ihres Sohnes für alles außer ihrer Vermögensverwaltung benötigt, könnten sogar leicht als antisemitisch gelesen werden.

Das Judentum ist nicht Krechels Thema. Sie zielt auf das deutsche Beamtenwesen, insbesondere die Justiz. Nach dem Krieg widmeten sich die Beamten in ihrer Mehrheit vor allem dem Erhalt der eigenen Einkommens- und Statuslage. Das beschreibt sie ausführlich und anschaulich. Wer aus dem Ausland kam und sich in dieses System wieder einfügen wollte, durfte sich nicht auf Sonderrechte berufen, er hätte sich dem allgemeinen Opportunismus anpassen sollen. Kornitzer bezieht und bezog seine Identität jedoch einerseits aus der Rechtschaffenheit des idealisierten preußischen Beamten, andererseits aus seinem Standesbewusstsein. Damit hoffte er, die Demütigungen hinter sich zu lassen. Welcher Opportunist aber würde sich mit der Frage nach „Demütigungen“ befassen? Jedes Verständnis ist ausgeschlossen. Kornitzer wird krank, geht unter.

In den vorweihnachtlichen Buchempfehlungen verschiedener Zeitungen fand ich keine, die sich Leser für „Das Landgericht“ gewünscht hätte. Liegt das nun daran, dass die Deutschen sich nicht mit der eigenen Hässlichkeit konfrontieren wollen?

Viele Kritiker haben den Roman als misslungen, als unlebendig verurteilt. Aus gutem Grund: Kornitzer wird über sein Berufsbeamtentum hinaus kaum als fühlender, als suchender, als warmherziger Mensch beschrieben. Zwar heißt es an einer Stelle, er habe keinen Zugang zu seinen Gefühlen, doch wird das nur behauptet; die Autorin hat sich überdies entschieden, zwischen den Überlegungen und Gefühlen ihres Protagonisten und ihren eigenen oft keinen Unterschied erkennen zu lassen. Die Leser/in weiß also nie recht, wer ihr gegenübersteht. Man wird nicht warm mit der Figur.

Indem das „Opfer“ als ein blasser Schatten der „Täter“ auftritt, als Rechtehaber gegenüber denen, die das Gesetz auf ihre Seite ziehen, geht im Grunde eine klare Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht verloren. Wäre Kornitzer von den Nazis nicht als „Jude“ etikettiert worden, hätte er sich dann in den 50er Jahren wesentlich anders verhalten als seine Kollegen? Die Antwort bleibt offen, und das ist der tiefere Makel des Romans.

10. Januar 2013

 

 

 

Ist im Februar 2013 in „kulturissimo“ erschienen

Geschichten mit Eigensinn

Sechs Künstlerinnen – Geschichten mit Eigensinn

Brigitte Baldelli und Barbara Höhfeld

(Erschien im März 2013 in Luxemburg)

 

Eine Künstlerinnengeneration möchten wir vorstellen: geboren zwischen 1952 und 62 in Luxemburg, gehören die Sechs in eine Zeit des Umbruchs. Während sie anfangs lernten, dass Obst zum Einmachen da ist und das Mehl zum Kuchenbacken, gerieten sie als Erwachsene ins Internet, sie lernten, dass Verreisen einen nicht mehr ganz weg bringt, und dass man durch Fernsehen und Telefon oft nicht mehr ganz da ist. Kuchen und Obst liefert der Supermarkt. Alle Sechs erhielten eine gediegene künstlerische Ausbildung, sie sind Profis. Darüber hinaus ist ihnen gemeinsam, dass sie sich durch alle Veränderungen hindurch ihren Eigensinn bewahrt haben.

Auf drei Seiten skizzieren wir, als Anregung für Leser und Leserinnen, einige Aspekte der Werke dieser Generation.

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BADY MINCK

Für längere Zeit spezialisierte sie sich auf Animationsfilme; mit „Mecanomagie“ aus dem Jahr 1996 emanzipierte sie sich von „Obst und Kuchen“, sozusagen. Es war kein Zeichentrickfilm, sondern die Bilder stellten „echte“ Landschaften und Personen aus dem Luxemburger Norden dar; im Film aber bewegten sie sich per Einzelbildschaltung und erhielten dadurch einen hohen Grad von Unwahrscheinlichkeit. Der „Jitzert“ zumal, ein Raser zu Fuß, mit „natürlichen“ Augen nicht wahrzunehmen, - drückte er dem Film seine Geschwindigkeit auf. Vom Säen, Wachsen, Ernten sollte erzählt werden – doch nichts stimmte mehr mit den Erfahrungen überein. In diesem sechzehnminütigen Streifen schlägt die Epoche Purzelbaum.

Bady Minck verließ Ettelbrück, schlug neue Wurzeln in Wien und drehte noch eine ganze Reihe von Animations- und anderen Filmen. Sie zeigte sie auf internationalen Filmfestivals, sie erhielt Preise, sie wurde eingeladen. Gegenwärtig ist sie zurück in Luxemburg, bringt Produktionsfirmen und ihre Beziehungen mit. Jüngst trat sie in Luxemburg als Ko-Produzentin eines Films von Margarethe v. Trotta über Hannah Arendt auf.

Zufällig kam das nicht. Schon lange denkt Bady Minck auch politisch. So schuf sie im Jahre 2000 die „Elektrozelle“ (damals, als Jörg Haider in die österreichische Regierung eintrat), die konkret einen Monat lang am Karlsplatz in Wien stand, die gleichzeitig virtuell als „Elektrofrühstück“ in achtzehn Ländern Europas zu besuchen war, ständig aktualisiert und das mehrere Jahre lang.

Bady Minck hat auf ihre Weise verstanden, dass jede Idee eine physische Grundlage braucht, oder Erdung; dass das Physische sich in der Ästhetik äußert und dass die Ästhetik sich ändern muss, wenn sie in der Wahrheit bleiben will. Alles zusammen erfordert aber auch eine Geschäftsbasis. Sie handelt danach. Eine große Künstlerin, ein großer Mensch!

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Pascale Velleine

Sie nahm sich früh vor, Comix-Geschichten zu zeichnen, und das ist, was sie tut. Sie zeichnet und erzählt.

Doch sind es keine Standard-Geschichten, wo jeder von vornherein weiß, wie es ausgehen wird. In manchen Geschichten denkt man, wenn man bis zu ihrem Ende gelangt ist: Natürlich, konnte ja nicht anders laufen, doch am Anfang versteht man es noch nicht. Außer bei ihren Neujahrsgrüßen: da ahnt man, dass einer, der erst um fünf vor zwölf aufbricht, dennoch, und reise er auch um die halbe Welt, pünktlich um Mitternacht vor der Haustür stehen wird, um sein „Bonne Année!“ zu rufen. Und immer erzeugt das ein Schmunzeln, weil jeder schon einmal zu spät aufgebrochen ist und trotz aller Unmöglichkeit den Wunsch hegt, noch rechtzeitig anzukommen.

In den 80er Jahren zeichnete sie die Augen oft als Punkt. Mit Punkt-Augen erzeugte sie Blicke, nur durch diese Punkte, die sie mit einer spitzen schwarzen Feder an die richtige Stelle ins Gesicht setzte. Sie probierte auch kleine Spiralen oder Kreise oder Striche aus. Gegenwärtig malt sie Augen nach dem Manga-Prinzip: riesengroß und mit drei weißen Kreisen auf dem Augapfel. Aber es sind immer wieder individuelle Augen, keins gleicht dem anderen, und die ausgesandten Blicke schon gar nicht. So sind ihre Comix-Figuren: stilisiert, bunt, mit individueller Note. Einmalig.IN

In ihrem Monatskalender von 2013, mit dem sie neue Wege ausprobiert, zeigt der Februar eine Frau mit Kind, sehr zeitgemäß: die Mutter mit kunstvoll geschminktem Mund und grüner Sonnenbrille, mit Wimpern so lang, dass sie weit unter der Sonnenbrille hervorragen, mit schlanken Armen, während der Kopf des Kindes – mehr sieht man von ihm nicht – aufschaut zur Mutter, mit riesigen, traurigen, sehnsüchtigen Augen, den Mund undeutlich verzogen, als kämpfte es mit den Tränen. Dies alles stilisiert, typisch Comix, d.h. humorvoll übertrieben. Das Manga-Genre unterstreicht das noch. Die Bande Dessinée als weibliche Weltsicht, als die Wirklichkeit von Frauen, das ist Pascale Velleine.

 

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Nathalie Zlatnik I

In einer Bühnen-Deko können sich Schauspieler manchmal verstecken; manchmal können sie vor ihr groß und einzigartig erscheinen. Es kommt auch vor, dass die Schauspieler gegen eine Kulisse anspielen müssen. Daraus kann Spannung entstehen, so groß, das die Zuschauer gebannt werden, den Blick nicht lösen können, den Atem anhalten. In diesem Spannungsfeld entfalten sich Beziehungen.

Ein solches Bühnenbild gestaltete die Malerin Nathalie Zlatnik für das „Letzebuerger Frauentheater“ 1989 in der Escher Kulturfabrik. In der Amateurtruppe, die ihre Arbeit sehr ernst nahm, wurde heftig das Für und Wider dieser Deco diskutiert; drei Stoffbahnen sollten die ganze Rückwand bedecken; schließlich einigte sich die Truppe auf eine einzige; das war die richtige Entscheidung.

Warum erhitzt Nathalies Malerei die Gemüter? Ist es, weil sie nur ihrer Intuition und ihrem Verstand folgt? Sie ging die gleichen Ausbildungswege wie ihre Kolleginnen, doch vermag sie stärker als sie das Unausgesprochene in Bilder umzusetzen, das Unausgesprochene oder das Nicht-Aussprechbare. Dem Betrachter fehlen häufig die Worte, um das wiederzugeben, was ihm/ihr beim Betrachten der Bilder durch Kopf und Leib schleicht. Ich merke es auch an der Hilflosigkeit von Kunstkritikern, wenn sie, ausnahmsweise, über Nathalies Bilder schreiben.

Für das Bühnenbild hatte Nathalie Zlatnik Linien gefunden, die das Verbundene und das Verworrene, die Wut und das Lachen eines Frauentheaters, also die inneren Widersprüche der mit der Emanzipation kämpfenden oder ihre eigenen Rolle in der Welt suchenden Frauen spiegelten.

Brigitte: Ich denke an die Porträts von Nathalie Zlatnik. Sie versteht es ja nicht nur haargenau die Stimmung der porträtierten Person darzustellen, sie vermag es auch ihr eine einzigartige Individualität zu verleihen, und, was wirklich immer wieder erstaunlich ist, sie ist imstande das Lebensalter in ihren Portraits wiederzugeben. Ihre Kunst ist auβergewöhnlich.

Nathalie Zlatnik II

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Simone Schwartz I

Sie gibt am wenigsten von sich preis: als einzige hat sie keine Webseite; sie käme im Internet überhaupt nicht vor, wenn nicht die „Cooperations“ in Wiltz bei der Suche mit ihrem Namen auftauchten. Dort leitet sie eine Kreativ-Werkstatt. In Wahrheit habe ich sie im Internet nicht gefunden. Aber sie malt. Sie malte vor fast 30 Jahren, sie malt heute noch immer. Sie hält sich in Distanz zum Kulturbetrieb, sie will sich nicht vereinnahmen lassen. Hat auch all die Jahre kaum ausgestellt. 1984 fand auf dem Limpertsberg die Aussstellung „14 Superleichen räumen auf“ statt; dort hingen Bilder von ihr und seitdem hängt eins ihrer Bilder bei mir zuhause. Es strahlt, bis heute unverändert, Leichtigkeit und Präsenz aus, es gibt dem Betrachter Rätsel auf, die lösen zu wollen, er/sie vergisst, wenn er/sie das Bild nur lange genug betrachtet.

Simone Schwartz II

The Tempest: Ein weißer Wolkenhimmel, durch einen sich hindurchschlängelnden blauen Tornado gespalten. Oder: ein sich spiegelndes Gehirn, und der Corpus Callosum, der Hirnbalken, welcher die rechte und die linke Hemisphäre verbindet. Es scheint, als ob die Farbkomposition weiterarbeiten würde, lange nach der Fertigstellung des Gemäldes. Es brodelt. Es sprudelt. Es wallt. Simone Schwartz ist eine Darstellung der tiefen Verbundenheit alles Seienden in der Natur gelungen, wovon der Mensch nur ein Teil ist. Und dies sind wir ja auch in der Tat. Wir sind weder die Schöpfer der Natur noch sind wir die Schöpfer des Planeten. Wir teilen uns diesen Planeten mit allen anderen Geschöpfen, wir sind Besucher. Und zwar leider momentan keine sehr respektvollen. Die Künstlerin redet von etwas wirklich Wesentlichen: es ist nur unser Bewusstsein, welches die Trennung zwischen der Welt und uns verursacht, in Wirklichkeit befinden wir uns ja nie auβerhalb von irgendetwas, sondern wir sind immer und jederzeit mittendrin.

Mir kommt Schamananismus in den Sinn. Simone Schwartz denkt die Gesundung des Menschen tief in der Eintracht mit der Natur verbunden, in dieser Verbundenheit ist eine holistische Gesundung möglich, Mensch und Natur ergänzen sich.

Ich stand vor The Tempest. Das Werk befindet sich im Privatbesitz der Künstlerin. Und je länger ich es betrachtete, um so mehr kam es mir vor, als trommele Simone Schwartz sich mit jedem Pinselstrich näher an ein heilendes Bewusstsein heran. Sie trommelt den Menschen aus seinem Kokon heraus. Ihre eigenen Worte beschreiben das Gemälde so:

Momentaufnahme meines Unterbewusstseins in Form der Darstellung einer Landschaft.

Der blaue Tornado wirbelt von der Erde hinauf in die weisse Wolke gen Himmel. Ich bin der blaue Tornado.

Ein Versuch, mich aus der Gravitation, aus dem irdischen Magnetfeld zu lösen, aufzusteigen in eine andere Dimension und trotzdem erdgebunden zu bleiben. Versuch einer Befreiung.

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Patricia Lippert I

Bei Patricia Lippert fällt mir sofort die wuchtige Kraft ihrer Zeichnungen auf. Ihre Geschöpfe strahlen eine ganz eigentümliche Energie aus, so als spazierten sie nachgerade aus der Leinwand beziehungsweise aus dem Papierbogen heraus.

 

Patricia Lippert II

Im Gedichtband „Frauenlyrik in Luxemburg“ von 1980 beeindruckten mich tief ihre Zeichnungen von mächtigen Weibern. Diese Kraft, diese Lebensfreude, die selbst Verzweiflung mit einbezog, schien mir seither eine ständige Begleitung von Patricia zu sein. Sie malte, sie schuf Skulpturen und Bücher, stellte aus, forschte, dachte nach. Unterschwellig wurde sie, wurden ihre Werke von dieser ursprünglichen Kraft getragen. Nun ist ihr geliebter Mann gestorben. In den UNICEF-Bildern von 2012 verarbeitet sie diesen Verlust, wie sie sagt, durch „Einverleibung“. Wird jetzt eine neue Generation von Werken entstehen? Ich bin sehr neugierig darauf.

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Marie-Josée Kerschen I

Marie-Josée Kerschen hat ihre ganz eigene Art der Welt-Anschauung, und zwar eine sehr liebe- und respektvolle. Ich bemerke das, wenn ich mir ihre Skulpturen IN der Landschaft ansehe, oder auch ihre Skulpturen-Performance auf dem Titzebierg im Jahre 2009. Oder sollte ich eher sagen: die Performance ihrer Skulpturen, da es mir scheint, als hätten ihre Figuren ein sehr spezielles und sonderliches Eigenleben entwickelt. Sie SIND ganz einfach.

Marie-Josée Kerschen zwingt nichts auf. Alles hat bei ihr seine Richtigkeit. Ich spüre nachgerade ihren Respekt gegenüber der Natur und dem Menschen, wenn ich vor einer ihrer Figuren stehe, und auch vor ihren Personengruppen. Die Vielfalt des menschlichen Reichtums durch seine Verschiedenheiten kommt mir in den Sinn. Die Figuren funktionieren ja einzeln genauso wie innerhalb der Gruppe. Ihre Skupturen hinterlassen bei mir den Eindruck, als dächte sie nicht die Frau oder den Mann im besonderen, sondern den Menschen in seinem Versuch der Sozialisation, in seinem Versuch zum wirklichen Verständnis des Anderen, in seinem Versuch der Akzeptanz seiner Verschiedenheit und seiner gleichzeitigen Gleichheit. Sie androgynisiert förmlich ihre Figuren: ein Baumstamm, zur Figur geworden, verleiht ihm etwas profund Menschliches. Menschlicher vielleicht als ich mir manche Menschen vorzustellen vermag ...

Der Schein der Dinge scheint bei dieser Künstlerin auf magische Weise in einer wunderlichen Balance zu stehen: Sie bedient sich respektvoll eines Baumstammes, den sie liebevoll anthropomorphisiert, um ihm ein Gesicht, eine Figur, eine eigene Geschichte zu verleihen, und um ihn dann wiederum in sein natürliches Umfeld zu: befreien. Sie wird hiermit zur Heilerin. Das verbindet sie mit Simone Schwartz.

 

Marie-Josée Kerschen II

Auf der Remicher Promenade steht seit ungefähr dreißig Jahren eine lebensgroße Stein-Figurengruppe von ihr. Ursprünglich ein Mann, eine Frau, ein Kind; doch hat der Stein der Witterung nicht standgehalten. Das Kind sei inzwischen ganz verschwunden, so wurde mir berichtet, und der Frau sei der Fuß weggebrochen. Diese Figuren sind vollständige Menschen und gleichzeitig Symbole. Sie stehen einander zugewandt, und darüber hinaus werden sie durch eiserne Stangen mit einander verbunden. Diese Stangen, so erklärte ich es mir damals, als ich sie kurz nach ihrer Aufstellung betrachtete, dienten der Statik der Skulptur. Wie aber, wenn sie das Zusammengeschweisstsein der traditionellen Familie versinnbildlichten? Diese Zwangsgemeinschaft, in der jeder auf den andern angewiesen war und wo einer den andern manchmal bitter hasste? Wo nur noch der Tod Befreiung verhieß?

Diese Figuren besaßen einen ganz „normalen“ Körper mit Muskeln, mit allen menschlichen Merkmalen. Ihre Haltung war die von Menschen, die leiden, die schwere Last tragen. Mit ihnen nahm sich Marie-Josée Kerschen sehr viel vor. Später, irgendwann vor vielen Jahren, haben die Figuren von Marie-Josée Kerschen den Körper verloren. Noch immer stehen sie hochgewachsen an ihrem Ort, aber nur die Köpfe sprechen, und sie sprechen eine so starke Sprache, dass anscheinend niemand die Körper vermisst. Ja, das Poetische, das Guy Wagner in seinem Aufsatz von 2000 so deutlich bei Marie-.Josee Kerschen verkörpert sah, entstand unter anderm vielleicht gerade dadurch, dass der Blick nicht durch Bauch oder schlanke Beine oder einen etwas gebeugten Rücken abgelenkt wurde.

Inzwischen stehen die schönen Köpfe auf hohen schmalen Stelen, die Teil der Skulptur geworden sind. Dieses Wachsen der Köpfe aus dem Holz erinnert mich nun wieder an Bady Mincks Film „Mecanomagie“, wo der Kuchen fertig vom Baum zu pflücken ist, wo wabbeliges Gehirn inmitten eines Steins entdeckt wird, wo die Kinder aus dem Acker sprießen. Die Kunst kehrt ins Gewachsene zurück.

 

 

 

 

Erschienen im März 2013 in „kulturissimo“, Kulturbeilage des“tageblatt“ aus Esch/Alzette

10. Mai 2013 auf dem Römerberg in Frankfurt

(erschienen im VS-Rundbrief Landesbezirk Hessen im Juni 2013)

 

VS HESSEN AM 10. MAI 2013 AUF DEM RÖMERBERG, Frankfurt

ERINNERUNG AN DIE BÜCHERVERBRENNUNGEN DER NAZIS VOR 80 JAHREN

Texte, die von Monika Carbe, Barbara Höhfeld und Ingrid Velleine (als Gast aus Israel) gesprochen wurden

mit Auszügen aus „Verbrannt. Vergessen?“, VS in ver.di, Berlin 2007

 

Monika:

Dem Verband deutscher Schriftsteller hat es seit jeher zur Ehre gereicht, an jene Schriftstellerkollegen zu erinnern, die von den Nazis verfolgt, ermordet, vertrieben wurden, und es war in Hessen besonders Renate Häfner- Chotjewitz, die sich darum bemühte. Renate - vor viereinhalb Jahren, viel zu früh, gestorben - war noch ein Kind zur Nazizeit; sie hat einen bedeutenden Teil ihres Lebens darauf verwandt, die Erinnerung an das Unrecht, das im deutschen Namen verübte Unrecht, wach zu halten und gegen das unterschwellig weiter wuchernde Nazitum in Deutschland anzukämpfen. Wir ehren heute auch Renate Häfner-Chotjewitz für ihre Arbeit.

Im Jahr 2007 gab der Verband deutscher Schriftsteller in ver.di die Broschüre „Verbrannt. Vergessen?“ heraus, es werden ungefähr achtzig jener Frauen und Männer vorgestellt, die vom Nazi-Regime verfolgt wurden und oft nach dem Krieg nicht mehr in Deutschland Fuß fassen konnten. Nein, sie sind nicht vergessen, jene, deren Bücher am 10. Mai 1933 öffentlich verbrannt wurden! Wir wählten für die heutige Veranstaltung einige Autoren aus diesem Band aus und erzählen von ihnen, zitieren; zu einem Moment wird eine Israelin uns ein Gedicht auf Hebräisch vorlesen, das auf gewisse Weise auch zu tun hat mit den fürchterlichen Ereignissen des Holokaust.

Hören Sie zu und lassen Sie sich einfangen von den Erinnerungen!

 

Barbara:

Lilly Pinkus, Schriftstellerin aus Berlin, später London (1898 – 1981): „Wir müssen wieder und wieder den Raum verlassen, der uns umfängt, um der Zeit, um der Zukunft willen. Wie wir ihn verlassen mussten, als wir geboren wurden. Das Wort an Abraham, das ihm gebot, hinauszugehen, aus seinem Lebensraum in eine ungewisse Zukunft, ist symbolisch für Menschsein überhaupt. Es ist symbolisch auch für den Geistes- und Gesellschaftskampf unserer Gegenwart, dessen tiefster Grund der ist, dass die Götter, die Mächte des begrenzten Raumes, sich wehren, herausgerissen zu werden in einen umfassenderen Raum, in einen Raum der Menschheit und eine Zukunft, in der menschliches Sein sich neu erfüllt.“ (1980)

Lilly Pinkus war Jüdin, Psychotherapeutin, Autorin und flüchtete 1938 aus Deutschland.

 

Monika:

Lili Körber (1897-1982): Der österreichische Vater, die polnische Mutter, der Geburtsort Moskau schenkten ihr schon bei der Geburt den polykulturellen Blickwinkel. Der erste Weltkrieg brachte sie nach Österreich; zum Studieren ging sie in die Schweiz. 1925 wurde sie in Frankfurt am Main mit einer Dissertation über die Lyrik Franz Werfels promoviert. Sie trat als Lyrikerin und Erzählerin hervor und schrieb für Zeitschriften. Mehrere Monate verbrachte sie als Arbeiterin in einer Leningrader Fabrik und veröffentlichte nach ihrer Rückkehr bei Rowohlt den Tagebuch-Roman „Eine Frau erlebt den roten Alltag“. Das Buch wurde 1932 ein Bestseller!

Ihr 1934 in Österreich verfasstes Buch mit dem Titel „Eine Jüdin erlebt das neue Deutschland“ wurde in Österreich sofort wegen Gotteslästerung verboten. Nach dem „Anschluss“ 1938 ist die jüdische Österreicherin zum Auswandern gezwungen; von der Schweiz zieht sie nach Frankreich, heiratet dort 1940 und wandert ein Jahr später mit ihrem Mann nach den USA aus. Dort arbeitet sie als Krankenschwester. Doch sie veröffentlicht weiter.

Der Roman „Eine Jüdin erlebt das neue Deutschland“ erschien erstmals 1988 in Wien.

 

Barbara:

Magnus Hirschfeld (1868 – 1935): Magnus Hirschfeld und sein Institut für Sexualwissenschaft im Tiergarten, nahe dem heutigen Kanzleramt, repräsentierten symbolhaft die liberale Weimarer Zeit Berlins. Am 6. Mai 1933 wurde das Institut im Vorfeld der Bücherverbrennung von NS-Studenten vandalisiert und geschlossen. Vier Tage später verbrannten Hirschfelds Bücher und die seiner Mitarbeiter neben denen Freuds unter dem Feuerspruch „gegen seelenzerfasernde Überschätzung des Trieblebens“ auf dem Opernplatz. Es hat kaum eine andere Einrichtung der Weimarer Republik gegeben, die in ähnlicher Weise Ziel des Nazihasses war, gleichzeitig aber auch kaum eine, die trotzdem in der heutigen Erinnerungskultur so wenig verankert ist. Hirschfeld war für die Nazis das ideale Feindbild: Jude, Sexualwissenschaftler, Homosexueller und Sozialdemokrat. Noch Jahre nach seinem Tod benutzten sie ihn als Beispiel für ihre abstrusen Thesen, so in der Ausstellung ‚Der ewige Jude’.

Er begann Literatur zu studieren, hat dann aber, wie er sagte „meine erste Liebe verlassen“ und sich dem Studium der Naturwissenschaft und Medizin zugewandt. „Innerlich fühlte ich mich mein Lebenlang den Journalisten und Literaten, Schriftstellern, Dichtern und Künstlern wesensverwandter als den Doktoren, Professoren und Wirklichen geheimen Obermedizinalräten“, so sagte er. Die Dichter hätten sich nie den Mund verbieten lassen von den Irrlehren der Sündhaftigkeit und Niedrigkeit alles Geschlechtlichen. „Sie bewahrten den apollinischen Geist und schlugen in die Leier Apolls selbst als (ich verbinde zwei Aussprüche Nietzsches) das Christentum dem Eros Gift gab und das Dogma von der unbefleckten Empfängnis die Empfängnis befleckte“.

Magnus Hirschfeld starb 1935 in Nizza, wie ein Freund sagte: an gebrochenem Herzen. Die Arbeit seines Lebens schien zerstört.

 

Klarinette

 

Ingrid Velleine:

Ein Mann aus Israel griff mit traumwandlerischer Sicherheit nach einem Gedichtband aus seiner Schulzeit, als er von der Veranstaltung hier hörte. Für ihn stellte die Stimmung in diesem Text den Seelenzustand seiner Eltern dar, die noch vor dem Krieg aus Polen hatten fliehen können. Alle anderen Verwandten wurden ermordet. Das Gedicht spricht mit einer Stadt, mit einem Gegenüber, das blauen Himmel und Ströme von Blut, beides wie nicht vereinbare Bestandteile, einander auf ewig fremd, zusammenbringt. Das Gedicht wurde in den Vierzigern oder den Fünfzigern von Abraham Broides geschrieben. Hören Sie:

 

(Übersetzung siehe Schluss)

Klarinette

 

Barbara:

Hermynia zur Mühlen (1883 – 1951): Sie schrieb 1934 an ihren Stuttgarter Verleger, der sie gebeten hatte, ihre Mitarbeit an Emigrantenblättern einzustellen, da er sie sonst in Deutschland nicht mehr publizieren könne: „Zu meinem Bedauern komme ich erst heute dazu, Ihren Brief vom 19. d.M. zu beantworten, aber nicht etwa deshalb, weil ich mir betreffs meiner Antwort unschlüssig gewesen wäre, sondern weil mich eine schwere Erkrankung an einer sofortigen Beantwortung gehindert hat. Da ich Ihre Ansicht, das Dritte Reich sei mit Deutschland, und die „Führer“ des Deutschen Reichs seien mit dem deutschen Volke identisch, nicht teile, kann ich es weder mit meiner Überzeugung, noch mit meinem Reinlichkeitsgefühl vereinbaren, dem unwürdigen Beispiel der von Ihnen angeführten vier Herren zu folgen, denen scheinbar mehr daran liegt, in den Zeitungen des Dritten Reiches, in dem sie nicht leben wollen, gedruckt und von den Buchhändlern des Dritten Reiches verkauft zu werden, als treu zu ihrer Vergangenheit und zu ihren Überzeugungen zu stehen. Ich ziehe dieser „besten Gesellschaft“ die Solidarität mit jenen vor, die im Dritten Reich um ihrer Überzeugungen willen verfolgt, in Konzentrationslager gesperrt oder „auf der Flucht erschossen“ werden. Man kann Deutschland und dem deutschen Volk keinen besseren Dienst erweisen, als das Dritte Reich, dieses zur Wirklichkeit gewordene Greuelmärchen, zu bekämpfen; und daher kann logischerweise dieser Kampf von niemand, der mit dem deutschen Volk und der deutschen Kultur wirklich verbunden ist, als deutschfeindlich bezeichnet werden. – Was aber den Vorwurf des Landesverrats betrifft, wenn wir schon dieses pathetische Wort gebraucehn wollen, so würde ich als Österreicherin, nach dem Verhalten des Dritten Reichs Österreich gegenüber, dann Landesverrat begehen, wenn ich mit meinen bescheidenen Kräften das Dritte Reich nicht bekämpfen würde. Ich bitte Sie, diesen Brief an die Schriftleitung des Börsenblatts und an die Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums weiterzuleiten.“

Klarinette

 

Monika:

Victor Ullmann (1898 – 1944): Ein großer Komponist! Der Sohn eines Berufsoffiziers, die Eltern waren schon vor Viktors Geburt vom jüdischen zum katholischen Glauben konvertiert, schlug schon bald die Laufbahn eines Musikers ein. Aufgrund seiner außerordentlichen musikalischen Begabungen erhielt er frühzeitig Zugang zu Arnold Schönberg und seinem Schülerkreis. 1918 begann er ein Jurastudium an der Universität Wien, erhielt aber sehr bald die Zulassung zum Kompositionsseminar, studierte bei Schönberg Formenlehre, Kontrapunkt und Orchestrierung. Aber 1919 brach er das Studium ab, um sich fortan als Musiker in Prag nieder zu lassen.

Er sammelte musikalische Erfahrungen in der Tschechoslowakei, in der Schweiz und in Deutschland. 1933 musste er nach Prag flüchten; bis 1942 entstand ein großer Teil seiner Werke, die er alle im Selbstverlag drucken ließ, um bessere Verbreitungsmöglichkeiten zu schaffen. ... Nach dem Deportationsbefehl übergab Viktor Ullmann alle gedruckten Werke einem Freund, der sie dann 1965 vollständig an die Karls-Universität Prag übergab.

Als Viktor Ullmann am 8. September 1942 in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert wurde, bedeutete es für ihn nicht das Ende seines musikalischen Schaffens. Gerade in diesen zwei Jahren der Inhaftierung in diesem „Ghetto“ entfaltete der sonst so schüchtern und ausdruckslos Scheinende eine ungewöhnlich Aktivität, wie ein Musikwissenschaftler schrieb ... Ullmann organisierte im Lager die musikalischen Geschicke, wirkte als Komponist, Kapellmeister, Pianist, Organisator, Pädagoge und Musikkritiker ...... 23 Kompositionen Viktor Ullmanns sind aus der Theresienstädter Zeit ganz oder fragmentarisch überliefert. Die Werke entstanden alle für bestimmte Lagerinsassen und sind den Aufführungsbedingungen des Lagers angepasst. Als einzige der hier komponierten drei Klaviersonaten wurde die 6. Klaviersonate op. 49 von Edith Kraus im Lager uraufgeführt. Viktor Ullmann vollendete sie am 1. August 1943......

Am 18. Oktober 1944 wurde Viktor Ullmann in einer Gaskammer in Auschwitz von den Nazis ermordet.

 

Barbara:

Helene Stöcker (1869 – 1943): Philosophin, Frauenrechtlerin, Sexualaufklärerin, Pazifistin; gründete 1893 in Berlin den „Verein studierender Frauen“ und promovierte 1901 an der Universität Bern über das Thema „Zur Kunstanschauung des 18. Jahrhunderts“.

<Als ihr Freund und Seelenverwandter Alexander Thill (....) Witwer geworden war, sollte sie seine Frau werden. Sie hätte das gern getan, wenn er von ihr nicht verlangt hätte, alles was sie geschafft hatte, aufzugeben und nur für ihn eine treue Begleiterin, Helferin und Erzieherin seiner Kinder aus erster Ehe zu werden. Sie wollte ihre Unabhängigkeit nicht aufgeben.

Dazu schrieb sie, und der Text wurde 1897 im ‚Magazin für Literatur’ veröffentlicht:

„Wenn wir in dem ersten Rausch und Freudentaumel nichts von all der Verschiedenheit unseres Wesens und unserer Anschauungen gemerkt, die sich nun in unseren letzten Gesprächen so schmerzlich bitter fühlbar machten – so lag das wohl daran, dass ich einmal nur ganz „Weib“ war, das sich in schweigender Seligkeit neigte. Aber wir wussten doch beide, dass ich das nicht nur bin. Und Du genossest diese Demut umso mehr, weil du wusstest, dass ich sonst ernst in gleichem Schritt neben Dir gehe - als dein gleichstrebender Kamerad“.

Helene Stöcker fand später den Mann, der zu ihr passte; sie widmete sich der „neuen Ethik“, die sie vor allem in gesellschaftliche Reformen im Familien- und Frauenrecht einbrachte. In der „neuen Ethik“ ging es ihr darum, „die Rechte und das Selbstbewusstsein des Individuums“ zu stärken. 1933 wusste die Gestapo nichts Besseres, als ihre Manuskripte zu vernichten, ihr die Doktorwürde und die deutsche Staatsangehörigkeit abzuerkennen! Da war sie schon in die Schweiz geflüchtet. Sie starb einsam und arm 1943 in Amerika.

 

Monika:

Heinz Abosch (1918 – 1997): In Magdeburg, so meinte Abosch, wäre Hitler nicht Reichskanzler geworden. Doch das reichte nicht. Er floh schon früh mit den Eltern nach Frankreich. In Grenoble und Lyon arbeitet er im Widerstand und wird im Mai 1944 von der Gestapo verhaftet, gefoltert und deportiert. Ihm gelingt die Flucht aus dem Deportationszug. Seine Schwester wird in Auschwitz ermordet. Ab 1945 arbeitet er als Pariser Korrespondent deutscher Zeitungen. 1956 kehrt Heinz Abosch nach Deutschland zurück und heiratet. Er schreibt: „Meine nichtjüdischen Freunde fanden rasch ihre Heimat wieder, sie kehrten aus dem Exil zu ihrer Familie zurück. Ich hatte die Heimat endgültig verloren, der größte Teil meiner Familie war vernichtet, das Zuhause, die Zuflucht verschwunden, in Nichts aufgelöst.“

Sein Buch „Flucht ohne Heimkehr“ ist 1997 in Stuttgart erschienen.

 

***

 

 

Hier die Namen der Autorinnen und Autoren, aus deren Recherchen die eben vorgetragenen Texte hervorgegangen sind: Jens Dobler, Berlin; Carmen Winter, Brandenburg; Renate Häfner-Chotjewitz, Hessen; Christine Wittrock, Hessen; Safeta Obhodjas, Nordrhein-Westfalen; Gregor Nowak, Sachsen; Birgit Herkula, Sachsen-Anhalt.

 

Zusammengestellt von Barbara Höhfeld

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Anhang:

Abrahm Broides:

 

Beim Schein des Blitzfeuers (Lenogah berak esch)

 

 

Unter feurigen Blitzen und im Klang von bebendem Blut

liegen auf deinen Augen, meine Stadt, noch immer Wimperntusche und Lidschatten.

 

Über deinem Kopf ruht fließend ein blauer Himmel,

Und du brichst leichtfüßig zum Tanze auf.

 

Ein fröhlicher Gesang wie für eine festliche Nacht durchzieht dich,

er wird deinen obdachlos herumirrenden Flüchtlingen das Herz durchbohren.

 

Um dich herum gibt es nur Sand, ohne Graben oder Schutzmauer,

und wo willst du musizieren, während die anderen sterben?

 

In dir, meine helle Stadt, sitze ich traurig, beschämt

und halte meinen fiebrigen Kopf zwischen geballten Fäusten ....

 

 

(Übersetzung Ingrid Velleine)