Tagebuch Winter 2013/14

Frankfurt, den 21. März

Als ich heute morgen das Fenster öffnete, blies mir ein kräftiger Wind ins Gesicht. Richtig, dachte ich, es ist Frühlingsanfang, der 21., und ein altes, kompliziertes Wort stieg mir vor die Augen: Äquinoktialstürme. Ich entdeckte es einst in den Büchern meiner Jugend, ich las viele Seemannsgarne damals. Ich wohnte im Inland, hatte nie das Meer gesehen und doch - es atmete etwas Vertrautes, dieser Kampf ums Leben, die Schifffahrt, und das waren nicht nur Störtebeker oder Raabes "Schwarze Galeere". Oder diese vielleicht doch ganz besonders, obwohl ich mich nicht erinnere, ob in der Schwarzen Galeere überhaupt ein Sturm vorkommt. Eher Nebel…..

Ich lernte Latein, konnte mir also die Tag- und Nachtgleiche aus dem fremden Wort herausfischen, äquinox; das Besondere an den Stürmen aber war, dass Seeleute jedes Jahr mit ihnen fest rechneten, dass sie auf jeden Fall kamen und dass jeder Seemann sich in dieser Zeit daheim aufhalten sollte. Wer "draußen" war und in den Sturm geriet, dem genade Gott, sagten sie. Die Äquinoktialstürme waren eine Schicksalsgefahr, selbst zuhause konnten sie Schaden stiften.

Ich überlege, warum ich mir ausgerechnet dieses komplizierte Wort so sicher merken konnte, ich als Landratte. Noch heute denke ich jedesmal, wenn bei mir hier in Frankfurt der Sturm tobt: oben an der Küste ist er viel schlimmer! Und habe es doch nie erlebt.

Vielleicht war das eine kindliche Weise, den Krieg zu verarbeiten. Selbst ein Kind, das heil durch den Krieg gekommen ist, ahnt, spürt die Gefahren. Es kennt sie nicht, es wird nicht drüber gesprochen. Doch in den Nervenbahnen lagern sich die unbewusst aufgenommenen Erfahrungen ein, die Ängste. Sie wollen heraus, sie wollen an die Oberfläche. In den Äquinoktialstürmen fand mein Gemüt den Ausweg. Sie waren Schicksal, ja, Natur - genau wie der Krieg aus kindlicher Sicht - sie bedrohten Leib und Leben, Hab und Gut. Dass sie weit weg, oben an der Küste, stattfanden, war das Beruhigende an ihnen.

Die Sonne scheint und der Sturm heult um das Haus. Ich sitze sicher im Warmen und Stillen.

Die Schwarze Galeere handelte von einem Freiheitskampf: die Flamen erhoben sich gegen den spanischen Kaiser. Für mich als Kind sah das genau so aus wie der Krieg, den "wir" führten: um die Freiheit. Wir sangen die Verse von Baldur von Schirach "Nur der Freiheit gehört unser Leben, lasst die Fahnen dem Wind", ohne zu bedenken, was das bedeutete, es stand ja im direkten Gegensatz zu "Die Fahne hoch".

Ach, wird man die Vergangenheit den nie los? Nein, nie ganz. Dieser Tage hörte ich in Mainz einen Vortrag von Prof. Benz über Theresienstadt; ich nahm sein Buch darüber mit. An der Geschichte des Lagers Theresienstadt wird die Bosheit, die Verlogenheit, die fürchterliche Amoral der Nazis augenfällig. Die Geschichte von Theresienstadt 1940 bis 1945 besteht nur aus Lügen, soweit sie die Herrschenden betrifft. Wenn der berühmte Rabbiner Leo Baeck, der dort war und lebend herausgekommen ist, mit seiner ganzen Autorität später sagte: Die Geschichte der deutschen Juden ist abgeschlossen, ist zuende, dann wird er dieses Lügen gemeint haben. Nach solchen von den Staatsrepräsentanten vertretenen Lügen wird es kein Vertrauen mehr geben.

Ich lebte als Kind, während des Krieges, vier Monate lang in der Stadt Lobositz, die nur fünf Kilometer von Theresienstadt entfernt liegt. Irgendwie vernahm ich etwas, damals, es war aber mit Denkverbot belegt. Dieser Tag googelte ich mir die Landstraße von Lobositz nach Theresienstadt auf den Bildschirm. Sie hieß "Terezinska". Hieß sie zu meiner Zeit "Theresienstädter Landstraße"?

Meine Türen klappern vom Wind, obwohl sie geschlossen sind.

 

Hier beschließe ich den Winter und beginne mein Sommertagebuch!

 

Frnkfurt, 15. März

Wenn die Sonne hinter den Wolken verschwindet, schlüpf ich doch gern wieder in die Winterjacke hinein. Die letzten Tage zeigten, wie immer wieder einmalig der Frühling sich zu inszenieren vermag: mit den weißen, lichten Bäumen, aufsteigenden Ampeln gleich, gegen graue oder kommerzielle Hintergründe .....

Aus dem Zeitungskasten ziehe ich meine Samstagstaz und sehe das päpstliche Konterfei als Titelbild: "Für alle Fälle Franz" steht da, und die Frage, wie der neue Papst in einem Jahr die Kirche verändert habe. Schon 'n bisschen blöd: wenn etwas 1.800 Jahre lang gewachsen ist, wie soll man es in einem Jahr verändern? Franziskus biete ein neues Bild, ein neues Lächeln, einen anderen körperlichen Rhythmus als die alten Europäer, seine Vorgänger, aber mehr?

Letzte Woche wohnte ich der Aschermittwochsmesse in München bei. Der Erzbischof persönlich zelebrierte sie, umgeben von seinen Gehilfen in ihren kunstvollen violetten oder weißen Gewändern. Die Messe samt Predigt und einer künstlerisch-theatralen Einlage fand in der prächtigen Frauenkirche, dem Dom, statt. Der Erzbischof zitierte aus der Bibel (ich schreibe aus dem Gedächtnis): "Geht nicht zu den Heuchlern in der Synagoge" - er zitierte den Satz sogar zweimal.

Das hat mich sehr gewundert. Warum sagte er das? Ich vermute, er hat Paulus zitiert; dieser, selbst ein Jude, sah sich als Erneuerer und wollte sich von den Alten, den Gegnern, unterscheiden. (Auch Jesus selbst betrachtete sich übrigens als Jude.) Kann man als Katholik heutzutage noch seine Gegner in der "Synagoge" verorten?? Was sollen die Gläubigen unter diesem Zitat verstehen? Dass keinesfalls die heutigen Juden gemeint sind? Ja, wer denn sonst??

Fast könnte ich daraus schließen, dass die in der Kirche überlieferten Formeln des Antijudaismus unverändert weiter benutzt werden.

Es wäre doch eine schöne Aufgabe für Papst Franziskus, den Antijuadismus aus der Liturgie endgültig zu vertreiben. Wenn er diese Macht aufbrächte, hätte er Großes Geleistet.

 

Frankfurt, den 12. März

"Hast du gehört, was die Lewitscharoff gesagt hat?? Die war mir schon immer unsympathisch!" - das sagte mir letzte Woche ein Freund am Telefon, mit rechtschaffener Empörung in der Stimme.

Da ich kein Fernsehen gucke, hatte ich noch nichts gehört. Ich suchte mir die Rede im Internet heraus und las sie.

Die Büchner-Preis-Trägerin Sibylle Lewitscharoff hatte in Dresden eine öffentliche Rede zum Thema "Tod und Geburt" gehalten, ebenfalls aus Anlass des Aschermittwochs, nehme ich an. Ich bin der Autorin einmal leibhaftig begegnet, da mochte ich sie auch nicht sehr. Es geht eine so enorme Kraft von ihr aus, dass man sie leicht als Angriff empfindet, ihre bloße Gegenwart als umwerfend erfährt. Später las ich einige ihrer Bücher, vor allem den Blumenberg-Roman, und begann sie zu verehren: ihre Sprache, ihre Wahrhaftigkeit, ihre Fantasie. Ihre Sorgfalt trotz aller Lust am Extremen.

Eben diese Eigenschaften fand ich auch in ihrer Rede wieder. Sie spricht darin von sich selbst, von den Exzessen, die ihr in Kindheit und Jugend widerfahren sind, mit denen sie sich auseinandersetzen musste. Die Rede wirkte auf mich wie eine abgeklärte Antwort auf das Tun oder Nichttun der Eltern. Beide schon eine Weile gestorben, die Eltern; es wurde Zeit, so empfand ich, dass Lewitscharoff empfand, dass sie die Eltern in Frieden ruhen lassen könne. Und so kam die Poetin, die ja auch ihre schwärmerische Seite nie verleugnet, zu einem anderen Ausblick, so fand sie Felder, in denen die Eltern das Richtige getan hatten. Sie hatten ihre Kinder durch den Jahrmillionen-alten Geschlechtsverkehr gezeugt, und diese Kinder standen damit in der Reihe aller Vorfahren und wussten insoweit zumindest, wo sie hingehörten.

Wie aber, so fragte sich Lewitscharoff, geht es den Kindern, die im Reagenzglas gezeugt wurden, die nicht mit ihrem biologischen Vater - oder evt. im Falle von Leihmüttern - nicht mit ihrer biologischen Mütter aufwachsen? Wie finden sie sich, wo reihen sie sich ein? Und dann erscheint, vorsichtig eingeführt, unsicher ausgesprochen, der inkriminierte Terminus "Halbwesen" - so kommen ihre solche künstlich Gezeugten vor ..... Dieses Wort brachte alle politisch Korrekten in der Republik auf die Palme, so etwas dürfe man nicht sagen!!

Nur privat darf man sagen, was man fühlt. Seltsam, diese Erregungswelle, der Begriff dazu heißt "Shitstorm", offenbar etwas Importiertes ... Oder eben nur hinter dem Fremdwort Verstecktes .... Wer muss sich verstecken und vor wem?

Lewitscharoff hat sich darauf hin für ihre Bezeichnung bei den so gezeugten Kindern entschuldigt.

Dabei hat sie in ihrer ganzen Rede niemals ihr Verantwortungsgefühl außer acht gelassen. Sie fragte gegen Ende ihrer Ansprache, welche Verantwortung Mütter übernähmen, die den Samenspender ihres Kindes von vornherein anonym halten, und sagte: "Was mich hauptsächlich an all diesen Verfahren stört, sind allerdings nicht nur die Extreme, in denen eine ungebremste Vorausberechnung- und Definitionsgier gegenüber dem eigenen Kind zum Ausdruck kommt, womit dubiose Firmen ihr Geschäft betreiben, es ist die Macht und zugleich die kaum zu tragende Bürde, die damit in die Hand der Frauen gegeben wird."

Diese unerhörte Verantwortung, welche die Frauen leichthin übernehmen, etwas, das sich häufig später nur noch durch unendliche Schuldlast oder durch zunehmende geistige Erstarrung wird tragen lassen....

 

Ich habe Lewitscharoffs Rede sehr schön, sehr schlüssig, sehr verantwortungsbewusst gefunden.

 

Möge allen künstlich gezeugten Kindern die Kraft geschenkt werden, sich selbst und den Andern ihre eingeborene Kraft, ihr eigenes Wesen zu beweisen, zu entfalten, der Welt zum Wohle zu nutzen! Lewitscharoffs Rede kann sie in diesem Streben bestärken.

 

 

 

Frankfurt, den 10. März

 

Über den Aschermittwoch

"Zerbrechlichkeit" hieß diesmal das Motto des Münchner Erzbischofs zum Aschermittwoch. Schon seit Jahren empfängt der Erzbischof "die" Künstler zu dieser Gelegenheit; doch dieses Jahr ging er anders vor. Dieses Jahr ließ er Künstler und Wissenschaftler gemeinsam in der "Anatomie" der Münchner Universität auftreten. Ich war dabei.

Wie komme ich zu einer Einladung vom Müncher Erzbischof?? Der übrigens anscheinend auch "Kardinal" ist, aber in München sprachen seine Untergebenen ausschließlich vom "Erzbischof" - ich vermute, dass sie der eigentlich höhere Titel nicht interessiert, weil er sich nicht auf Bayern bezieht. "Kardinal" ist man in Rom. Wir waren in München.

Ein Freund von mir, Andreas Louis Seyerlein, besuchte mehrere Jahre lang den Münchner Anatomiesaal, um mit den Studierenden zu sprechen; aus diesen Interviews hat er dichte, sensible Texte distilliert. Sein Bruder Johannes Seyerlein hat Fotos von diesem einmaligen und schönen Saal gemacht, von der Arbeit in diesem Saal, von jungen, konzentrierten Menschen bei ihrer Begegnung mit dem Leichnam, mit der Zerbrechlichkeit des Lebens. Und mit der Unverwechselbarkeit jeden Individuums. Darauf wies in seiner Einführungsrede Professor Putz hin, emeritierter Leiter der Anatomie, der das künstlerische Projekt einst ins Rollen brachte. Keine digitale Bilderwelt könne die Begegngung mit der einzelnen Person im Anatomiesaal ersetzen; die angehenden Ärzte erführen nur dort, sozusagen leibhaftig, die Ganzheit jedes Menschen, seine Individualität. Jeder hat doch (normalerweise) fünf Finger an der Hand, und dennoch gleicht keine Hand der anderen! Das selbe gilt für jedes Herz …..

Zum Müncher Anatomiesaal (gebaut am Anfang des letzten Jahrhunderts) gehört auch der wunderbare Hörsaal, wo den Studierenden an jedem Tag ihres sechs Wochen dauernden Anatomiekurses zunächst die zugehörige Theorie vorgestellt wird, in Wort und Bild. Hier versammelten sich letzten Mittwoch gegen halb vier nachmttags die geladenen Gäste und füllten den Saal zu drei Vierteln. Vertreter des Erzbischofs und der Universität hielten Reden; doch erst Prof. Putz fesslte die Zuhörer mit dem, was er sagte. Seine ungebrochene Begeisterung für sein Fach entströmte jedem seiner Worte. Dass er eine Publikation über die Arbeit in der Anatomie vorantrieb, begründete er unter anderm mit dem Gegensatz zu Gunter von Hagen, jenem Präparator, der mit kommerziellen Ausstellungen durch die Städte tingelt. Prof. Putz war der Meinung, dass die medizinische Anatomie, wie sie in München und an anderen Universitäten betrieben wird, unendlich mehr Respekt für die Toten mitbringt als die "Körperwelten"-Ausstellungen das tun. Die Dankbarkeit für die "Donatoren" schwingt hier immer mit. (Es werden nur Leichname verwendet, die vor ihrem Tod von den betreffenden Personen der Universität vermacht wurden.)

Endlich folgten Bilder und Texte, im abgedunkelten Raum. Der Autor und eine Münchner Schauspielerin sprachen abwechselnd, sie die Aussagen der weiblichen, er die Worte der männlichen Studierenden, in kristalliner Darstellung: einfach und direkt, gleichzeitig wie auf einem poetischen Strom dahintreibend. Ohne Eile folgten sie den wechselnden Diapositiven, oder lösten sie aus. Wir, das Publikum, schwebten mit ihnen. Ja, es war ein Schwimmen, ein Schweben; wir wurden fortgetragen. Für dieses tiefe und schwer beschreibbare Erlebnis erhielten die drei Künstler einen sehr langen, ungewöhnlich intensiven Beifall.

Er klingt noch bis heute in mir nach.

Frankfurt, den 1. März

Heute blättere ich meinen Monatskalender um. Den Kalender habe ich von meiner Tochter Pascale Velleine geschenkt bekommen. Wie schon seit vielen Jahren, hat sie ihn mir selbst gemalt; sie erprobt bei dieser Gelegenheit neue künstlerische Ausdrucksmittel. Sie lebt als Zeichnerin und Malerin in Paris.

Dieses Jahr empfinde ich den Kalender als etwas ganz Besonderes, als habe sich was verändert: bei der Künstlerin, in der Welt, oder bei mir.

Besonders das Februarbild ergreift mich auch nach 28 Tagen noch immer. Es strahlt wie aus verborgenen Quellen. Die Figur - die wie meistens bei Pascale Velleine - einen an Comic-Figuren erinnernden Charakter besitzt - verkörpert etwas Persönliches, etwas Lebendiges, das zu definieren mir nicht gelingen will. Eine weibliche Person, deren Augen mit einem Goldschimmer verschleiert wirken, schaut mich an, oder folgt mir nach mit ihrem Blick. Es ist ein freundlicher, leicht melancholischer, selbstbewusster Blick, von einer Person, die sich nicht sehr ernst nimmt und gleichzeitig eine tiefe Würde vertritt.

Nun muss ich umblättern, kann es vielleicht noch ein, zwei Tage hinauszögern - doch was ist ein Kalender wert, dem man erlaubt, das Datum zu versäumen? Das Blatt selbst bleibt mir ja. Vielleicht werde ich's einrahmen lassen und mir an die Wand hängen.

Ich habe soeben meine Erzählung für den 8. März (Lesung am 9. März ab 16 Uhr in Darmstadt, Luise-Büchner-Bibliothek) beendet. Sie eignet sich zum Anstoß für einen ganzen Roman; doch im Moment bin ich froh, dass ich den Anfang und das Ende der Geschichte in einem zehnminütigen Rahmen unterzubringen vermochte. Nach der Lesung nächste Woche Sonntag werde ich weitersehen, zum Beispiel ob ich eine Veröffentlichung zustande bringe. Mit dem Roman wird es ja sowieso länger dauern - bislang brauchte ich immer mehrere Jahre, um einen Roman zu schreiben. Aber nachdem ich die Aussicht habe, meinen jüngsten Roman "Kindertreu" zu veröffentlichen (der Verleger hat schon gesagt, dass der Titel geändert werden muss, um besser dem Marketing-Gedanken zu entsprechen), erhält ja der Ausblick auf einen weiteren Roman eine ganz neue Notwendigkeit.

Mehr will ich dazu aber hier nicht verraten, zumindest nicht, solange der Vertrag nicht unterschrieben ist.

Vordringlich steht jetzt die Arbeit am GSI Darmstadt auf meiner Planung. Die Literaturgruppe POSEIDON, der ich angehöre, hat ein gemeinsames Projekt zwischen den AutorInnen und den Wissenschaftlern in Gang gebracht. Es ist eine große Herausforderung, weil die physikalischen Voraussetzungen, die wissenschaftlichen und technischen Grundlagen der GSI-Arbeit sich ganz, ganz schwer in einem "literarischen Rahmen" entfalten. Wir haben es uns vorgenommen, jeder und jede auf seine oder ihre Weise. Mals schaun, was dabei herauskommt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Frankfurt, 24. Februar

Im Moment wird mir die Zeit knapp.

Ich arbeite an einer kleinen Erzählung für den 9. März, mit dem Thema: "Eine Frau des 19. Jahrhunderts", aus Anlass des Internationalen Frauentags. Ich habe schon eine Menge Ideen, will aber noch nichts verraten. Die Erzählung ist für eine Lesung in der Luise-Büchner-Bibliothek bestimmt und spielt in Frankfurt. Ich habe schon lange Stunden im Stadtarchiv verbracht. Man kann das Archiv allerdings auch vom heimischen Computer aus anwählen, und dabei machte ich ganz neue Entdeckungen. So begegnete mir ein Uronkel, der seinen Sohn 1865 als "Bürger der Stadt" abmeldete, da der nach Vevey (Schweiz) ausgewandert sei. Und andere solche Kleinigkeiten. (Auch ich reiste nach meinem Abitur nach Vevey.....)

Immer wieder viele Gedanken mache ich mir um mein Lesepatenkind, das mit der Zeit älter wird, aber immer noch nicht richtig wächst; es sieht offenbar nicht wirklich gut, oder hat empfindliche Augen, und es soll nun kommende Woche endlich einen Augenarzt aufsuchen. Bin gespannt, ob auch die Frage einer möglichen Gluten-Unverträglichkeit zur Sprache kommt.

Es ist schwer, mit der Mutter - oder der Familie - zu kommunizieren. Sie sagen einfach nichts. Auch wenn ich mit Mutter und Cousins vor einer Woche im Senckenberg-Museum war (da stehen bekanntlich viele Dinosaurier!). Ein wirklich angenehmer, lebhafter Besuch. Alle drei Kinder zeigten großes Interesse, und sie verhielten sich außerdem vorbildlich. Es kam der Gedanke auf, dass wir bei einem nächsten Ausflug das "Dialog-Museum" auf der Hanauer Landstraße besuchen. Doch werde ich wohl wieder wochenlang darum kämpfen müssen, dass wir einen Tag, ein paar Stunden dafür freizuschaufeln. Und was so etwas für die jeweiligen Mütter bedeutet, weiß ich auch nicht herauszufinden. Es geschieht ja nur, weil die Kinder es gern wollen.

Schließlich arbeite ich an einem Aufsatz über die GSI in Darmstadt. Das machen wir im Rahmen der Poseidon-Literaturgruppe, nicht ich allein. Glücklicherweise haben wir dort keinen so strengen Termin-Rahmen.

Ich aber eile jetzt zum Gesangsunterricht. Und heute Abend tagt unser Philosophiekreis in Walldorf.

Halleluia.

 

 

 

 

Frankfurt, den 4. Februar

Hab mit ein paar klugen Leuten über meine Sorge von vorgestern gesprochen. In meiner Umgebung scheint man sie nicht zu teilen. Ein Krieg mit Russland scheint den Leuten jenseits aller Vorstellungen. Umso mehr bin ich erleichtert, wenn ich in der taz lese, dass der Journalist Küppersbusch ähnlich denkt wie ich. "Erleichtert" wäre nicht der richtige Ausdruck - entspricht nur meinen Gefühl - die Sorge als solche wird ja nicht geringer. Aber wenn ich nicht die einzige bin, die sich sorgt, dann gibt es doch Hoffnung. Genau genommen, sollten die Ukrainer sich untereinander einigen, die ja, wie ich höre, tief gespalten sind, getrennt in römisch-katholisch und orthodox-christlich. So ähnlich wie mit Serben und Kroaten, und die sprachen mal "serbokroatisch", was zumindest im Schulunterricht dieselbe Sprache war, während in der Ukraine im Osten russisch und im Westen russisch und ukrainisch gesprochen wird.

Ich weiß nicht viel darüber; was ich weiß, ist, dass es sich nicht lohnt, dafür einen Krieg anzufangen.

Etwas ganz anderes: am Sonntag eröffnete die "Klosterpresse" (Frankfurt, Paradiesgasse) eine Ausstellung unter dem Titel "Wildgartenkinder". Es wurden Fotos von Jo Mayer gezeigt. Wer ist Jo Mayer? dachte ich, als ich die Einladung erhielt. Dann merkte ich: das ist doch "der Dschoo"! Die Kinder erzählen begeistert von ihm, meine Lesepatenkinder und ihre Freunde, von der Riedhofschule. Schätzungsweise hundert Meter hinter der Schule liegt dieser "Wildgarten". Viele, viele Jahre lang war das ein Brachland der Straßenbauplanung, mit Bäumen, Sträuchern, Unkraut. Die Stresemannallee war in diesem Abschnitt nur zweispurig ausgebaut, davor und dahinter aber vierspurig mit Bäumen in der Mitte. Inzwischen hat sich das Verkehrsamt eines anderen besonnen und will eine Straßenbahnlinie bauen statt der Vierspurigkeit. Zwar wurde viel Widerstand laut, weil niemand einen Bedarf für eine solche Straßenbahn sah; doch irgendwer Mächtiges behielt die Oberhand und beschloss letztes Jahr, dass nun mit dem Bau begonnen werden sollte.

Der größte Widerstand kam von den Anhängern des Wildgartens. Dort hatte sich seit den siebziger Jahren ein einzigartiger Kinderspielplatz entwickelt, und der Initiator, der Anführer, der Erfinder dieses Ortes, den man von der Straße her gar nicht einmal wahrnimmt, der große Meister des Wildgartens, das war Jo Mayer. Von Haus aus ein Künstler, hat er im Lauf der Jahre einen Ort seiner eigenen Kindheit aus dem Sudentengau hier wieder auferstehen lassen. Er wurde dort in einem Dorf vor dem Krieg geboren. Das erfährt man in dem Buch, das er mit seinen Fotos aus den Jahren zwischen 1977 und 2005 aus Anlass der Ausstellung herausgegeben hat.

Das alles würde niemanden interessieren, wenn nicht die Kinder wären. Rundum befinden sich zwei große Siedlungen: die Heimatsiedlung und die Knissel-Siedlung, überwiegend mit Sozialwohnungen, mit Familien aus aller Herren Länder - und hier bot Jo den Kindern einen Ort der Freiheit, der Selbstbestimmung, auch des gegenseitigen Kennenlernens und Wertschätzens, bot ihnen die Mutter aller Spielplätze: geheimnisvoll, fantasieanregend, frei. Und sicher. Das ist Jos Genie: wie er den Kindern Sicherheit schenkt.

Ich bin einmal mit ihm und mindestens 200 Kindern in drei Bussen zur Lochmühle gefahren, das ist so ein Vergnügungspark im Taunus. Es kamen viele Mütter mit, auch drei, vier oder mehr professionelle Helferinnen. Jo leitete souverän, er verteilte die Verantwortungen, er hatte seine Augen überall, ohne sich mehr als nötig zu bewegen, er war die Autorität, auf die sich jeder verlassen konnte und in deren Schutz jedes Kinde Entfaltungsmöglichkeiten erhielt und nutzte.

Jo ist eine Institution aus eigener Kraft. Er hat um sein Reich gekämpft, und er konnte es erhalten. Sogar jetzt, wo die Stresemannallee in jenem Abschnitt voll gesperrt ist, weil die Straßenbahngeleise tatsächlich verlegt werden, sogar jetzt hat er den Wildgarten erhalten können: er wurde beschnitten, dafür etwas verlängert, aber er existiert weiter!

Am Sonntag in der Klosterpresse drängelten sich Mütter und Kinder jeglichen Alters. Natürlich auch ein paar Väter. Und immer wieder die Rufe: "Jo, das bin ich!" und Jo erinnerte sich an alle ..... Alle strahlten, es herrschte eine ganz ungewöhnlich Bewegtheit unter den Menschen.

Wer es nicht miterlebt hat, kann womöglich dieses Ausmaß an Dankbarkeit derer, die als Kinder und Jugendliche im "Wildgarten" Zuflucht und Aufbau fanden, nicht wirklich nachempfinden. Am Sonntag aber konnte es jeder sehen, der seine Augen offen hielt.

Frankfurt, 2. Februar

Lichtmess ..... wer kennt das Wort noch? Wem bedeutet es was?

In Luxemburg ziehen heute die Kinder herum und sammeln Süßigkeiten ein. "ich bin der kleine König, gebt mir nicht zu wenig", singen sie auf Luxemburgisch und tragen neben ihren Beuteln eine Gerte, um die ein Wachsfaden gewickelt ist. Doch wird die Gerte nie angezündet. (Vermutlich Brandschutz!)

Eine heidnische Erinnerung an den Frühlingsanfang.

Dieses Jahr scheint ein solcher Tag besonders einleuchtend: die Schneeglöckchen blühen schon, die Amseln singen, was das Zeug hält, unser Eichhörnchen springt fröhlich im Baum herum, anstatt einen Winterschlaf zu halten.

Und ich habe Angst. Angst vor einem neuen Krieg mit Russland. Vielmehr: Angst vor dem leichtfertigem Zündeln mancher Interessenten. Da steht mir als erster der Boxer Klitschko vor Augen. Er tummelt sich auf der sogenannten "Sicherheitskonferenz" in München (die vermutlich vor allem eine Messe für Rüstungsware ist) und ruft: "Man muss kämpfen, um zu siegen!" Er soll doch boxen gehen, da kann er soviel kämpfen wie er will! Die Rüstungsindustrie leckt sich derweilen die Lippen: Braucht man zum Kämpfen nicht Waffen? Verbergen sich dahinter nicht Gewinne? Man denke nur, was die amerikanischen Rüstungsindustrien am Irak-Krieg verdient haben! Außerdem: Die Ukraine besitzt viel fruchtbaren Boden - das lockt die Agrarindustrie an. Die Immobilienspekukation hockt in den Startblöcken.

Niemandem geht es darum, die Ukraine zu einem Vollmitglied der EU zu machen - nein, nur Gewinne werden erwartet. Die Leute sollen dann sehen, wo sie bleiben. So ist das Leben, sagen die Reichen.

Und natürlich die NATO: volle Herrschaft über das Schwarze Meer, das wär doch was. Das lockte schon die Engländer vor 150 Jahren. Churchill und Roosevelt hätten nichts dagegen gehabt, Hitler probierte es schon mal aus.

Stattdessen redet unser Herr Einfalt von Bundespräsident ebenfalls auf der "Sicherheitskonferenz", um zu sagen, Deutschland müsse sich militärisch mehr engagieren. Vielleicht guckt er ja nur nach Afrika, das ist weit weg. Aber kann er sich nicht mal umgucken, ehe er so unverantwortliches Zeug redet?

Möglicherweise wird diese ganze Zündelei ja auch durch die bevorstehende Winter-Olympiade in Russland angeheizt. Ich versteh nicht, was sich die Leute neben Medaillen für Ski, Eislauf und andere Sparten sonst noch erwarten. "Die Leute" - es scheint unübersichtlich viele Interessengruppen zu geben, die noch anderes im Sinn haben. Mit Herrn Putin natürlich angefangen. Es sieht so aus, als spiele er Vabanque mit diesen Winterspielen in Sotchi. Alles einsetzen, alles gewinnen. Weniger sportlich als politisch. Olympia ist immer auch politisch - man denke bloß an China! - aber so politisch wie diesmal wars noch nie. So kommt es mir vor. Das macht mir Angst.

 

 

 

 

Frankfurt, 24. Januar

Ich bin Lesepatin an einer Grundschule, wie schon öfter erwähnt, und so suche ich immer wieder nach geeigneten Büchern. Sie sollen den Wortschatz von Zweit- und Drittklässlern beachten und womöglich einfühlsam erweitern, sie sollen in einem fließenden und wohlklingenden Deutsch geschrieben sein, sie sollen Gechichten erzählen, in denen die Kinder sich wiedererkennen und sich beim Wiedererkennen auch wohl fühlen.

So stieß ich auf eine Rezension über ein Kinderbuch mit dem Titel "Wär ich ein Pirat …" Ein Junge, unzufrieden mit seiner alltäglichen Situation, träumt sich in die Ferne, träumt sich groß und stark. Ein Kind mit Leseschwierigkeiten bedarf auch immer einer Stärkung des Selbstbewusstseins, und die Beschreibung des Buchs verlockte mich, es zu bestellen, ohne es vorher anzugucken. Das war ein Fehler. Man spart keine Zeit mit solchen Entscheidungen, im Gegenteil. Sie kosten Geld und Zeit.

Was habe ich an "Wär ich ein Pirat… " auszusetzen?

Es fängt mit der Situation des Protagonisten an: wohlversorgtes Mittelstandskind, rundum lauter Mütter, die ihre Kinder täglich von der Schule abholen und irgendwohin zur Weiterbildung bringen, die eigene genauso. Nur dass die noch grade ein neues Kind bekommen hat, was ihre Nerven strapaziert. Der Junge wird nicht einbezogen, sondern meist als Störfaktor beiseite geschoben. Das macht ihn traurig.

Mein Lesepatenkind kommt aus türkischem Umfeld, wo es immer jemanden gibt, der sich um die Kinder kümmert. Seine Mutter arbeitet bis sieben Uhr abends; es geht nach dem Hort zu seiner Tante, dort stehen zwar seine Vettern im Vordergrund, doch er ist nie allein, so wie der Junge im Buch. Der Bilderbuchjunge findet seine Befreiung in den Träumen, die er allein träumt. Die Einsamkeit kann er nutzen. So richtig deutsch, diese Geschichte: funktionsorientiertes Verhalten, Kälte im Umgang, verbreitete Gleichgültigkeit stehen (bei den Erwachsenen) als normal da, als Voraussetzung für Verletzungen und Trauer des Kindes. Darauf baut die Geschichte von "Wär ich ein Pirat" auf.

In einer solchen Umgebung leben sehr viele Schüler meiner Grundschule nicht.

Ihre Probleme ergeben sich aus anderen Defiziten. Die Bildungsferne macht, dass es ihnen an Vokabular und an Sprachgewandtheit fehlt; ihre etwaige Mehrsprachigkeit wird nicht begleitet und geordnet, sondern häufig als lästige Behinderung abgetan, in der Schule so gut wie im Hort. Deutsch wird gelehrt wie man Kinder unterrichtet, die in gebildeten, deutschsprachigen Familien aufwachsen. Da kann man vieles voraussetzen. Vieles, was in den Kreisen meines Lesepatenkindes gar nicht vorkommt: das Wissen über Sonne, Mond und Sterne, über Pflanzen und Tiere zum Beispiel. Redensarten. Zusammenhänge zwischen diesen und den täglichen Ereignissen im Leben der Kinder.

Was habe ich mir beim Thema Piraten erhofft?

Nun, Abenteuer, Gefährdung, Rettung; Freundschaften, Feindschaften, Versöhnung; ein paar gute Ausdrücke wie aus einem Seemannsgarn. Eine knappe, direkte Sprache, keine Abschweifungen. In dem genannten Buch lese ich dagegen:

"Bogenschießen ist der einzige Termin in der ganzen Woche, der richtig Spaß macht. Frau Ander ist eine uralte Frau mit grauen Haaren. Sie sagt fast gar nichts. Sie zeigt uns, wie man aufrecht steht und die Augen ruhig hält. Dann zeigt sie uns, wie man den Bogen spannt und mit dem Pfeil geradeaus zielt. 'Wenn die Augen ruhig sind, fliegt der Pfeil geradeaus', sagt sie manchmal. Mehr sagt sie nicht." Und ein paar Sätze weiter: "Ich wünsche mir, mein Papa würde einmal mit mir Pfeil und Bogen aus Ästen bauen. Aber Papa hat nie Zeit dafür. Wäre ich ein Pirat, hätte ich nicht nur einen Säbel und einen Dolch und ein Schiff ….."

Dieses Buch ist offenbar für überanstrengte Eltern geschrieben und nicht für Kinder. Ich nehme an, dass von diesen Eltern niemand Zeit hat, sich solche Schelte anzugucken.

Schade für das schön gestaltete Buch.

("Wär ich ein Pirat" von Karin Koch & André Rösler; Peter-Hammer-Verlag)

 

 

 

 

 

Frankfurt, 15. Januar

Auf den Aufsatz über "Bullshit" muss ich doch zurückkommen. Ich entdecke nämlich plötzlich ganz viele Beispiele in meiner Umgebung für diese Form des Sprachgebrauchs, den der Professor Frankfurt "Bullshit" nennt: Es ist keine Lüge, aber es bleibt auch nicht bei der Wahrheit; ja, die Wahrheit gilt dem Sprecher eher nichts oder nicht viel; Wahrscheinlichkeit genügt ihm - sein vorrangiges Interesse ist, dass er gehört werde, dass er Aufmerksamkeit wecke, dass man ihn wenn möglich bewundere und er, wenn es z.B. um "Fördermittel" (also Geld) geht, damit bedacht werde.

Heute morgen schaute ich mir im Internet, genauer, auf "Youtube", ein kurzes Video an, in dem Dieudonné auftrat. Er redete wie ein Schauspieler, er ereiferte sich, er nahm zurück, er versuchte, komisch zu sein, wirkte aber nicht wirklich komisch, sagte etwas wie, der "Zionismus habe Jesus getötet", womit er vermutlich fundamentalistische Katholiken besonders ansprechen will, die im übrigen Wähler der Rechtsextremen in Frankreich sind. Propaganda also, aber vor allem das Bemühen, sich seine Klientel und seine Einkünfte zu erhalten. Was mir aber mehr auffiel, war ein Name, den ich beim Zugriff auf das Video als "Urheber" vorfand: der Name Tariq Ramadan. Dieudonné trat erregt und emotional auf, doch Ramadan ist ein kluger und nüchterner Mann, der sich seit Jahren unermüdlich um die Vorherrschaft des Islam auf der ganzen Welt bemüht. Dass er Dieudonné sprechen lässt, weist darauf hin, dass er ihn für seine Zwecke einsetzt. Auch, dass dieser sich dafür einspannen lässt. Die Entwicklung, die dieser Schauspieler und Kabarettist seit zehn Jahren durchgemacht hat, lässt darauf schließen, dass er keine sicheren Standpunkte hat. Er schwätzt also daher, ein wenig gehetzt, provoziert ein bisschen, in der Hoffnung, dass es reicht, um ihm ein Einkommen zu erhalten - und die französischen Intellektuellen bleiben in ihrer Begriffsfestigkeit stecken, fühlen sich Voltaire und Sartre mehr verpflichtet als der Neugier zu fragen, warum einer so viel "Bullshit" redet, was er davon wohl habe? Ja, der Frage nachzugehen, wie dieses leere Gerede, diese Worthülsen-Gefechte überhaupt eine solche Gewichtigkeit erlangen konnten? Welche Rolle sie spielen? Wo es sie sonst noch gibt?

Stattdessen soll der Staat mit einer üblichen Reglementation aushelfen, weiß aber nicht, wogegen.

Hilfe tut not.

 

 

 

 

 

Frankfurt, 13. Januar 2014

Seit fast einem Monat war ich so eingebunden und verwickelt in Geselligkeit, versunken in guter Gesellschaft gewissermaßen, dass ich zum Schreiben im Webtagebuch nicht gekommen bin.

In Paris bewohnte ich über die Feiertage eine schöne Wohnung mit Blick auf die Seine und hätte wahrscheinlich trotz allem Zeit gefunden, wenn ich einen Zugang zum Netz gehabt hätte. Der fehlte, was nicht geplant war, sondern sich einfach ergab. Ich vermisste ihn nicht sonderlich, denn wie gesagt, ich hatte ständig liebenswürdige Gesellschaft: Familie und Freunde.

Herumfahren in Paris, die Umgangsformen der Menschen registrieren - die Höflichkeit der Bettler, zum Beispiel, die selbstverständliche Unerbittlichkeit, wenn etwas beschlossen ist; oder wenn die Türen an manchen Metrostationen schließen, während gerade noch eine vielköpfige Familie einsteigen will. Ein Kind wurde eingeklemmt, und es dauerte mindestens ein halbe Minute, bis der Fahrer das offenbar merkte und die Tür noch einmal öffnete. Natürlich waren das ausländische Touristen, den Franzosen passiert sowas nicht.

Fleißig las ich "Libération", die Tageszeitung, die auf dem Zeitungsmarkt am ehesten der deutschen "taz" entspricht. Was wird wichtig genommen, was nicht in der französischen öffentlichen Meinung? Die Geschichten des Satirikers Dieudonné wurden ausführlich von allen Seiten betrachtet: "Meinungsfreiheit" hatte Vorrang, vielleicht wird inzwischen auch der Missbrauch von Meinungsfreiheit in den Vordergrund geschoben, den dieser Mann betreibt. "Dieudonné" heißt übersetzt sowas wie "Gottesgeschenk", oder "gottgegeben"; so war er noch vor Weihnachten bekannt. Dann machte sich, vielleicht war es Le Monde, jemand über seinen Nachnamen lustig, der lautet "Mbala Mbala", was ja dann doch etwas ähnlich wie "Blabla" klingt. Afrikanischer Vater, französische Mutter. Die Deutschen (in der taz), ganz korrekt, sprechen nun von "Dieudonné Mbala Mbala".

Also dieser Mann hat "La Quenelle" erfunden, der deutsche taz-Korrespondent spricht von "Knödelgruß". Statt Knödel könnte man m.E. auch "Kloß" sagen, tut aber keiner. Der Gruß besteht in einer bestimmten Bewegung beider Arme und stellt inzwischen eine Provokation dar, die einem Ärger einbringen kann. Über die Bedeutung, über das, was der Grüßende mit dieser Bewegung sagen will, gingen die Meinungen auseinander. Der deutsche Korrespondent und manche Franzosen ordnen ihn als eindeutig antisemitisch ein.

Soweit ist es mit den Meistern der Sprache, mit den Nachkommen von Montaigne und Voltaire, von Sartre und Malraux gekommen! Sie verständigen sich über eine Geste und zanken sich danach wochenlang darüber, was die Geste bedeutet!

Die Sprache kommt auf den Hund.

In Deutschland entdeckte ich ein Büchlein über "Bullshit". Jemand hatte es mir geschenkt, es lag sei einem Monat im Stapel. Widerwillig begann ich: was bedeutet mir das Wort "bullshit", kann es mir gefälligst einer übersetzen? Aber da steckte ich schon in der Argumentation des Autors, eines amerikanischen Philosophen namens Frankfurt: es übersetzt sich nicht so einfach. Es bedeutet auch nicht "Scheiße" (was bedeutet das schon!), es läuft auf einen Missbrauch von Sprache hinaus, der sorgfältig und mit klassischen Zitaten belegt wird. Nach der letzten Seite schaute ich hochbefriedigt auf: ja, genau, er hat recht.

Bitte selber lesen.

 

Frankfurt, den 18.12.

Heute gehe ich mit meinem Lesepatenkind und seiner Mutter in die städtische Kinder- und Jugendbücherei. Die Mutter konnte sich ein paar Tage freinehmen; wir hatten den Besuch schon seit dem Sommer geplant, doch war nie Zeit dafür. Das Kind freut sich drauf, und ich weiß nicht, ob es sich mehr auf die Bücher freut oder darauf, sie zusammen mit seiner Mutter zu betrachten. Ich schätze, eher das letztere, und ich diene als Dolmetscher.

Woher ich weiß, dass sich das Kind darauf freut? Weil ich bei einem Telefongespräch mit seiner Mutter seine jubelnde Stimme im Hintergrund hörte, voller Glück über die Aussicht auf diesen Ausflug. Ich muss mir noch Gedanken darüber machen, wie wir vorgehen, worauf wir unser Augenmerk besonders richten sollen. "Wir" sage ich bescheiden, oder wie soll ich es nennen; denn es bin doch ich, die lenkt. Mit welchen Zielen? Soll ich vor allem die Mutter interessieren? Das wäre am besten, denn wenn sie es weitergibt, wird es die stärkste Wirkung haben. Und was interessiert die Mutter? Das weiß ich bisher gar nicht. Doch werden wir vor dem Bibliotheksbesuch zusammen essen gehen, und dabei kann ich vielleicht eine Orientierung entdecken.

Der Junge hat Schwierigkeiten mit dem Lesen, er buchstabiert immer noch. Und wenn er sich Mühe gibt, geht es etwas besser, doch muss er sich dabei sehr anstrengen. Es ist diese Anstrengung, die alles behindert, sie müssen wir überwinden. Liegt das Problem bei den Augen? Braucht er eine Brille? Oder woran sonst? Ich habe Vermutungen, die ich aber hier nicht darlegen will; auch darüber würde ich gern mit der Mutter sprechen. Klingt einfach, ist es nicht.

So dass ich mit gemischten Gefühlen, d.h. mit einer Freude und einigen Sorgen diesem langersehnten Treffen entgegen sehe.

 

 

 

 

 

 

16. Dezember

Wenn Granatapfelkerne auf einen weißen Teppich fallen, was sagt mir das? Ich bin unachtsam, ja, schon - aber wie kommt das? Wohin geht meine Aufmerksamkeit? Kann man von mangelnder Konzentration sprechen, weil die Aufmerksamkeit "woanders'" Ist? Befindet sich die Konzentration nicht dort, wo die Aufmerksamkeit sich aufhält? Kann sich Aufmerksamkeit auf ein Chaos richten? Gibt es überhaupt ein "Chaos"? Bedeutet Chaos nicht viel mehr, dass der Mensch, der dieses Wort gebraucht, nicht die Fähigkeit besitzt, die Ordnung darin zu erkennen? Jetzt nicht oder auch nie?

Ja, ich denke, es gibt eine Ordnung in jedem Durcheinander.

Anja Kordik ist gestorben, sie hatte eine Lungenembolie. Es kam plötzlich. Grade stand sie noch mit ihrer Mutter am Fenster, "mir wird schlecht" sagte sie und lief zur Toilette; die Mutter vernahm ein Röcheln und erschrak zutiefst, rief um Hilfe. Hilfe kam gleich, und sie kam dennoch zu spät. Anja Kordik war eine tüchtige Journalistin. In ihren Zeitungsartikel herrschte eine helle, klare, eine freundliche Ordnung.

Anja war ein überaus liebenswürdiger Mensch. Sie lebte für andere. Sie nahm sich selbst nicht wichtig. In ihrer hellen klaren Ordnung blieb kein Platz für Schmerzen. Sie ignorierte alle Schmerzen. Das Leben lag immer vor ihr.

Ich weiß nicht, wie mit der Trauer umgehen.

Blutrote Granatapfelkerne auf einem weißen Teppich.

 

Frankfurt, den 14. Dezember

Seit fast zwei Wochen kränkele ich so vor mich hin, fühle mich fiebrig, schwer und müde, schlafe viel, sage Verabredungen ab, streiche Veranstaltungen aus meinem Kalender. Erst gester Abend wäre ich gern zu "Peter Weiss und die Deutschen" gegangen, es war ein verführerischer Titel, denn schließlich war Weiss auch mal "Deutscher" und hat auf Deutsch geschrieben. Na ja, vielleicht war er Österreicher? Müsste ich nachschauen, doch wäre das eh nur eine Ausflucht. Auch Hitler war schließlich Österreicher und wollte heim ins Reich. Was suchte ich?

Vorgestern Abend hatte ich mich aufgerappelt, um mir im Club Voltaire einen Vortrag oder irgendwas Ähnliches mit Heinz Düx anzuhören. Heinz Düx war ein Richter im Frankfurter Auschwitzprozess. Leider ließ er sich entschuldigen, aus gesundheitlichen Gründen, er ist weit über 90. Niemand mochte ihm seine Abwesenheit verdenken, aber enttäuscht war ich schon. Es gab statt dessen einen Film über sein Leben, vielmehr über Düx und den Auschwitzprozess. Ein schöner, anschaulicher und erhebender Film. Düx war der Ermittlungsrichter im Auschwitzprozess (Fritz Bauer bekanntlich der Staatsanwalt); auf Düxens Recherchen beruhte letztlich das ganze Verfahren. Erstaunlich, bewegend, wie dieser Jurist in einer moralischen Geradheit das vertritt, worum es auch Fritz Bauer ging: darum, das System, das Prinzip der KZs im Prozess offensichtlich werden zu lassen. Das Strafrecht stellt auf die individuelle Tat, auf den einzelnen Menschen und seine Schuld ab, und dieser Gesichtspunkt wurde im Prozess auch nicht vernachlässigt; darüber hinaus aber wurde er ein Modell für die Bezeichnung von recht und Unrecht.

Das war auch dem Heinz Düx in seinem fast spießigen bürgerlichen Wohnzimmer anzumerken, es war sonnenklar. Und sein leiser Humor!

Heinz Düx stellt also ein Vorbild dar, für alle Generationen. Keine Gewalt, Ruhe, unablässiges Forschen & Lernen, mit Menschen reden, Urteilsfähigkeit entwickeln. Freilich arbeitete er ja in einem Justizsystem, d.h. er war nicht allein. Viele, sehr viele, wollten ihn und Bauer daran hindern, einen expliziten KZ-Prozess zu führen; die beiden müssen dennoch in den oberen Etagen der Macht Unterstützung gefunden haben. Zwar wurde ihm ein Antrag auf eine Dienstreise nach Auschwitz "abgelehnt", doch fuhr er auf eigne Faust, und was er herausfand, das galt nachher im Prozess.

Kurzum, es war ein gelungener Abend, vorgestern. Doch dann fielen an der Hauptwache sämtliche Bahnen aus, die Gitter waren heruntergelassen, die Polizei versperrte die Treppenaufgänge, aus denen Rauchgeruch und leichte Schwaden aufstiegen. Oben standen in einem halben Kilometer Umkreis Feuerwehrautos und Ambulanzen. Die Sanitäter sah ich zusammenstehen und miteinander schwatzen. Ich nahm eine Straßenbahn zum Hauptbahnhof und stieg dort in eine Sechzehn nach Sachsenhausen ein - was sag ich, einsteigen! Ich drückte mich mit meinem ganzen Gewicht in den Waggon hinein. Wie vor 55 Jahren, als die Straßenbahnen ständig überfüllt waren und man froh war, auf dem Trittbrett mitzukommen. Niemand aber entwickelte schlechte Laune deswegen, man kam ins Gespräch, es entstand eine ungewohnte Nähe. Am andern Morgen las ich dann, was die Ursache für den Brand gewesen war: auf einem der Untergrund-Bahnsteige hatte ein Kind einen Luftballon fliegen lassen. Dieser war gegen die Oberleitung gestoßen, hatte einen Kurzschluss ausgelöst, und die Oberleitung war dann auf einen stehenden Zug heruntergefallen. Daraufhin wurde die gesamte Hauptwache geräumt.

Als ich gestern Abend überlegte, was mir auf dem Weg zur "Denkbar" oder auf dem Heimweg zustoßen könnte, begann ich zu frösteln und blieb zuhause.

Dort las ich in der jüngsten "Le Monde Diplomatique" etwas über Videospiele. Es stehen mindesten drei Artikel darin, und sie passen mir alle nicht recht ins Bild, sind einseitig, von Vorurteilen geprägt. Ich las von dem allerersten Videospiel aus den 70er Jahren, es hieß "Pong" und war eine Art virtuelles Tennis - es wurde viele Jahre gespielt.

Pong? War das nicht ein Titel der Büchner-Preisträgerin Sibylle Lewitscharoff? Ich suchte. Tatsächlich, einer ihrer ersten Romane, jedenfalls der, mit dem sie 1998 den Ingeborg-Bachmann- Preis gewann. Wie schaffte sie es, nicht von der Computerfirma wegen Titelschutz belangt zu werden? Ich stöberte und entdeckte das Buch tatsächlich in meiner eignen Bibliothek. Ich hatte es mir mal besorgt, weil es klein war und ich was von Lewitscharoff lesen wollte, ohne mich eigentlich zu interessieren. Jetzt aber plötzlich begriff ich, worauf es ankam, worauf es der Autorin ankam. Ich spürte es. Werde mich (im Moment) hüten, das genauer auszuführen. Nur vielleicht dies: Durch die Befassung mit Blumenberg bin ich auf das Wesen und die Bedeutung der "Metapher" gestoßen, einer Ausdrucksweise, die nötig wird, wenn einem Begriffe fehlen. Und wann fehlen sie einem nicht, wenn man an der Wirklichkeit , d.h. bei der Wahrheit bleiben möchte? Genau das ist es, was Lewitscharoff macht: bei der Wahrheit bleiben, soweit sie erkennbar ist. Und ich denke, grade deswegen erhält sie Literaturpreis über Literaturpreis, und alle Laudatoren überschlagen sich wegen ihres Sprachwitzes, ihrer erfinderischen Sprache, ihrer literarischen Akrobatik .

Es kommt ihr, denke ich, (oder mir) weniger auf den Sprachwitz an als auf eine Wiederentdeckung der Metapher. Und die Metapher ist auch eine Art Spiel. Eine Seite des Homo ludens. Spielen ist not. Schaut nur bei Gadamer nach!

Die Preise, die Lewitscharoff erhält, belohnen das Unverkäufliche, das nicht zu Kommerzialisierende des Menschen!

So, jetzt muss ich schnell gesund werden ......

Und dann erklär ich, warum ich von Peter Weiss was über "die Deutschen" hören wollte.

 

 

 

 

 

 

 

 

Frankfurt, den 12.12.13

Tja, gestern hätte ich schreiben sollen mit "11.-12.-13." als Datum! Stattdessen habe ich die meiste Zeit gelegen, weil ich seit ein paar Tagen an einem grippigen Schnupfen leide. Unter ihm auch..... Seinetwegen verbrauche ich päckchenweise Papiertaschentücher.

(Die Präpositionen! Ich gebe ja manchmal Deutsch-Unterricht. Gewöhnlich ohne Grammatikbuch, nur mit einem Text und erstrebe dessen mündliche Durchdringung. Er soll 100%ig klar im Kopf der Lernenden sein. Mitsamt den Zusammenhängen und den Doppeldeutigkeiten. Erst danach kommt vielleicht die Nacherzählung, und erst danach das Schreiben .... Die Leute haben ja ein Wissen von der Welt und den Menschen, auch wenn sie von Präpositionen keine Ahnung haben. Ich muss dann nur den Dreh finden, um ihnen die Frage nach den Präpositionen plausibel zu machen.)

Zwischendurch habe ich "Wolfgang Herrndorf" gegoogelt, weil in bestimmten literarischen Kreisen viel von ihm die Rede war. Vorher kannte ich ihn gar nicht. Er war ein deutscher Schriftsteller, der einen "Blog" eröffnete, nachdem er erfahren hatte, dass er an einem unheilbaren Gehirntumor erkrankt sei. Diesen Blog führte er etwa drei Jahre, bevor er im August starb, sich selbst tötete - als letzte Chance, noch selbst zu bestimmen. Anscheinend wurde der Blog so vielfach gelesen, dass sein Inhalt jetzt sogar in einem Buch herausgebracht wird.

Ich habe nur ein paar Seiten im Internet davon gelesen (schließlich bin ich krank und kann nicht solange....) Sie vermittelten mir einen Eindruck: es war der Kampf mit dem Tod, der Kampf gegen das Sterben, der Umgang mit Operationen und Schmerzen; vor allem aber, fand ich, ging es um Beziehungen unter solchen extremen Umständen. Offenbar ist der Autor nie in seiner Not allein gelassen worden, war immer umgeben von behütenden Gesten und liebenden Menschen.

So dass auch die tiefste Verzweiflung noch einen Trost in sich trägt, mit sich transportiert, den Trost, bis zuletzt nicht allein gelassen zu werden .....

Jeder stirbt allein ....

Eben las ich in der Zeitung, dass jemand gegen die Einrichtung eines Sterbehospizes in einem Wohnviertel klagt! Ein älteres Ehepaar. Dieses fürchtet sich anscheinend vor den "Leichenwagen", die es täglich vor seiner Tür erwartet. ("Es gibt doch heute keine Leichenwagen mehr", verteidigt sich der Bauherr des Hospizes, "die Bestatter benutzen meistens einen VW-Bus oder einen Kombi.") Der Streit wird in Justizsprache geführt, niemand sagt offen den Klägern nach, dass sie bloß nicht an ihren eigenen Tod erinnert werden wollen. Dabei wäre das doch das beste Argument: Jede Leiche, die vorüberkommt, beweist mir, dass ich lebe! Ich lebe noch! Warum sonst entwickeln sich Leichenschmause gewöhnlich zu fröhlichen Parties? Ich lebe und will mein Leben bewusst leben. Vermutlich ist es diese Erwägung, die die Kläger nicht verkraften: ihr Leben bewusst zu leben. Sie wollen nur, dass alles bleibt wie immer.

 

 

 

 

 

 

 

 

Frankfurt, den 3. Dezember

Übers Wochenende war ich mal eben in Luxemburg. Das sind etwa drei Stunden Autofahrt. Mit der Bahn müsste ich 5 Stunden rechnen; doch in Luxemburg selbst kommt man ohne Auto nicht leicht dorthin, wo ich hinwollte: nach Vianden und Ettelbrück. Obendrein an einem Sonntag! Da mir die vernetzten Wetterdienste versicherten, es werde keinen Frost geben - den fürchte ich im Auto, wenn ich durchs Gebirge fahren muss - hab ich mich frischfrommfröhlichfrei auf die Straße begeben. Beide Fahrten verliefen ohne Probleme und Schwierigkeiten.

Nun grüble ich: was ist denn so anders in Luxemburg? Oder erlebe ich die Begegnungen dort besonders intensiv, weil ich die intensivsten Jahre meines Lebens dort verbracht habe und irgendwelche Energiefahnen von mir dort immer noch unsichtbar flattern? Freilich auch wachgehalten durch Zeitungsartikel, die hin und wieder von mir erscheinen. In meinen Artikeln gehe ich eigentlich immer irgendwie auf die Luxemburger Bedürfnisse ein, oder versuche es.

Was ja bedeutet, dass ich mir darunter etwas Konkretes vorstelle, dass ich sie immer noch kenne, zu kennen vermeine .....

Am deutlichsten: die Sprachsituation. Luxemburg ist das vielsprachigste Land , das ich kenne, und zwar spricht dort JEDER mehrere Sprachen. Nich wie in Belgien, wo die Flamen flämisch, die Wallonen Französisch reden, dazu noch diverse Dialekte in beiden Sprachen - nein, in L>Luxemburg steckt die Mehrsprachigkeit im Individuum selbst. In der größten Tageszeitung stand gestern ein Bericht über Forschungen, mit denen man erreichen will, dass die Luxemburger Schüler bessere Ergebnisse erzielen. In der Hauptstadt besteht etwa ein Viertel der Schulbevölkerung aus Kindern von portugiesischen Eltern. Diese, so einfach und wenig gebildet sie auch teilweise sein mögen, bewahren immer ihre portugiesische Muttersprache, so dass portugiesische Kinder schon vom Kindergarten (genannt "Spielschule") an eine zweite Sprache, nämlich "letzebuergisch", lernen. Im 1. Schuljahr beginnen sie mit Deutsch, im 3. Schuljahr mit Französisch - das gilt für alle. Die Forscher nun fanden heraus, dass dieses Viertel der Schulbevölkerung "keine Erstprache" habe. Damit meinten sie, die Kinder neigen nicht mehr zum Französischen als zum Deutschen. Sie hatten vorher angenommen, dass portugiesische Kinder mehr zum Französischen ("romanische Sprache") neigen müssten, während die luxemburgischen Kinder mehr zum Deutschen neigten. Nun bedeutet aber "Erstsprache" nach meinem Verständnis die Sprache, die ein Kind als erstes hört und daher auch als erste spricht. Mit andern Worten: die Muttersprache. Die ist letzebuergisch für die Luxemburger und portugiesisch für die portugiesisch-stämmigen Kinder. Das Portugiesisch kam in dem Zeitungsartikel überhaupt nicht vor.

Seltsam.

Alle diese Kinder lernen selbstverständlich auch Englisch.

Natürlich erreichen nicht alle das höchste Niveau ....

Die Forscher - und auch die Lehrer - müssen sich mit der Frage herumschlagen, welches Niveau sie erwarten dürfen, erreichen können, und wie bestimmt man es? Wie es benoten?

In Luxemburg traf ich Freundinnen: eine befasst sich mit Jugendlichen, die Hilfe brauchen, obwohl sie vom Jugendamt schon ausgemustert wurden ("die sollen sehen, wie sie zurechtkommen"); die andere arbeitet zwei mal drei Stunden im Monat am "Kinder- und Jugendtelefon", und ich dann mit meiner Lesepatenarbeit - wir ziehen alle am gleichen Strang! stellten wir fest. So viele Kinder brauchen Unterstützung, und keiner da, er sich Zeit nimmt ....

Das eigentlich Ziel meiner Reise waren Kunst und Literatur gewesen, ein Atelierbesuch, eine kunstvolle Lesung .... doch das führte jetzt zu weit....

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Frankfurt, 29. November

Da mag man sagen, was man will - es ist immer "Sprache". Ich kannte mal einen Schriftsteller, der schrieb: "Je ne veut rien qui mente dans un livre", "In einem Buch will ich keine Lügen!" oder so ungefähr. Oder was nach Lüge aussieht? (Der Konjunktiv im französischen Satz macht, dass das Übersetzen zur vertrackten Herausforderung wird.) Wie aber vermeidet man, dass man sich selbst belügt?

Die Sprache lügt nicht, doch kann sie von Menschen missbraucht werden und Lügen hervorbringen. Manche Leute merken das, manche nicht.

Es gibt in Deutschland eine Verbrauchermarktkette, die viele ihrer Produkte unter einem Wort vertreibt, das das Gegenteil von "Nein" bedeutet; Verpackungen mit diesem Wort kommen mir nicht ins Haus. Wegen bewussten Sprachmissbrauchs. Misshandlung der Sprache sogar. (Und werde ich, wenn ich das Gegenteil von Nein schreibe, jetzt wegen Verletzung der "Markenrechte" jener Kette belangt???) Die Produkte können ebenso gut Lebensmittel wie Putzmittel oder sonst was sein - Hauptsache, sie sind verpackt. Unter der Marke gelten sie den Verbrauchern als "billig". Werden deshalb gern gekauft.

Was bedeutet den Leuten "Sprache"? Immer weniger, und das wundert mich nicht, bei dem Missbrauch. Die Werbevertreter treiben es am ärgsten: eben las ich was über "Freunachten" auf einem Plakat. Als Einzelne komme ich gewiss nicht dagegen an.

Oder die Post wirbt, wenn ich mich recht erinnere, mit einem Wort wie "verlässl", indem sie ein ICH anhängt. Verlässl!! Obgleich das immer noch besser ist als "freudICH". Unterm Schreiben merk ich, dass ich tatsächlich "freu dich" gelesen habe und nicht eine falsche Schreibweise von "freudig". Sowas machten die noch vor ein paar Monaten: "ich" schreiben, wo die Endung "ig" hieß. Vielleicht haben sich doch zu viele Leute beschwert. Jetzt müssen die Werbejungs ein wenig mehr nachdenken. Schadet ja nicht.

Seit dreißig Jahren, sagt mir jemand, lernten die Studenten an der Uni, dass es im Leben nur um Rentabilität, um Profit, um einen selbst, um das Ich gehe. Jetzt wissen sie es nicht besser, verlieren das Gemeinwohl aus den Augen, der Sozialstaat soll abgeschafft werden. Letztens hatte die taz zwei Seiten von Professor Butterwegge über die Demontage des Bismarck'schen Sozialstaats. Wir würden in einen "Suppenküchenstaat" verwandelt. Während in einem Sozialstaat auch arme Leute Rechte haben und Ansprüche stellen können, gelten sie in einem "neoliberalen" kapitalistischen Staat à la USA nur noch als Bettler, die kuschen müssen oder sonst weggesperrt werden, praktisch ohne Rechte. Almosen, wenn sie Glück haben. Herr Butterwegge stammt aus Dortmund, das macht ihn mir gleich noch sympathischer.

Ich zitiere ihn mal eben:

"Der vorherrschende Gerechtigkeitsbegriff wurde in dreifacher Hinsicht transformiert von der Bedarfs- zur Leistungsgerechtigkeit, von der Verteilungs- zur Teilhabergerechtigkeit, und von der sozialen Gerechtigkeit zur Generationengerechtigkeit, wobei dieser Begriff ablenken soll von der wachsenden Ungerechtigkeit innerhalb aller Generationen. Eines jedenfalls ist vollkommen unbestreitbar: Gerechtigkeit kann es nur geben, wenn es ein Mindestmaß von sozialer Gleichheit gibt. ……… Sprachkritik ist auch sehr wichtig. Die Verdrehung von Worten und Werten, die Umdeutung tradierter Begriffe wie Gerechtigkeit, Gleichheit, Reform, das ist Sprachmissbrauch als politisches Instrument zum Zwecke der 'Gehirnwäsche' und Vernebelung ihrer ursprünglichen Bedeutung." (aus taz vom 25.11.13, S. 15, G. Goettle lässt den Armutsforscher Prof. Christian Butterwegge zu Wort kommen).

Gestern hörte ich einem iranischen Dichter zu, der nicht nur Romane und andere literarische Werke schreibt, sondern auch, und ganz allein, ein "Wörterbuch der iranischen Umgangssprache" zusammenstellt. Von 30 Buchstaben des Alphabets habe er schon 14 abgearbeitet. Ich fragte mich, wie ein einzelner eine Sprache definieren kann? Eine befreundete Iranerin wunderte sich, dass der Autor beim mündlichen Erzählen ein sehr klassisches Farsi benutzte, während er in dem Roman, von dem ein Teil auf Farsi und auf Deutsch vorgelesen wurde, ein Umgangsfarsi verwende. Also genau umgekehrt vorging, als man das gewöhnlich tut. Ich hätte gern mehr gewusst: "Umgangssprache" oder "Gegenwartssprache"? Ich hörte, dass er als Referenz die Literatur der letzten 150 Jahre heranziehe. Die neuesten vorhandenen Wörterbücher befassten sich mit der Sprache des 18. Jahrhunderts, sagte er. Seitdem gebe es nichts mehr.

Oder befasst er sich mit Farsi-Lexikografie, weil er im Ausland lebt, im Exil seinen Kontakt zu seiner Sprache auf eine politisch unverfängliche Weise pflegen will?

Auf meine Frage, für wen er das Wörterbuch verfasse, antwortete er: für die Übersetzer.

Über sein belletristisches Schreiben sagte er den schönen Satz: "Schreiben und Leben werden dann eins für mich. Ich bin ganz bei mir."

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Frankfurt, den 28.November

Zugegeben: "Geteilte Freude ist doppelte Freude" - das geht auch.

Mein Wochenende war angefüllt mit solcher: Familienfest, mit einem herrlichen Klavierkonzert meines Enkels Emil Reinert am Samstag, bei mir daheim im Wohnzimmer; am Sonntag Geburtstagsparty, auch bei mir, offenes Haus, es war harmonisch, lebhaft, intensiv und abwechslungsreich. Was ich anstrebte, gelang: Menschen aus den verschiedenen Milieus, in denen ich verkehre - z.B. aus der Literatur, aus der SPD, aus dem Haus, in dem ich wohne, aus meiner Familie - miteinander in Kontakt zu bringen. Es unterhielten sich Leute, die vorher noch nie miteinander gesprochen hatten, ja, die sich vorher nicht einmal kannten.

So sollen sie sein, die Feste!

Am Montag durfte ich im Mousonturm, im "Literaturforum", die Preisrede für Nadja Einzmann halten, eine junge Schriftstellerin aus Frankfurt, die den "Renate-Chotjewitz-Häfner-Förderpreis" erhielt, den der Verband deutscher Schriftsteller in Hessen und die "Literaturgesellschaft Hessen" vergeben, dank eines Legats der vor fünf Jahren gestorbenen Renate Häfner, geschiedene Chotjewitz. Deren Verschwinden noch heute viele beklagen. Die nicht vergessen ist.

Indem ich mich mit dem Werk von Nadja Einzmann befasste, bemerkte ich, dass sie in den Rezensionen recht oberflächlich wahrgenommen wird. Ich sprach mit einer Kollegin darüber; sie empfahl Veröffentlichung von genaueren Einschätzungen! Darum stelle ich nun meine "Laudatio" auf meiner Webseite ins Archiv.

(Wie ich das von hier aus verlinke - bedaure, ich weiß nicht wies geht.)

Die Rede ist kein germanistisches Referat, gewiss nicht; sie sollte unterhalten, Neues mitteilen, zum Zuhören anregen - eine Rede eben und keine Untersuchung.

Es war jedenfalls ein gelungener Abend, das empfand ich so, das sagten alle, die ich hörte.

Und danach kehre ich nun in die Pädagogik zurück, oder wie soll ich das nennen, was mir als "Lesepatin" begegnet?

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Frankfurt, den 11. November

Gut, dass es den Duden gibt!

Eben habe ich das Wort "teilen" nachgeschaut, und erst in einer vierten Bedeutung nennt der Duden "etwas gemeinsam nutzen". Davor geht es ums Dividieren, Trennen, Zerteilen - und es ist das, woran ich am ehesten denke, wenn ich das Wort "teilen" höre. Beim Teilen geht etwas weg, verliert man was, und sei es nur den Zusammenhang.

Durch das amerikanische Wort "to share" hat sich nun aber im Alltag diese vierte Bedeutung durchgesetzt, wo jeder ruft - nein, nicht das was mir typischerweise als erstes einfällt - "Teil mit mir!" - sondern beispielsweise:

Du kannst das teilen.

Ich will heute eine Entdeckung teilen, die ich gemacht habe.

Ich würde lieber sagen: Die Entdeckung wird mitgeteilt, und die Freude darüber kann ich mit anderen teilen. Aber ich teile doch nicht die Freude! Freilich würde auch ich bereit sein, einer Freundin zu sagen: lass uns deinen Kummer teilen, so wie es heißt "Geteiltes Leid ist halbes Leid". Aber das lässt sich eben nicht einfach erweitern auf "Geteilte Freude ist halbe Freude"!!

Während ich vor ein paar Jahren noch glaubte, man könne dieses vertrackte falsche "Teilen" aufhalten, glaube ich jetzt nicht mehr daran. Im Sinne von to share ergibt sich daraus eine wundervolle Vermehrung, und das ist es, was sich die Leute wünschen.

 

Frankfurt, den 9. November

Ich komme noch mal auf das Chorsingen zurück. In einem Chor ertönen viele Stimmen (in meinem Chor singen etwa vierzig Personen, etwas weniger Männer als Frauen), auf ihren Zusammenklang aber kommt es an. Einen Klangkörper bilden, aus dem nicht die eine oder andere Stimme herausragt, sondern wo ein jeder mit den andern singt, so dass es fast wie EINE Stimme klingt, und doch hört man, dass es viele Stimmen sind. Viele Stimmen vereinigen sich zu einer, zu einer Stimme in einem mehrstimmigen Klang .... Man hört das von außen; innen drin in dem Klangkörper aber hört man die Nachbarn einzeln, man hört sich selbst. Die Chorleiterin vernimmt jede einzelne Stimme, wenn sie will, oder wenn es Abweichungen gibt; gleichzeitig hört sie den Gesamtklang.

Am letzten Montag begannen wir das Konzert mit einem einfachen modernen Choral (Komponist: Alan Wilson), der indessen an alte Musik anklang, so etwas wie "Ein feste Burg ist unser Gott" oder die Choräle von John Dowland, einem Zeitgenossen von Shakespeare. In der Mitte sangen wir Felix Mendelssohn-Bartholdy, 19. Jahrhundert, und das klang dann doch viel klassischer als die vorherigen Stücke. Zum Schluss aber taten wir etwas - das hatten sich Bettina Strübel und Daniel Kempin ausgedacht -, das die Vielzahl der Stimmen hören ließ, jeden für sich, zumindest teilweise, ein scheinbares Durcheinander. Es exemplifizierte das, was wir draußen täglich erleben: jeder brabbelt für sich dahin. Es lief folgendermaßen ab:

Die Frauen sangen die erste Zeile aus einem "Genfer Psalter", das sind speziell für die Genfer Reformierten im 16. Jahrhundert komponierte Psalmengesänge, und summten auf dem letzten Ton weiter, während die Männer den Psalm 91 auf Hebräisch anstimmten, auch nur die erste Zeile. Dann summten sie auf dem letzten Ton weiter, während die Frauen die zweite Zeile des Genfer Psalters sangen, und sofort, Männer und Frauen jeweils vier Zeilen. das war die erste Strophe, bei den Genfern, bzw. dem später dafür verwendeten Text aus dem 18. Jahrhundert. Die zweite Strophe sangen wir alle klassischzusammen, in einem dreistimmigen Chorsatz, den Frau Strübel geschrieben hatte, der aber wieder nach altem Kirchengesang klang. In der dritten Strophe nun sangen die Männer einstimmig weiter, während die Frauen, jede für sich, den hebräischen Text gleichzeitig sprachen. Nicht sangen, sondern sprachen. Die vierte Strophe folgte wieder mit dem dreistimmigen Satz von Frau Strübel, während die fünfte Strophe einstimmig von den Frauen gesungen wurde, was die Männer mit einem klezmer-artigen Kanon auf "du-du-du" begleiteten. In der sechsten, wieder einstimmig begonnenen Strophe hielt jeder Sänger, jede Sängerin an einer beliebigen Stelle an und summte nur noch den letzten gesungenen Ton; das währte die halbe Strophe; die andere Hälfte wurde gesprochen, und zwar in Unordnung, jeder sprach für sich allein. Aus diesem Stimmengewirr erhob sich zum Schluß die schöne Bassstimme von Daniel Kempin, der Vers 16 des Psalms in einer Vertonung von Shlomo Carlebach auf Hebräisch sang; der Chor übernahm, er sang den nächsten Satz vor, der Chor wiederholte auf Hebräisch: "mit langem Leben sättige ich ihn und lasse ihn meine Hilfe sehen."

Es war eben doch nicht einfaches Gebrabbel.

 

Es war verwirrend, aufregend, zugleich tröstlich und erheiternd. Ich muss unbedingt Lori fragen, wie sie diesen Teil des Konzerts aufgenommen hat.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Frankfurt, den 7. November

Es war eine anstrengende Woche: am Sonntag begann sie schon mit der Generalprobe für das Konzert am Montag; dort hatten wir vor Beginn auch nochmal Proben. Der Saal war voll besetzt und die Reaktionen danach begeistert. Es wurde sogar ein Choral uraufgeführt! Komponiert hatte ihn Allon Wallach, ein Israeli, den unsere Dirigentin, die Kirchenmusikerin Bettina Strübel, in Stuttgart kennengelernt hatte. Der Komponist machte uns Komplimente für unsere Darbietung seines Werks.

Es ging in allen Kompositionen um den Psalm 91, in dem Sätze stehen wie: "Er hat seinen Engeln befohlen, über Dir zu wachen, dich zu behüten, dich auf den Händen zu tragen ...." Aber es stehen auch so größenwahnsinnige Sachen drin wie: "Tausend werden zu deiner Seite fallen und Zehntausende zu deiner Linken, aber Dir wird nichts zustoßen ...." In den gelehrten Gesprächen zwischen den Gesängen erfuhr ich, dass grade mit diesen Zeilen der Teufel den Jesus hat in Versuchung bringen wollen ..... Überhaupt haben mir die Gespräche sehr gefallen, weil sie viele Facetten herausarbeiteten, auch Unterschiede zwischen Juden und Protestanten in dem Verständnis von ein und demselben Text..

Wir singen noch mal am nächsten Mittwoch in der zentralen Stadtbücherei Frankfurts, wo eine interkulturelle Veranstaltung über "Engel" stattfindet, Engel bei Christen, bei Juden, bei Muslimen, bei Sikhs und anderen. Dort wird aber nicht diskutiert.

So haben wir am Mittwoch schon wieder geprobt.

Am Dienstag habe ich eine Versammlung der SPD zum Thema der Lärmbekämpfung am Frankfurter Flughafen besucht. Jemand hatte sorgfältig alle Flugbewegungen seit zwei Jahren in eine Datei eingebracht, und so stellte er Hunderte von Nachtflügen fest, die eigentlich nicht erlaubt sind, für die es einer Sondergenehmigung vom hessischen Wirtschaftsministerium bedarf. Es zeigte sich dass insbesondere Condor seine Flieger systematisch zu spät abfliegen lässt, z.B. auf Mallorca, so dass sie erst kurz vor zwölf in Frankfurt ankommen. Um elf aber beginnt die so genante "Kernnacht", von elf bis fünf Uhr morgens, während legal die eigentliche Nacht auch im Flugverkehr von zehn bis sechs Uhr reicht. Durch den Trick einer "Mediation" hatte man den Lärmgegnern irgendwie diese "Kernnacht" abgeluchst. Während der Flughafen und die Landesregierung jetzt auf die Mediation pfeifen, d.h. sich nicht dran halten, fliegen sie tüchtig zwischen zehn und elf abends und zwischen fünf und sechs morgens. Ich schließe meistens um fünf Uhr morgens mein Schlafzimmerfenster deswegen.

Ich hörte bei der Versammlung en neues Wort: von "absiedeln" spricht die Obrigkeit, wenn sie wegen des Flughafens Anwohner umsiedeln muss. Wenn es gar nicht anders geht ...

 

Morgen ist "Buchgassenfest", das sind die neuen Literaturtage der Literaturgesellschaft Hessen unter ihrem Vorsitzenden Claus Peter Leonhard. Er hat für dieses Fest ein Domizil in der Buchgasse 1 gefunden und knüpft damit an die mittelalterlichen Buchmessen in Frankfurt an, die in jenem Bereich der Innenstadt abgehalten wurden. Dort hatten sich die Drucker, Buchbinder, Buchhändler angesiedelt. Morgen um 19 Uhr beginnen die Lesungen mit Krimis. Am Samstag Nachmittag gibt es eine Lesung für Kinder; am Samstag Abend für Große: dann lesen Paulus Böhmer, Andreas Maier, Levend Seyhan und Barbara Zeizinger, Autoren mit klanghaftem Namen. Also nichts wie hin! Es ist bei der Caritas gleich neben der Leonhardskirche.

 

Frankfurt, den 29. Oktober 2013

Nun, da wir "Winterzeit" haben, beginne ich mein Winter-Tagebuch. Gottseidank gibt es noch Zwetschgen. Viele Zwetschgen dieses Jahr, wenn es auch bald die letzten sein mögen, und ob es richtige Zwetschgen sind, zweifle ich ein wenig, weil die Kerne sich schwer lösen. Bei "richtigen" Zwetschgen gehen die Kerne ganz leicht raus. Die Zwetschgen ess ich roh, jeden Morgen eine Handvoll -- köstlich!

Kennen Sie Rilkes Gedicht über Obst, für dessen Geschmack er keine Worte findet? Er, der Wortkünstler? "Wagt zu sagen, was ihr Apfel nennt", schreibt er in den "Sonetten an Orpheus", und weiter: "Diese Süße, die sich erst verdichtet,/ um, im Schmecken leise aufgerichtet,/ klar zu werden, wach und transparent,/ doppeldeutig, sonnig, erdig, hiesig -/ Oh Erfahrung, Fühlung, Freude-, riesig!"

Wenn schon Rilke die genauen Worte fehlen, was kann ich über den Geschmack von Zwetschgen sagen? Sie erinnern mich an Marzipan, sind nicht ganz so süß, haben aber mehr Körper und einen unendlich süßeren Nachgeschmack als jenes. Sie füllen mich aus, aber machen mich nicht voll, das Nachschmecken stimmt mich heiter.

Hinter meinem Rücken schimmert Sonnenschein, indirekt, aus goldenen Wolken, und immer noch weht ein mächtiger Wind, der sich zeitweise wie ein Sturm gebärdet. Er hat schon die meisten Blätter von den Bäumen gejagt. In anderen Jahren hängen sie oft noch im Dezember gelb-grün-braun an ihrem Platz! Für die Stadtreinigung mag der jetzige Zeitpunkt günstiger kommen als kurz vor Weihnachten ....

Ach, Weihnachten. Es ist ein schwieriges Thema geworden. Das Wort droht in der Werbesprache zu verschwinden. Es wird von all jenen bekämpft, die in der Politik "der Kirche" hinreichende Gründe sehen, um jegliche Religion zu verdammen. (Ich meine, dass die Gemeinde das wichtigste Wort im religiösen Zusammenhang ist, und dass die Moral die Grundlage bietet. Moral gleich Zehn Gebote. Das "Glaubensbekenntnis" hingegen bedeutet eine Zumutung.)

Neulich hörten wir, im Literaturclub der Frauen, eine wunderschön-bittere Geschichte von einer Ich-Erzählerin, die in einer Migrantenfamilie mit sechs Kindern, ohne Vater, Nachhilfestunden geben will und kommt, um sich vorzustellen. Sie schildert den Lärm, das Durcheinander, die Enge, die Beziehungen, eine Tochter richtet vor dem Spiegel ihr Kopftuch, alles sehr anschaulich und anrührend dargestellt, und wie sie zuletzt wieder rausgeht, auf die Straße, und denkt: in drei Wochen ist Weihnachten.

Bei der Besprechung gab es eine Meinungsverschiedenheit: soll der letzte Satz, der Bezug auf Weihnachten, gestrichen werden? Hält die Geschichte nicht in sich sehr gut, ist schlüssig und lesenswert? Ist "Weihnachten" nicht etwas albern Abgewetztes, an das kaum einer mehr glaubt, das überhaupt nicht dahin gehört?

Ich habe auch meinen Bezug zu dem Fest verloren, ich könnte für einen Besuch von auswärts keine "deutschen Weihnachten" mehr ausrichten, wie ich es als Kind erlebt habe, mit Klingelglöckchen und Kerzenduft, mit andächtigem Singen von Weihnachtsliedern, mit den Überraschungen der "Bescherung". Ich kenne Leute, die das aufrecht erhalten, und wenn ich dabei sein darf, dann genieße ich es. Kenne ich doch nahezu alle Lieder, und bei vielen noch den Text auswendig. Aber das ganze Zeremoniell selbst anleiten, nein, da käme ich mir lächerlich vor.

Und dennoch: ich wollte den letzten Satz in der Erzählung bewahren. Ich empfand diese Wendung als eine Überraschung, das schon, aber auch als einen Halt, einen Hinweis auf den Platz, auf dem ich stehe. Oder die Ich-Erzählerin. Ich gehöre in das Weihnachten-Land, nicht in das Kopftuch-Land. Ich gehe (zum Beispiel als Lesepatin) von meinen Grundsätzen aus: Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit. Woher sonst nähme ich die Kraft, um mich auf die Arbeit der Einfühlung, der Geduld, der Fantasie, um die Lernlust anzuspornen, und all die anderen Anforderungen einzulassen, wenn ich nicht eine eigene Grundlage besäße, auf die ich mich verlassen kann? Seltsamerweise, das bemerkte ich bei unserer Besprechung, gehört auch "Weihnachten" dazu. Als Orientierung.

Ansonsten würde es im Dezember ja auch ziemlich düster....