Tagebuch Sommer 2015

Frankfurt, 25. Oktober

Ich war verreist, habe viel erlebt. Werde noch über einiges berichten.

Heute erhielt ich die Nachricht, dass mein Text über Sachsenhausen, über den Stadtteil, in dem ich lebe, vom Größenwahn-Verlag abgelehnt wurde. Ohne Begründung. Den Auftrag erhielt ich - nahm ich an, ohne Vertrag, ohne Entgelt - obwohl ich nur wenig über die Zielsetzung der geplanten Stadtteil-Anthologie wusste. Eine Freundin fungierte als Herausgeberin, sie hatte mich für Sachsenhausen ausgewählt, ich nahm an. Es sollten charakteristische Eigenschaften und Historisches herausgearbeitet werden, das noch für die Gegenwart Bedeutung hat. Zusätzlich meldete ich mich für Goldstein. Den Goldstein-Text nahm der Verleger an. Alles ohne Gespräch, ohne Begründung.Das Buch soll im August 2016 erscheinen.

Es tut mir natürlich leid um den Sachsenhausen-Text, ich habe sehr viel daran gearbeitet. Er war von vornherein auf vier Seiten begrenzt, das war wenig für die unglaubliche Vielfalt, die es hier gibt.

Lesen Sie selbst:

 

Sachsenhausen – ein Stadtteil von Frankfurt am Main

Falls Goethe seinen Faust aus dem berühmten Osterspaziergang in Frankfurt hat umhergehen lassen, dann müsste der genaue Ort Sachsenhausen gewesen sein; denn Faust sagt zu seinem Begleiter: „Kehre dich um, von diesen Höhen / nach der Stadt dich umzusehen!“ und das passt genau auf den Mühlberg. Der Weg zum Mühlberg führte zu Goethes Zeiten  „aus dem hohlen finstern Tor“ - damals wie heute „Affentor“ genannt - denn Sachsenhausen duckte sich hinter breiten Festungswällen.  Dort wohnten einfache Leute wie Gerber, Färber, Gärtner oder Korbflechter; die Frauen standen auf dem Markt oder arbeiteten als Wäscherinnen. Faust spricht von Menschen „aus Handwerks- und Gewerbebanden“, sie wohnen in „niederer Häuser dumpfen Gemächern“, unter dem „Druck von Giebeln und Dächern“.  Einfache Leute, doch sie genießen den Ostersonntag als Frühlingstag zwischen den Gärten und Feldern, in der Natur und kehren schließlich ein: „zufrieden jauchzet Groß und Klein / hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein.“

Vor allem nach der Schleifung der Wälle entstanden in Sachsenhausen im 19. Jahrhundert Gartenhäuser und  prächtige Villen mit Park, heute noch erkennbar als Teil des „Museumsufers“, wie das Liebighaus und die Metzlervilla. An der Straße nach Offenbach breitet sich der Park der theologischen Hochschule St. Georgen aus, einst befand sich hier der Gutshof der Familie Bethmann-Hollweg. Am Frankfurter Hochschulleben nimmt Sachsenhausen auch mit der Städelschule teil, der Hochschule für Kunst und Gestaltung, deren Studenten manchmal im „Portikus“ ausstellen, einem hochgiebligen Neubau an der Alten Brücke, am Sachsenhäuser Mainufer.  Die Uniklinik, noch weiter westlich, gehört zur medizinischen Fakultät der Johann-Wolfgang-Goethe Universität. Es gibt private Musikschulen im Stadtteil, die besonders Kinder fördern. An allen Kirchen wird musiziert. Sachsenhausen besitzt nicht weniger als vier katholische und vier evangelische Kirchen (überdies eine kleine Moschee, keine Synagoge). Unter den Kirchen war die Dreikönigskirche jahrhundertelang die einzige Kirche in Sachsenhausen, und sie wurde stadtweit als allererste protestantisch! Eine der katholischen Kirchen gehört zur Kommende des Deutschen Ordens, der seit 1221 hier seinen Sitz hat. Der Frankfurter Rat achtete von jeher darauf, adelige oder sonstwie an politischer Macht interessierte Gruppen drüben in Sachsenhausen wohnen zu lassen, und nicht in der eigentlichen Stadt. Daher gab es hier eine Zeitlang echte Ritter! Übrigens stammt der Namen „Sachsenhausen“, wie Historiker annehmen, vom Wort „Beisassen“ ab. Ein „Beisasse“ war ein Bürger mit minderen Rechten.

So entwickelte sich in Sachsenhausen offenbar von Alters her ein gewisser Eigensinn, dessen Spuren noch heute manchmal aufscheinen. Zum Beispiel in der Nachdrücklichkeit, mit der die Bewohner seit über drei Jahren gegen den überhand nehmenden Fluglärm protestieren, nachdem die neu eröffnete Landebahn in manchen Wohngebieten von Sachsenhausen mit ihrem Lärm viele Male am Tag an die 80 Dezibel heranreicht und sie gelegentlich überschreitet.

Zwar weist Sachsenhausen kein Zentrum auf, aber für seine rund 56.000 Bewohner doch viele Mittelpunkte. Ich denke  an Apfelweinkneipen, die ihren „Ebbelwoi“ noch selber keltern und ihn im 5-l-Bembel servieren: an die „Buchscheer“ am Waldrand im Westen, oder das „Gemalte Haus“ an der Schweizer Straße, um nur zwei zu nennen.

Wenn im  „Gemalten Haus“ im Stimmengebraus viele fremde Sprachen laut werden, so liegt das an den Touristen, auf deren Pflichtbesuch-Liste die Wirtschaft steht.  In der „Buchscheer“ dagegen wird man neben hochdeutsch fast nur frankforterisch zu hören bekommen. Sitzt man wiederum eine Weile am Diesterwegplatz vor dem Südbahnhof – bei schönem Wetter ein  unverbindlich-geselliger Aufenthaltsort – schwirrt einem eine Vielfalt von fremden Sprachen um die Ohren. Die, die sie sprechen, warten auf Busse oder Straßenbahnen, wie jeder Deutschsprachige auch, denn sie alle wohnen hier, sie gehören zur Stadt. Frankfurt wird ungefähr zur Hälfte von Migranten bewohnt, und das gilt ebenso für Sachsenhausen.

Warum aber trifft man in manchen Lokalen, in manchen Vereinen, in den Kirchengemeinden kaum Fremdstämmige? Es könnte an der Sprache liegen. Fast alle Migranten in Frankfurt sind zweisprachig und in jeder ihrer Sprachen  auf eine verschachtelte Weise zuhause.

Gewiss haben sie auch  unterschiedliche Gebräuche. Dann und wann feiern die Zugewanderten gern unter sich, sei es ein Gartenfest, wie ich es in einem Schrebergarten mit Koreanern erlebte, sei es beim Gottesdienst.

Evangelische wie katholische Gemeinden  bieten Gastgemeinden eine Unterkunft. In der Sachsenhäuser Lukaskirche etwa treffen sich regelmäßig Ghanaer. In ihrem Sonntagsgottesdienst genießen sie Anklänge an die afrikanische Heimat. Ich war willkommen. An jenem Sonntag füllte sich der Raum, so dass irgendwann alle Plätze besetzt waren. Als ich um zwei Uhr eintrat, besprach die Gemeinde gerade Verhaltensfragen: was erlaubt Gott, was nicht. Männer und Frauen redeten gleichberechtigt und selbstbewusst.  Die dann folgende Feier begann mit Gesang und Aufrufen. Die Sprache war Englisch, das meiste wurde Satz für Satz von wechselnden Dolmetschern in eine ghanaische Sprache übersetzt. (Ich erfuhr, dass es neben Englisch neun offizielle Sprachen in Ghana gibt.) Der englische Text wurde auf eine Leinwand projiziert, es waren Bibelzitate. Es gab Vorsänger, Männer und Frauen, sie wurden von einem Keyboardspieler, von Schlagzeugern und Gitarristen begleitet. Die Gemeinde sang mit, alles auswendig. Viele tanzten, mehr oder weniger überschwenglich.  Aufrufe, Instrumente und Sologesänge wurden über Mikrofone und vier riesige Lautsprecherboxen verstärkt. Zuletzt hielt der Pfarrer seine Predigt. Er schrie sie ins Mikrofon, die Dolmetscherin schrie sie satzweise in der anderen Sprache, immer wieder rhythmisiert durch „Halleluja“ und „Amen“. Mit ihrer unvorstellbaren Lautheit drängten sich die Gottesworte in die Körper hinein – es ging offenbar darum, Leib und Geist auf nachdrückliche Weise miteinander zu verbinden. Das dauerte gut zwei Stunden. 

Hier also Rückkehr zum Ureigenen, woanders ein Gleiches für alle: In der Riedhof-Schule, einer Grundschule in Sachsenhausen, ging ich vier Jahre lang als Lesepatin aus und ein. In der bunt gemischten Schule spielten Hautfarbe und Herkunft der Kinder keine Rolle, soweit ich das erkennen konnte. Ich sah aber die Hingabe der Lehrer und Lehrerinnen, die alles taten, damit jedes Kind lernte, was die Schule zu bieten hatte, und das war eine Menge. Mochten sie Silke oder Halil heißen, Pedro oder Akosua, der Geburtstag eines und einer jeden wurde in der Klasse gleichermaßen gefeiert. 

 

 

 

 

 

Frankfurt, 20.September

Mit einem seltsamen Gefühl von Verwirrung kehre ich zu meiner Wohnung zurück, fahre ich in die Garage hinein. Habt Ihr schon mal von den Jesiden gehört, jenem Volk, das in der irakischen Wüste lebt und dessen Angehörige von den ISlern ermordet, vergewaltigt oder vertrieben werden, weil sie keine Mohammedaner sind? Nicht, dass ich sie hier in Frankfurt getroffen hätte. Doch fast wie .....

Gestern auf dem SPD-Parteitag des Unterbezirks Frankfurt sprach mich ein Mann an, der Geld sammelte: für die Kosten von Lastwagen, die mit Spenden in den Irak fahren. Ich fragte ihn, wo es hier eine Kleidersammelstelle für Flüchtlinge gäbe. Er nannte mir eine Adresse. Geöffnet am Sonntag von 12 - 18 Uhr.

Ich hatte mir überlegt: die Flüchtlinge, die hier mit sehr kleinem Gepäck ankommen, brauchen doch Sachen für den Winter! Ich habe ein paar Stücke im Schrank, die ich schon lange nicht mehr anziehe, die aber noch in sehr gutem Zustand sind. Ich fragte auch meine Nachbarin, die legte einen Packen bereit, und ich fuhr mit einem großen Koffer nach Höchst. Schwierig zu finden, jedenfalls mit dem Stadtplan. Dermaßen verwinkelte Sträßchen packt der nicht. Ich fands schließlich doch. Ein paar arabische Halbwüchsige standen im Hof  um den Mann herum, dem ich gestern Geld für Lastwagen in sein Eimerchen gelegt hatte.

Ich ging mit hinein und sah Raum für Raum bis an den Rand mit prallen Plastikbeuteln gefüllt. So, wie die Beutel von den Spendern abgegeben worden waren. Ich bedauerte, dass ich meine Sachen nicht auch in Plastikbeuteln verpackt hatte. Nun lagen sie lose auf dem Haufen, und der Junge achtete nicht darauf, dass die Gürtel zu einem bestimmten Kleid gehörten. Er verstand auch nicht genug Deutsch, dass ich mit ihm hätte reden können.

So fragte ich meinen Gewährsmann, einen lebhaften älteren Mann, von eher kleiner Statur. "Wir sortieren gar nicht", antwortete er; "wir bringen die Beutel so wie sie sind nach Syrien oder in den Irak, zu den Lagern. Etwa  je 150 Zelte unterstehen einem <Bürgermeister>, unter seiner Aufsicht werden für jede Familie seines Zeltbezirks Pakete zusammengestellt, welche die sich  dann abholen können." - "Waren Sie schon mal dort?" - "Ja, mit acht Lastwagen." - "Und Sie sind der Anführer?" Er nickte. "Woher stammen Sie?" - Mit Stolz in der Stimme erwiderte er: "Aus dem selben Ort wie Mike Josef." Mike Josef ist unser Unterbezirksvorsitzender. Grade gestern wurde er in seinem Amt mit über 93 % der Stimmen bestätigt. Seine Eltern sind einst aus Syrien eingewandert, er hat hier studiert, ist Diplom-Politologe und entwickelt sich zum klugen Politiker.

Ich schaute ihn bewundernd an. "Sie sind dann zweisprachig?" - "Ich spreche fünf oder sechs Sprachen, das braucht man, wenn man über die Grenzen will. Wer die Sprache nicht spricht, bleibt wochenlang an der Grenze liegen!"

"Wann fahren Sie das nächste Mal?"- "Anfang oder Mitte Oktober. Doch für die Fahrt brauchen wir noch Geld. Die Sammlung gestern ergab ungefähr 800,-, nun fehlen uns noch 3.000. Wir suchen nach einem Sponsor."

Er begleitete mich zum Hoftor. An den Gitterstäben waren Fotos angebracht von den verschiedenen Orten, wo sie die Spenden abgeben: in Syrien, im kurdischen Irak und in den irakischen Bergen, wohin die Jesiden geflüchtet sind, die in ihren Dörfern nicht mehr sicher waren. Sie wohnen dort nun  in Felsenhöhlen. Auf den Fotos entdeckte ich auch ihn - wie hieß er bloß? Auf dem Heimweg machte ich mir Vorwürfe, dass ich nicht nach seinem Namen gefragt hatte. Eigentlich hätten wir uns ja auch duzen sollen, unter Genossen ist das üblich. Ich merkte erst nachträglich, dass ich wieder in mein distanzierendes "Sie" verfallen war, in dem ich mich sicher fühle, in dem ich die Abstände besser einschätzen kann als im Du. Ein "Du" zu einem Menschen, den ich weiter nicht kenne, lässt mich das Gefühl für den richtigen Abstand verlieren, ich fühle mich dann, als schwämme ich in einer undurchsichtigen Wolke ...

Von ihm, dem Boss, erfuhr ich noch mehr: private Kleiderspenden werden für die hiesigen Flüchtlinge überhaupt nicht genommen. Die deutschen Hygienevorschriften  erlauben das nicht.

Ich sah ihn vor meinem inneren Auge als den Anführer der Karawane, dem alle folgen, der aber auch die Verantwortung trägt, für die Sicherheit der Fahrer, der Wagen und für die zuverlässige Überbringung der transportierten Sachen.

Auf diesen Wegen gilt in erster Linie: Vertrauen.

Vertrauen - ein Gut,  das im normalen Parteialltag fast ausgestorben ist. Was für ein Gegensatz! Hing damit meine Verwirrung zusammen?

 

 

Frankfurt, 13. September

Gestern fuhr ich nach Offenbach, um mir den Ort anzuschauen, an dem ich in einer Woche meinen Roman vorstellen darf: die Ausstellungshalle des Kunstvereins Offenbach e.V. im KOMM. Der Kunstverein lädt derzeit jede Woche einen Autor ein. Gestern las ein kluger schlanker Mann in der Mitte des Lebens aus einem Roman, in dem es um "Verschwörungen" ging. In seinen Kommentaren sprach er von "Verschwörungstheorien", und ich verstand mit der Zeit, dass er es den Lesern, also hier den Zuhörern überlassen wollte, ob sie an eine Verschwörung glauben oder nicht. Die Geschichte spielte nach der Wende unter ehemaligen Stasi-Offizieren, die ihrem Eid, ihrer Vergangenheit treu bleiben und weiter subversiv aktiv sein wollten. Es ging aus den vorgelesenen Texten nicht hervor, worin ihr konkretes Ziel bestünde, wie sie als deutsche Übriggebliebene irgendeine Machtposition erreichen wollten, indem sie diesen oder jenen Menschen in der vereinigten Republik bespitzelten. Es ging mehr um die Kunst des Bespitzelns selbst, um die Schlieren zwischen Lüge und Wahrheit, die jede Grenze verwischen und jemanden auch ausrutschen lassen können. Die Hauptbeziehung bestand zwischen zwei Männern, der Ich-Erzähler möchte den anderen irgendwie erobern. Also eigentlich eine verdeckte Liebesgeschichte. Die aber verdeckt bleiben musste, damit sie erzählt werden konnte. Unter dem Deckmantel des ehemaligen Stasi-Mannes ...

Mir fiel auf, dass die Sprache gar nicht DDR-gefärbt erschien, sondern eher an die Sprachgebräuche in der alten BRD erinnerte. Da der Ich-Erzähler aber in DDR-Kinderheimen aufgewachsen war, müsste doch etwas geblieben sein, unter anderm das Bewusstsein für zwei verschiedene Sprachen ... Außer dem Hinweis darauf, dass "Stasi" eine unerwünschte Abkürzung für "Ministerium für Staatssicherheit der DDR" war (meine Erinnerung sagt mir, dass der vom Verfasser tatsächliche angeführte Ausdruck noch ein anderer war, diesen habe ich jetzt aus "Wikipedia"), kam das Thema nicht vor.

Selbstbewusst freute sich der Verfasser zum Schluss - Wolfgang Sanden sein Name - auf eine seiner nächsten Lesungen am selben Ort.

Ich schlenderte zur S-Bahn. In den Fußgängerzonen, die ich dabei durchquerte, tummelten sich viele Einkaufende, Familien, Frauen meistens mit Kopftüchern, halbwüchsige Jungen, die den vorbeikommenden Mädchen hämische und spottende Bemerkungen nachriefen. Eine Szenerie, wie sich pubertierende Knaben vielleicht die Heimat der Eltern vorstellen. Ich fühlte mich sicher. Der Wunsch nach einer Toilette trieb mich schließlich in ein Café auf der anderen Seite der S-Bahn-Haltestelle, das sich mit ein oder zwei Dutzend Fernsehschirmen bemerkbar machte. Darauf lief ein Fußballspiel. Im Innenraum war mir das zu laut; ich setzte mich nach draußen, es war noch warm genug, und den Nieselregen hielten die breiten Sonnenschirme ab.

Während ich ein paar Fritten aß und Wasser dazu trank, schaute ich mich um: überall kleine Gruppen von jungen Männern, die intensiv und gesittet miteinander diskutierten. Dann und wann warfen sie einen Seitenblick auf den Bildschirm. Sie wussten ja längst, dass heute Abend Frankfurt gegen Köln spielte; als ich aufbrach, stand es 6:2 für Frankfurt. Gleichzeitig immer das auf- und abschwellende Massengeschrei aus dem Stadion! Besonders laut wurde es, wenn Frankfurt wieder ein Tor geschossen hatte - nicht etwa an den Tischen neben mir, sondern im Stadion selbst.

Ich dachte daran, dass ein solches Fußballspiel sehr wohl mit einer Theateraufführung verglichen wernden könnte, mit den antiken Spielen etwa, wo zigtausende auf den Zuschauerrängen saßen und ihre ganze Erregung im Einklang mit der Szenerie ausleben durften. Im modernen Theater gibts ja dergleichen nicht mehr; wenn sich dort die Zuschauer zum Schluss, nach dem Ende, klatschend von ihren Sitzen erheben, gilt das schon als die größtmögliche Aufregung. In der Arena, im mehr als taghell ausgeleuchteten Stadion hingegen, darf man doch wengistens brüllen, was das Zeug hält ....

 

Frankfurt, 6. September

Ich war in einer gemischten Gruppe mit englischsprachiger Führung; am Ende des etwa vierstündigen Rundgangs fragte mich ein Hollländer: "Did'nt you find this strange?" Es war sehr viel von "the Germans" die Rede gewesen, die Deutschen waren in Auschwitz die Urheber und Täter. Ich bezog die Frage also auf meine eigene Herkunft und antwortete nach kurzem Nachdenken: "Who would not find this strange?" Danach erzählte ich von Kulkas Buch und wie Kulka berichtet, dass er erst jetzt, im hohen Alter, zum erstenmal öffentlich darüber spricht, dass er als Junge in Auschwitz war. Er begründet daslange Schweigen damit, dass er sich seine Sprache hatte bewahren wollen; er musste verhindern, dass sich Klischeestrukturen in seine Erinnerungen mischten.  Ich wies den Holländer, als Beispiel, auf eine Ausdrucksweise unserer Führerin hin: sie hatte Frauen und Kinder, die umgebracht wurden, "Unschuldige" genannt, wie man das so tut; waren die ermordeten Männer aber im rechtsstaatlichen Sinne nicht genau so unschuldig? Der Holländer verstand, was ich meinte, und wir schieden mit freundlichen Blicken voneinander.

In den Gesprächen, die man so vor und nach den Konzerten führt, wurde ich gefragt, was ich von Polen, oder von Krakau, hielte. Jeder schien erstaunt, dass ich zum erstenmal dort war. Ich sagte, dass alle Leute mir sehr freundlich entgegenkämen; ich fand die Polen im übrigen sehr katholisch und sehr national. Lächelnde Zustimmung. Wahrscheinlich hängt das zusammen, denke ich, und vergleiche mit Frankreich. In Bordeaux, vor fünf Jahren, erfuhr ich von fundamentalistischen Katholiken, die gleichzeitig nationalistisch gesinnt waren (eine Kundschaft des Front National); doch sie waren nicht freundlich, sie schotteten sich ab. Ihre geistliche Geschichte stellten sie mit Legenden dar, während diese, an anderer Stelle von richtigen seriösen Historikern vorgetragen, ganz anders klang. In Krakau besuchte ich das "Collegium Maior", das älteste Gebäude der alten Univesität, und dort wechselte das Narrativ zwischen Legenden und historischen Fakten hin und her. "Ja," sagte die junge Frau, "ich studiere Geschichte und haben Methodik gelernt." Mir fiel ein, dass in England ein Streit zwischen "Historians for Britain" und "Historians for History" ausgefochten wird. Sie nickte.

Offenbar ist Polen in der Gegenwart angkeommen.

 

5. September

Im August besuchte ich zum erstenmal Polen. Ich flog für eine Woche nach Krakau, weil mein Enkel Emil Reinert dort Klavier spielte. Er nahm auch an einem Sommerkurs teil. So kam ich in einen festen Kreis, der aus  in- und ausländischen Polen und sonstigen Nationalitäten bestand. Ich führte 4 Lektionen Polnisch aus dem Internet ausgedruckt bei mir und versuchte, sie auswendig zu lernen. Das half ein bisschen, ich kam nicht weit. Polnisch erschien mir unter diesen Umständen als eine komplexe Sprache, die sehr viele Nuancierungen ermöglicht. Es leuchtete mir ein, dass man Lust hat, Polnisch zu lernen.

In meinen sechs Tagen hatte ich natürlich auch anderes zu tun. Zum Beispiel die Stadt kennenlernen. Krakau wird von allen gerühmt, die je dort waren. Es herrschte ein enormer Touristenandrang, besonders von jungen Leuten. Sie kamen von überall. Doch sah ich keine unangenehmen Szenen von Betrunkenen und Gröhlenden. Nicht einmal an dem Tag, als die "Tour de Pologne" auf dem Hauptplatz der Altstadt ins Ziel fuhr. Nur die Lausprecher dröhnten .....

Krakaus Altstadt ist unendlich schön und unaufdringlich renoviert und wiederhergestellt worden. Man fühlt sich wohl dort. Sie repräsentiert die polnische und die Krakauer Geschichte, die europäische Geschichte ist. Das wird besonders anschaulich an dem Marienaltar von Veit Stoß in der zentralen Marienkirche. Veit Stoß, ein Bildschnitzer aus Nürnberg, war ein so berühmter Künstler, dass die reichen Bürger - Krakau war im 15. Jahrhundert, eine der wichtigsten und größten Handelsstädte der Welt - ihn zu sich einluden. Er schuf den größten Schnitzaltar Europas. Ich saß lange davor, betrachtete die Figuren, den Aufbau. Schließlich kaufte ich mir sogar ein Buch dazu, damit ich mich zuhause besser an den Anblick erinnern könne.  Dieser Altar bietet neben der theologischen Anschaung und den künstlerischen Höhepunkten auch ein lebendiges Bild von der Zeit seiner Entstehung: Kleidung, Beziehungen, Hierarchien. (Maria erscheint immer kleiner als die umgebenden Männer, obwohl ihr der Altar gewidmet ist; andere Frauen kommen fast nicht vor.)  Veit Stoß wurde eingebürgert, sein Name wurde auf Polnisch geführt (Wita Stwosza), viele Jahrhunderte lang galt der Künstler als Pole. Erst im 20. Jahrhundert entdeckte ein Historiker die Ausbürgerungsurkunde von Nürnberg. Er war also Deutscher UND Pole und brachte die neuesten künstlerischen Entwicklungen aus seiner Heimat mit, erreichte in Krakau einsame Gipfel seines Könnens.

Ich besichtigte außer dem Dom auch des älteste Gebäude der ruhmreichen Universität, die im 14. Jahrhundert nach dem Vorbild von Bologna gegründet worden ist. Berühmte Namen wie Kopernikus sind mit ihr verknüpft. Heute studieren dort rund 15.000 Studenten. Ich stieg auch auf den"Wawel", das ist eine Felsenhöhe über der Weichsel, auf der die Stadt ursprünglich gegründet wurde, mit Burg und Dom und Festungstürmen. Die heutige Stadt entwickelt sich hinter dieser Anhöhe, vor Überschwemmungen geschützt.

Gleich am ersten Tag besuchte ich Kazimierz. Das Besondere dieses Stadtteils besteht darin, dass sich ab 1495 hier die Juden niederließen, nachdem sie aus Krakau selbst vertrieben worden waren. Damals war Kazimierz eine selbstständige Stadt, durch einen Arm der Weichsel von Krakau getrennt. Der jüdische Stadtteil wurde durch eine hohe Mauer von dem Rest getrennt - in den mir zugänglichen Texten steht nicht, ob die Mauern als Ghetto von außen bewacht wurden, oder ob sie vielmehr dem Schutz von innen her galten und unter jüdischer Kontrolle standen. Desungeachtet entstand hier ein europäisches Geisteszentrum; ganz früh eröffnete hier die erste Druckerei Polens ihren Betrieb. Auch der Zionismus fand ein Zentrum hier. Im 19. Jahrhundert durften die Juden wieder in Krakau wohnen; später wurde Kazimierz eingemeindet und der Weichselarm zugeschüttet. 1939 gab es in Krakau 130 Synagogen und Bethäuser. Die Deutschen hausten furchtbar: als sie abzogen, lebte in Krakau kaum noch ein Jude.Heute präsentiert sich Kazimierz als ein Anziehungspunkt für Touristen, mit jüdisch-israelischen Restaurants und Klezmer-Musik. Von den sechs oder sieben erhaltenen Synagogen werden zwei als solche genutzt; im übrigen gibt es Museen, Kulturzentren und Kirchen.

Auschwitz und Birkenau liegen 90 km weit von Krakau entfernt. Als Tourismus-Ziel werden die Orte täglich von unzähligen Klein- und Großbussen angesteuert. Der Besuch ist sorgfältig durchorganisiert. Polnische Fremdenführer (meist junge Frauen) halten Führungen in vermutlich allen wichtigen Sprachen der Welt ab. An dem Tag, als ich dort war, herrschten 34°C, und der fast 1 km lange Fußweg in Birkenau von der Selektionsrampe bis zu einem Wäldchen an seinem Ende wurde uns auf Anweisung des Direktors erspart. Am Vortag waren Besucher ohnmächtig geworden. Ich hatte mich zu dem Auschwitz-Trip entschlossen, weil ich den Ort selbst sehen wollte - aus noch so viel Lektüre lässt er sich nicht erfühlen.

Ich besitze ein Buch von Otto Dov Kulka, einem israelischen Historiker meines Alters, der als Kind nach Birkenau gekommen war,  schließlich das Lager überlebte. Er schrieb (in seinem 2013 auf deutsch erschienen Buch): "... gehörten zu unserm Alltag: die Bilder, vor allem gegen Abend, wenn der Himmel langsam dunkel wurde und wir zu den Krematorien schauten, die still und stetig brannten, die einige Meter hohen Flammen, die aus den roten Backsteinschornsteinen aufschossen, und der Rauch, der über diesen Flammen emporstieg, und dann dieses Rätsel, das mich und wohl uns alle beschäftigte: Wie geschieht es, dass das Leben, das massenhaft in langen Schlangen dort hineinströmt und von diesen Gebäuden aus rotem Backstein mit den schrägen Dächern verschluckt wird, dass dieses Leben zu Flammen wird, zu Licht und Rauch, sich auflöst und in demselben Himmel verschwindet, der langsam dunkel wird?" (Aus "Landschaften der Metropole des Todes" von Otto Dov Kulka, DAV, München.) Ich stellte mir vor, dass der Wald am Ende des Weges von der Rampe, dass dort die Schornsteine des Krematoriums gestanden hätten, vor denen wir nun dank der Sommerhitze bewahrt blieben....

 

 

 

 

 

 

28. August

Warum nur warte ich manchmal so lange, bis ich wieder was schreibe?

Es liegt daran, dass ich zu viel erlebe, dass ich es nicht gleich in eine Form bringen kann, die öffentlich verantwortbar wäre; dass ich mich sofort gelassen und bedächtig ausdrücken könnte. Und ehe es sich ein wenig gesetzt hat, kommt schon das nächste, und so fort.

Vorgestern besuchte ich bei herrlichem Abendwetter - milde, sonnig, windstill - einen "Event", der in manchen Mitteilungen als das derzeit spannendste Literaturereignis der Stadt dargestellt wurde. Das erfuhr ich indessen erst hinterher. Ich hatte nur, als ich an einem Kiosk auf der Holbeinallee vorbeikam, ein handgroßes Zettelchen bemerkt, auf dem eine "Lesung" unter dem Titel "Theke, Texte, Temperamente" für Mittwoch Abend angekündigt war. Wer liest, und was, blieb im Unklaren. Es gab Reklame für "Binding". Ich wurde neugierig, und da ich nur fünf Minuten zu Fuß bis zu dem Wasserhäuschen, wie die Frankfurter sagen, zu gehen habe, war ich frühzeitig da.

Ich ergatterte einen halbwegs ordentlichen Platz auf einer Bank an einem Tisch, besorgte mir eine große Flasche Wasser und wartete ab.

Mir gegenüber saß eine junge Journalistin, welche die Protagonisten des Abends interviewte. Das war praktisch, denn so erfuhr ich Hintergründe und Zusammenhänge und Ziele, wie sie mir sonst wohl nicht deutlich geworden wären. Wie sie lächeln konnte, die reizende junge Frau! Wie gescheit sie ihre Fragen stellte, mit sanfter Stimme und hellwachem Verstand!

Es steckte eine Menge Begeisterung in den Darstellungen der jungen Herren (eine Frau war auch dabei, auch begeistert), und so blieb immer wieder eine dunkle Stelle, die es zu erhellen galt. Ich verstand, dass sich hier eine Gruppe junger Intellektueller seit einigen Monaten, oder einem knappen Jahr,  vorgenommen hat, an alternativen Locations eine Art literarisches Quartett zu etablieren, aber ja nicht auf die Weise von Reich-Ranicki (sie gebrauchten natürlich das Wort "Altmeister" nicht, aber es klang durch), autoritär und abgehoben, nein, man wollte ganz nah am Publikum sein und vor allem spontan reden.  Nichts vorher abmachen, nicht schon die Meinung des andern im voraus kennen. Spontan und authentisch. Wie sie denn die zwei Bücher ausgewählt hätten, über die sie sprechen wollten? Darauf hätten sie sich natürlich geeinigt, das sei auch nicht schwierig gewesen, denn speziell das erste Buch habe überall und nur positive Reaktionen ausgelöst. Das zweite Buch sei von einem Fuldaer; aber da ja Frankfurt die einzige Bücherstadt in Hessen sei, wolle man alle Hessen zu "Frankfurtern" erklären; in diesem Fall war von einem "local hero" die Rede. Der Fuldaer selbst war abwesend, was damit entschuldigt wurde, dass er "heute Geburtstag" habe.

Was soll ich sagen, ich blieb drei Stunden, es tat mir nicht leid - aber mein Fazit war: so würde ich mit Literatur nicht umgehen. Beim ersten Roman handelte es sich um eine Übersetzung aus dem Amerikanischen, bei dem nicht mal der/die Übersetzer genannt wurden; der Verfasser war ein jüdischer Erfolgsautor, der mit dem üblichen jüdischen Humor eine "Autobiografie" geschrieben hatte, in welcher ein Knabe, er selbst, als "Versager" gezeigt wurde, wie gewöhnlich bei Künstlern, deren Eltern ihn gern als Jurist oder Arzt gesehen hätten. Im Gespräch unseres Podiums am Wasserhäuschen aber war immer nur von dem armen Jungen die Rede, den keiner mochte, über den sich alle lustig machten. Also die Selbstmitleid-Schiene, auf der sich jüngere Männer so wohl fühlen. Von dem ursprünglichen Humor blieb nichts.

Den Humor machten die Protagonisten selber, er wirkte etwas dünn. Nicht nur auf mich. Denn die älteren Herren, die sonst am Wasserhäuschen zuhause sind, beanspruchten Hausrecht und nutzten fleißig das Mikrophon (technisch lief alles wie am Schnürchen). Der eine sprach über Sachsenhausen, ein anderer über die aktuelle Situation der Flüchtlinge, für die er Verständnis forderte; ein Kasache wurde konkret, was Flüchtlinge anging. Ganz zuletzt rezitierte einer "Über allen Gipfeln ist Ruh" von Goethe; die letzte Zeile änderte er in "balde schweigest auch du". Der Moderator korrigierte unwirsch: "'Ruhest auch du' heißt es richtig!"

Der Fuldaer kam dabei etwas zu kurz. Aber er hatte sowieso kein Buch geschrieben, sondern nur eine 20seitige Erzählung, und bei dieser vermisste  die Podiumsdiskutantin "den Erkenntniswert".

Ich verbrachte drei Stunden unter jungen Frankfurter Künstlern - Literaten, Filmleuten, bildenden Künstlern, Organisatoren verschiedenster Art, meistens zwischen zwanzig und vierzig, Männer und Frauen, und ich kehrte zufrieden nach Hause. Mir schien, der Zeitgeist habe ich mich einen Moment lang angeweht.

 

 

 

 

8. Juli

Aus Paris brachte ich ein Buch von Judith Revel mit, es heißt „Foucault avec Merleau-Ponty“. Über dieses „mit“ denke ich noch nach: werden die beiden Philosophen durch das „mit“ der Judith Revel gewissermaßen verheiratet? 

Ich fragte den Buchhändler: „Ist Revel vielleicht eine Tochter des berühmten Journalisten, wie hieß er noch ...?“ – „Jean Francois Revel?“ Er schaute gleich im Internet nach. Tatsächlich war sie die Tochter eines anderen berühmten Revel: eines ehemaligen Direktors – nein, Präsidenten - vom EHESS, einer Pariser Elite-Hochschule für „Sciences Sociales“, also Soziologie. Von dieser Schule, die erst vor 40 Jahren gegründet wurde, hörte ich zum erstenmal vor ein paar Monaten, beim Vortrag von Heinz Wissmann in Bad Homburg.

Judith Revel selbst lehrt Philosopohie an einer der Pariser Universitäten, an „Paris Ouest Nanterre La Défense“. Sie interessiert sich für das Denken der Gegenwart in Frankreich und Italien und hat sich besonders auf Foucault spezialisiert. In dem neuen Buch also spricht sie über Foucault und Merleau-Ponty, zwei Philosophen mit einem Altersunterschied von 20 Jahren, die  beide keine sechzig geworden sind,  aber ein, zwei Jahrzehnte lang gleichzeitig gewirkt haben. Foucault wurde 1926 geboren, Merleau-Ponty 1908. Die Bedingungen für die Möglichkeiten der Erfahrung beschäftigten Foucault, so beginnt Revels Buch.  Für Foucault bedeutete Philosophie das Hinterfragen unserer Art und Weise, die Welt zu sehen, in Worte zu fassen und darin zu handeln. Zum Beispiel „Geschichte“ – alles was darüber erzählt wird, ist geprägt vom geschichtlichen Moment, in dem es erzählt wird...  Doch plötzlich taucht ein Begriff auf – der Zynismus – der sich aus der Antike bis heute erhalten hat und sich nicht verändert. Zynismus aber verändert den Blick auf die Geschichte ....

  

Revels dichte Schrift wird getragen von einer Kraft der Begeisterung, die sich die Franzosen bislang bewahrt haben. Sie begegnete mir überall in Paris – oder ich war dieses Mal besonders offen für sie.  Ich fand in der Beziehung einen großen Gegensatz zu Deutschland, was mir richtig bewusst wurde, als ich kurz danach im Frankfurter Literaturhaus einem Gespräch zwischen Literaturkritikern und Autoren lauschte, in deren Büchern es ebenfalls um die Beziehung der Menschen zur Welt ging.  (Ich habe gestern hier schon darüber geschrieben.)  Besonders auffällig kam mir der Unterschied  zu Revel bei der Diskussion über ein Buch mit dem Titel „Der lange Sommer der Theorie“ vor, das von dem aufgeregten Umgang mit „Theorie“ zwischen 1960 und 1990 in Deutschland (West) handelte, d. h um die Auseinandersetzungen um und nach 1968.  Der Autor war nicht anwesend, es redeten vorwiegend die Literaturkritiker. Wie erstaunlich die damalige Befassung mit der Theorie sei, was man sich heute ja gar nicht mehr vorstellen könne; ja, es seien Freundschaften wegen der Theorie auseinandergegangen - unvorstellbar! Die Herkunft dieser „Theorien“ wurde mit den Namen Adorno und Horkheimer umrissen, ansonsten brauchte man weiter nichts zu definieren, denn die Mehrzahl der Zuhörer im Saal war alt genug, um das alles selbst miterlebt zu haben, meinten die Literaturkritiker.

In meinen Ohren klang das wie ein Beerdigungsritual ohne Trauer. Insgeheim verglich ich mit Revel: Sie schrieb über Philosophien, über Gedankengebäude, über ein Denken mehr in die Richtung von Ideen, bei Foucault, mehr in die Richtung von Leiblichkeit und Leben, bei Merleau-Ponty, sie verglich und stellte gegenüber. Im Raum, der durch  ihre Unterscheidungen entstand, siedelte sie neue Gedanken an, eine Entdeckung von Vielfalt, ein hoffnungsfroher Blick in die Zukunft ....

 

Erst Jan Assmann, der Autor des dritten Buches, das behandelt wurde, richtete mich wieder auf: „Exodus“ hieß die neue Schrift des emeritierten Ägyptologen und stellte die Frage nach der Gewalttätigkeit des Monotheismus an diesem Beispiel. Assmann ging aber nicht von der oft vertretenen Auffassung aus, dass der beschriebene Gott so und soviel Tausend Menschen einfach umgebracht habe, ein Rachegott also, voller Willkür, sondern Assmann stellte den Exodus (den Auszug des Volkes Israel aus Ägypten) als eine „Erzählung“ dar, als etwas, das nachträglich von Menschen über Erinnertes geschrieben worden war.  Eine solche Erzählung bringe Sinn in das erinnerte Geschehen, die Erzählung werde weitergegeben und erhalte sich dadurch, und so entstehe Treue, die Treue des Volkes Israel zu seinem Gott und seinem Wort.

Was mir daran gefallen hat? Es war die Umkehrung der Perspektive, es war die Relativierung eines blinden religiösen Glaubens, es war die Eröffnung des Selberdenkens für den Menschen, indem er erzählt, indem er Sinn schafft, diesen Sinn über Generationen weitergibt, und eben darin seine Stabilität findet. So bekam auch der Begriff  "Treue" eine neue Lebendigkeit.....

 

 

 

 

 

7. Juli

Der Türcke türkt - dieser Kalauer gefällt mir zu gut, als dass ich ihn runterschlucken möchte. Der Name weist auf den Autor eines "Ursprung des Geldes" hin, eines Buches, das kürzlich neben andern Büchern im Frankfurter Literaturhaus vorgestellt wurde. Prof. em. Türcke stellte den "Ursprung" in einer Mischung aus Geschichte, Mythologie und Psychoanalyse so dar, dass sie zu "Schuld", "Schulden" und Opfern führte - nach meinem Gefühl diente er sich damit als Diener beim Kapitalismus an, indem er den Blick gewöhnlicher Menschen zu vernebeln suchte. Schuld, Schulden, das kommt bei Deutschen immer an. So denken sie vielleicht nicht mehr daran, dass die Kapitalisten, die Konzerne, vor allem die Reichen reicher machen wollen, auf Kosten der Armen, und nun auch der Staaten. Wie kriegen sie die Staaten an den Wickel? Nun, mit TTIP, dem "Freihandelsabkommen" zum Beispiel, mit dem Konzernen die Freiheit gewährt wird, öffentliche Gremien zu Geldstrafen verurteilen zu lassen, die es wagen, noch Gesetze zum Schutz von Menschen und Umwelt zu erlassen, wodurch die Gewinnspanne der Kapitalisten nach ihrer Meinung geschmälert werde. Geld steht über den Menschen, über seiner Umwelt.

Andererseits: die "Bild" titelt: "Tsipras siegt!"

Hoffentlich bleibt was von diesem Sieg der Demokraten.

Über die beiden übrigen Bücher aus dem Literaturhaus erzähle ich nächstes Mal.

 

3. Juli, II

Das Gedicht der Van hee, das von der Einzigartigkeit der Jugenderinnerungen handelt, spiegelt einerseits den Standpunkt des erfahrenen Touristen (da und da ist es genauso wie hier) und andererseits die Wahrnehmung der Dichterin, wie sie trotz Staub, trotz Vorstadtlärm lernte, ihre Gefühle in Worte zu fassen.

Ich lese das Gedicht heute wie mit neuen Augen .... und es gefällt mir Wort für Wort, in seinem Rhythmus .... es stimmt ....

Inzwischen ist schon wieder so viel geschehen. Letztes Wochenende verbrachte ich in Paris, wo mein Enkel Emil Reinert zum Abschied seines Lehrers die Sonate "Der Wanderer" von Schubert spielte (Satz 1 und 2), sehr schön. Der Lehrer trat als "fonctionnaire de l'État" in den Ruhestand und bereitet sich nun auf eine neue Karriere in Krakau vor, wobei er aber auch in Frankreich noch ein jährliches Chopin-Festival ausrichtet, d.h. er und seine Frau tun das. Dieses Funkeln und Schimmern und Glitzern der Kunst - Adam Wibrowski hat es meisterlich an jenem Abschiedsabend noch einmal zelebriert.

Seit drei Tagen herrscht nun die "canicule", die Hundstage heißt es auf Deutsch - wenn es tagelang auch nachts nicht abkühlt, gebraucht man diesen Ausdruck. "La canicule s'installe" sagte man in Paris. Als ich vorgestern nach Frankfurt zurückkam, stieg grade der Vollmond auf. Ob wir nun zwei Wochen lang Hitze haben werden? Auch in Paris trat die Hitze überraschend auf, die ersten Tage wehte noch eine angenehme Kühle durch die Gassen. Paris sah unvergleichlich schön aus in dieser Luft.

 

Frankfurt, 3. Juni

Hier die versprochenen Notizen zum Europäischen Poesiefestival, zumindest ein kleiner Teil davon:

8. Juni

nun ist das Europäische Poesiefestival auch schon wieder seit zwei Wochen vorüber. Ich denke gern daran zurück. Es ist die Atmosphäre,  die den Unterschied ausmacht, die Stimmung, das Miteinander vorher und nachher.  Es sind die Dichter, die auch im  persönlichen Gespräch etwas ausstrahlen, nicht nur auf dem Podium.  Mit Jean Portante aus Luxemburg – oder aus Paris, wo er seit langem wohnt; ich kenne ihn aber von früher aus Luxemburg – mit ihm  konnte ich wunderbare Gespräche führen; die Weichheit und die Klarheit seiner Gedichte finde ich auch im Gespräch mit ihm,  das überträgt sich auf alles.  Er selbst glaubt, dass im Hintergrund seiner französischen Gedichte das Italienische  lebt, vielleicht ein eher spezifisches Italienisch, vielleicht das seiner Großmutter, oder auch seiner Mutter. In der Veranstaltung,  wo von Übersetzungen die Rede war,  sagte er so etwas wie: jeder Dichter hat seine eigene Sprache, und ich übersetze nicht Griechisch oder Spanisch, sondern den speziellen Dichter, der zufällig auf Griechisch schreibt, und ich bemühe mich seine eigene Besonderheit in die andere Sprache zu übertragen.  Denn Portante schreibt nicht nur, er übersetzt auch, und momentan unterrichtet er an der Uni Luxemburg „Kreatives Schreiben“ auf Italienisch.

13.Juni

Ein Dichter, der mich schon letztes Jahr beeindruckte, aber diesmal noch mehr, war Willem van Toorn aus Holland.  Er ist ungefähr so alt wie ich und hat die deutschen Bombenangriffe miterlebt. Wenn ich von Portante sagen könnte, dass er seine Eindrücke und Empfindungen sich mit der Sprache auseinandersetzen lässt, so ist von Toorn ein Dichter, der Gedanken im Gedicht entwickelt, die von Empfindungen getragen und manchmal auch geleitet werden.  Er ergreift, er überrascht, und bleibt doch immer eingängig.

Miriam Van hee (die eigenartige Schreibweise ihres Namens habe ein Standesbeamter zu verantworten,  sagte sie schmunzelnd) stammt aus Flandern, schreibt selbst Gedichte, übersetzt Gedichte und Prosa aus dem Russischen.  Inzwischen, sagt sie, übersetze sie Gedichte nur noch in der Gruppe, zusammen mit vier, fünf oder mehr  Sprachkennern, die jeder ein eigenes Sonderwissen in der einen oder der anderen Sprache mitbringen.  Sie machen das für sich, ohne Bezahlung, aus Freude ...

Hier ein Gedicht von Miriam Van hee, übersetzt von Gregor Seferens:

Polen oder Österreich

Es ist hier wie woanders, in Polen oder

Österreich, sagt jemand, und

dass die Gärten in England schöner sind

 

Und du siehst dich selbst wieder im Haus

deiner Eltern, abends unter

der Neonröhre in der Veranda, lauschend

 

auf das Rauschen draußen, der Abend

war voller Gedanken, Leiber

schliefen wie Hügel in Landschaften

und keiner sagte: ich zeig dir den Mond

sondern du sahst ihn, er arbeitete sich

langsam empor aus dem Staub

 

der Vorstadt, feierlich und groß

schließlich gingst du ins Haus,

du suchtest im Radio andere Sprachen,

 

Musik, du schriebst, was du hörtest

In Hefte, mit Wörtern

hast du die Zeit versteckt.

 

Frankfurt, 11. Juni

Seit ungefähr zwei Wochen hatte ich keinen Zugang zu meiner Webseite. Dennoch habe ich Tagebuch geschrieben - hier liefere ich einen ersten Teil nach:.

 

3. Juni 2015

 

So reich war der Mai an Ereignissen, dass ich nicht zum Schreiben kam. Er begann in St. Pauli, ja, genau: in dem berühmten Hamburger Viertel St. Pauli. Es ist ein großer Stadtteil, ein äußerst gemütliches Wohnviertel; ich hielt mich in einer Straße auf, deren Hinterhöfe (noch?) voll mit Werkstatt- und Fabrikgebäuden aus dem 19. Jahrhundert standen, wo es wimmelte von kreativen Berufen zwischen Filmgesellschaften, Tanz und Autoreparaturwerkstatt. Ich widmete mich der Feldenkrais-Methode, in diesem Fall konzentriert auf die Bewegung der Füße. So ein Fuß ist ein technisches Wunder, er besteht aus 26 Knochen und vielen anderen Teilen, er ist durchschnittlich 20 bis 30 cm breit und 40 cm lang – auf solcher Grundfläche ruht bei jedem Schritt das gesamte Körpergewicht eines Menschen! Das und mehr entdeckte ich in einem grüngesäumten Hinterhof in der Bernstorffstraße.  An einem Abend ging ich diese Straße hinunter, bis ich an die Reeperbahn und schließlich bis an die Elbe kam. Elbe, das bedeutet Hafen, der Hamburger Hafen – unabsehbar. Ich sah Touristengruppen unter der Führung von „Nachtwächtern“ mit Laterne in der Hand und altmodischem Hut auf dem Kopf herumlaufen.  Unterwegs kam ich an einem modernen Buddhistenzentrum vorbei, an wild bemalten „autonomen“ Häusern, an einer mit Mauern als Sichtblende versperrten Hurengasse.  Zuletzt die ankernden Segelschiffe. Sonntags morgens um sechs ist Fischmarkt. Aber den schaffte ich nicht.

Gut eine Woche später fuhr ich nach Neuendettelsau. Dort feierte Prof. Dr. Renate Jost Geburtstag, und ich war eingeladen. In Neuendettelsau – irgendwo zwischen Nürnberg und Ansbach in Franken gelegen – befindet sich eine evangelische Theologische Hochschule, und Renate Jost hat dort den Lehrstuhl für feministische Theologie inne. Es gab einen Festakt, in einem bis zum letzten Sitz gefüllten großen Saal, mit einem begeisterten Publikum aus Studierenden, Kollegen und Freunden und spannenden Darbietungen. Die Studierenden hatte auch eine Festschrift zusammengestellt, sie heißt „Neues aus dem Puppenkoffer“ und enthält  „Theologische Impulse zu Geschlecht, Macht, Liebe“. Was den „Puppenkoffer“ angeht, so soll Renate Jost als kleines Mädchen in ihrem Puppenkoffer eine Bibel mit sich herumgeschleppt haben. Ein emeritierter Professor erklärte mir am nächsten Tag beim Frühstück, warum diese Hochschule 1948 gegründet worden war: Die Landeskirche habe damit verhindern wollen, dass noch einmal evangelische Theologen einer autoritären Ideologie wie der der Nazis verfallen könnten. Es sollte eine rein kirchlich bestimmte Hochschule werden, ohne staatlichen Einfluss.  Bislang scheint das Ziel erreicht zu werden.

Hier in Frankfurt gab es im Mai „Die blaue Stadt“,  ein Stück für zwei Stimmen von Joachim Durrang im Höchster Theater. Worte wie „so zündet sich die Nacht an, in die schnappend der Mondkörper eindringt“ oder „Wangenknochen schwanken über dem Rippengitter“ oder „das abgeknipste Köpfe in Herzmuskeln wickelt“  erzeugten eine traumähnliche Stimmung, ein Schweben in der totalen Gegenwart. Es sprachen ein Mann und eine Frau, doch nur der Mann ging völlig in den Texten auf, die Frau gab sich Mühe, und das war ihr anzumerken.  Ich bin froh, dass ich dort war, ein ungewöhnliches und gleichzeitig wohltuendes Erlebnis.

Höhepunkt im Mai war aber das „Europäische Poesiefestival“. Darüber schreibe ich nächstes Mal.

 

 

 

 



Frankfurt, den 10. Mai

Als ich vor fünf Jahren nach Bordeaux reiste, um dort zwei Monate lang Anregungen für die Fortsetzung meines Romans zu finden, hatte ich ein Konzept für die Liebesgeschichte meiner Romanheldin entworfen. Es stützte sich auf eine Ausstellung, die zu jener Zeit dort stattfand, eine Ausstellung über 100 Jahre Fluggeschichte in Bordeaux. Dort, dachte ich, bei den Fliegern, den alten Haudegen mit ihrem selbstverständlichen Nationalismus und ihrer unerschütterten Männlichkeit,finde ich den Verführer, der meine junge, im Pazifismus verankerte, idealistische Deutsche in die Verwirrung stürzt.

Dieser Tage fiel mir eine Notiz in die Hände, in der ich das Ergebnis dieser Recherche aufgezeichnet hatte.

"Um es kurz zu sagen: ich fand ihn nicht. Die Ausstellung langweilte mich, ästhetisch wie inhaltlich. Wohl traf ich Piloten, Militärs, ja echte Legionäre, die gern mit jedem sprachen und ihr Wissen ausbreiteten. Sie warben für ihre Branche. Aber ich fühlte nichts, empfand alles irgendwie als falsch, als trübe oder verlogen. Es stimmte nichts. Von Verführung keine Spur.

Nun muss ich meiner Heldin wohl ein neues Schicksal schneidern. Wahrscheinlich brauche ich Zeit. Zeit, um meine Gedanken, die angetroffenen Wirklichkeiten und die Gefühle einer jungen Frau in einen eigenen Einklang zu bringen. Meine Wiederbegegnung mit Frankreich wird nachwirken, daran zweifle ich nicht."

Das schrieb ich kurz nach meiner Heimkehr von Bordeaux. Inzwischen habe ich meiner Heldin ein Schicksal geschneidert, und ich bin sehr zufrieden damit. Es ist nicht spektakulär, es kommen keine Katastrophen mehr vor (die waren schon vorbei), und doch kann die Leserin genügend Spannung wahrnehmen, um Lust zum Weiterlesen zu verspüren. Ja, Frankreich hat nachgewirkt. Merci, la France!

Wen's lockt: "Kindertreu" im Verlag "Auf der Warft".

 

Frankfurt, den 19. April

Wie vermisse ich den Gesang der Amseln! Dort wo ich wohne, gibt es Bäume und Gärten, und bis zu diesem Jahr flöteten um diese Jahreszeit hier auch Amseln. Gestern nachmittag hörte ich endlich wieder diesen majestätischen Gesang, von einem Baum in der Nähe des Main, wo riesige geschnörkelte Villen noch in alte Gärten blicken. Es waren zwei Amseln: eine sang den Solopart, eine andere, fernere, bot ein Echo in anderer Tonart. Welche Freude erfüllte mich!

Warum sind die Amseln aus meiner Umgebung ausgewandert? Hat es mit dem Fluglärm zu tun, der uns seit drei Jahren beschwert? Oder hantiert, ich weiß nicht wer, zu viel mit Unkrautvertilgungsmitten? Oder mit Taubengiften? Denn wer will schon Tauben in der Nähe? Sie sehen zwar schön aus und sind in Gemeinschaft auch putzig zu beobachten. Doch für meinen Balkon sind sie zu groß und verbreiten zu viel Schmutz. Wahrscheinlich vertreiben sie zudem kleinere Vögel. Und die Töne, die sie von sich geben, haben wenig mit Musik und nichts mit Kunst zu tun. Wenn die Brüder Grimm den Taubenruf mit "ruckediguck" wiedergeben, wenden sie schon allerhand Fantasie auf, finde ich.

Die aktiven Fluglärmgegener sind aufs neue in diesen Tagen gedemütigt, ja, verhöhnt worden. Der Flughafen wird um ein drittes Terminal erweitert! gab die Flughafengesellschaft bekannt. Dabei steigen die Passagierzahlen bisher gar nicht entsprechend, und mehr Arbeitsplätze, wie behauptet, gibt es kaum. Nein, der Profit eines Terminal 3 verdient sich anscheinend allein durch die Vermietung der Ladenflächen in so einem Gebäude.Dafür muss die Öffentliche Hand mindestens eine neue Bahnstrecke, neue Straßen, Brücken  etc bauen.

Morgens kurz vor fünf wache ich auf. Einfach so. Von ferne höre ich das erste Flugzeug herandröhnen. Der Flugplan wird eingehalten. Ab fünf dürfen die Flieger landen. Ab abends um elf sollen sie wegbleiben, Das gelingt nicht immer, wie man  gut hören kann. Ich schlafe jetzt meist bei geschlossenen Fenstern. Inzwischen wache ich auch nicht mehr um fünf Uhr auf. 

Nur die Amseln sind weggezogen.

 

 

 

 

 

 

 

 

Frankfurt, den 13. April

Wie ich von einer Freundin erfuhr, ist Günter Grass gestorben.

Für die deutsche Sprache und auch für mich war er ein sehr wichtiger Autor. Besonders in seinen früheren Jahren. So möchte ich aus einem Interview zitieren, das ich in einem Heft von "Text & Kritik" aus dem Jahr 1978 finde. Es ging darin ums Romanschreiben und Moral, in der Nachkriegszeit. "Sich in den Dienst einer Moral stellen bedeutet ja nicht die Phantasie unter Hausarrest stellen...." sagt er, und später:"... Das ist in der Tat der erste Aufriß von Friedensproblemen; wobei das Wort <Frieden> aller La-Paloma-Romantik entkleidet werden muß. Der Krieg, die Aggression, der große <Aderlaß>, das Kräftemessen, das Jüngersche männliche Geschäft - das ist alles außer Betracht gesetzt, wir werden auf einmal für Jahre - ich hoffe sehr viele Jahrzehnte - nur noch mit langweiligen Kontroversen ..."

(der Interviewer: ... politischen Kontroversen ....)

"ja, Friedensproblemen zu tun haben. Das ist für die Literatur, und gerade für die deutsche Literatur, in der Tat eine ungeheure Umstellung, weil sich die Literatur bei uns in diesem Jahrhundert zweimal von Weltkatastrophen zu regenerieren hatte; und diese neue Regeneration geschieht ohne Götterdämmerungsmusik, ohne den reitenden Weltgeist à la Hegel, ohne Katastrophe und ohne großen Umbruch, sondern aus dem Stand heraus in einem schleichenden pluratlistischen Prozeß."

 

Ja, das ging mich an: wie mit Frieden umgehen? Frieden macht viel größere Schwierigkeiten als Krieg, wo die Fronten so eindeutig scheinen. Im Frieden ist nichts mehr eindeutig. Und doch gilt es, Stellung zu nehmen, Standpunkte zu vertreten - es ist nur nicht mehr so  klar, gegen wen ....

 

 

Frankfurt, den 6. April (Ostermontag)

Es wird bald zwei Wochen her sein, da rief mich eine erblindete Freundin an, eine Altersgenossin, und fragte, was ich von dem Flugzeugabsturz halte, die Politiker hätten ihre Termine abgesagt,  alles klinge nach Krieg - sie war sehr erregt. Ihre Nachrichten erhielt sie aus dem Radio.

Ich wusste von nichts und versprach ihr, ich werde im Internet nachgucken und dann zurückrufen. So erfuhr ich vom Absturz der German Wings in den französischen Alpen. Die Reporter sprachen mit ungewohntem Pathos, was mich enorm störte. Noch nie hatte ich solch aufgeblasene Erregung vernommen, wenn ein Flugzeug abgestürzt war. Ungefähr die Hälfte der Passagier waren Deutsche, doch schien mir das nicht der Hauptgrund. Mein Gefühl sagte mir: German Wings gehört der Lufthansa, und LUFTHANSA STÜRZT NICHT AB. Es war verletzter Nationalstolz. Die Identitätsfrage. Die Reporter wussten, dass sie damit ihr Publikum am Nacken festhielten, dass diesse narzistische Kränkung überall im Lande gespürt wurde. Rund herum um dieses Thema wurde geredet. Natürlich sehr bald die entsprechenden Folgen bedacht: die Reputation der Lufthansa, der bedrohte Respekt für deutsche Wirtschaftsprodukte, mitsamt ihrer Vollkommenheit. Im übrigen standen bald die 16  "Schüler aus Haltern" im Mittelpunkt, die ersten Teddybären wurden zusammen mit Teelichtern an geeigneten Orten deponiert. Das Ganze wurde "Trauer" genannt.

Ich tippte als erstes auf einen technischen Fehler. In dem Sinne rief ich meine Freundin zurück: es sei ein ganz normaler Absturz, sagte ich, die Reporter täten sich nur aus verletztem Nationalstolz so wichtig. Und alle anderen folgten dem öffentlichen Trend. Mit Krieg habe das nichts zu tun. (Wir haben beide, jede auf ihre Art, noch den richtigen Krieg miterlebt, wir wissen, wovon wir reden.)

Inzwischen hat sich nun das Thema ins Psychopathische verschoben. Ein Pilot hatte sich dermaßen in seine Wut verrannt, eine Wut vermutlich gegen alle, die Kollegen, die Firma, letztlich auch gegen sich selbst, dass er kaltschnäuzig den Untergang der Kollegen und Kolleginnen, der Passagiere und Passagierinnen, des Fugzeugs plante und bewirkte. Lufthansa kann aufatmen. Die Schadensansprüche werden sich in Grenzen halten.

Luise Pusch, die große Sprachwissenschaftlerin, die Verachtung gegen Frauen aus dem Gebrauch der Worte abliest, meldete sich zu Wort. Wenn die Lufthansa, schrieb sie, unter den Piloten eine Frauenquote einführen würde, dann würde solch ein Unglück nicht passieren. Ist die Behauptung so kühn, gar taktlos, wie manche in wütendem  Protest schreiben? Oder darf ich als Beleg-Beispiel die Polizei nennen, die offenbar die besten Erfahrungen mit der geschlechtlichen Durchmischung ihrer Polizeitruppen macht? Damit die Wut nirgendwo überhand nehme?

Pusch wies gleichzeitig darauf  hin, dass von den "16 Schülern" vierzehn Mädchen gewesen seien. Da merkte ich, dass ich mir tatsächlich bis dahin nur 16 Jungen vorgestellt hatte, und musste ihr von Herzen recht geben. Auch die "zwei Lehrer" waren Frauen.

Es sollte mehr Pilotinnen geben, bitte sehr. Vielleicht würden die dann auch, wie ihre männlichen Kollegen und von ihnen, lernen, dass sie als Frauen ebenfalls für einen gerechten Lohn streiten (und streiken) dürfen! Ein künftiges Vorbild, gewissermaßen...