Tagebuch Sommer 2006

Frankfurt, 14. November

In einem Hotel traf ich schlanke junge Männer in Anzug und Krawatte an der Rezeption, um die Gäste zu empfangen. Sie verstanden zu lächeln. Aber den Unterschied zwischen "Rechnung" und "Quittung" kannten sie nicht. Das war in Berlin. In Frankfurt kaufte ich in einem vornehmen Feinkostladen ein. Die Verkäuferinnen wußten ein Hefebrot nicht von einem Sauerteigbrot zu unterscheiden.

Ich klagte einer Lehrerin, daß die zweisprachigen Kinder hierzulande nicht genügend an das Deutsche herangeführt würden, weil die Lehrer nicht merkten, daß diese Schüler oft nur eine Fassade von Deutschkenntnis aufbauen, aber in Wirklichkeit nicht verstehen. Ach, sagte sie, auch die einsprachig Deutschen sind in dieser Lage! Sie verstehen oft nicht, was sie lesen.

Ich war als Übersetzerin auf einen Kongreß geladen worden, um zu helfen, wo es nötig sei. Ich hatte wenig Arbeit, denn die Mehrsprachigen beherrschten den Ablauf und fanden eine zusätzliche (konsekutive) Übersetzung zu zeitraubend. Da die nur-Englischsprachigen (genauer: die nicht-Deutschkundigen) sich wehrten, wenn etwas auf Deutsch vorgetragen wurde, wendete man sich durchgehend dem Englischen zu. Die einsprachig Deutschen schwiegen. Warum? Aus Schuldbewußtsein? (Etwa: selber schuld, wenn ich kein englisch kann?) Oder weil sie es gewohnt sind, sich im Ungefähren zu bewegen? (Schon von der Schule her?)

Das alles finde ich äußerst beunruhigend.

 

Frankfurt, 4. November

Der Abend im Siegmund-Freud-Institut galt dem Buch "woraus ist morgen gemacht", in dem Frau Roudinesco und der Philosoph Jacques Derrida sich über Fragen wie Familie, Todesstrafe, Antisemitismus u.a. unterhalten, und zwar immer mehr oder weniger durch die Brille der Psychoanalyse. Es zeigte sich, daß die deutsche Fassung sprachlich nicht an die Klarheit und Eingängigkeit des französischen Originals herankommt. Dennoch: Derrida wurde mir verständlicher durch dieses Buch.

Das Verstehen begeistert mich, da gibts kein Halten.

Etwas, das ich nicht verstehe, ist das Gelächter der Frankfurter, wenn sie von jemandem erfahren, daß er aus Offenbach stammt. Neulich traf ich einen Studenten, der mir berichtete, sein Professor habe ihn das ganze Semester hindurch mit seiner Offenbacher Adresse gehänselt, nachdem er davon gleich am Anfang zufällig erfahren habe. "Was ist daran lustig?" fragte ich mehr als einen. Niemand wußte es, alle fanden es selbstverständlich. Probieren Sie es selber aus: sagen Sie zu einem Frankfurter "Offenbach", und schon wird sich automatisch sein Mund zu einem vergnügten Lächeln kräuseln. "Offenbach", das ist der Witz, der einem in dieser Stadt Tag und Nacht zur Verfügung steht.

Kann ihn mir jemand erklären?

Frankfurt, den 26. Oktober

Der Abend im Siegmund-Freud-Institut - die Eingeweihten sprachen nur von "SFI" - beschäftigt mich noch immer. Es standen soviele Fragen im Raum, auf die nicht eingegangen werden konnte, ja, ich empfand ein gewisses Chaos im thematischen Ablauf, was jedoch wahrscheinlich die Ursache für die Lebendigkeit war, die den Abend auszeichnete. Mme Roudinesco weiß sich klar, einfach, freundlich zu artikulieren; nach anderthalb Stunden entstand sogar der Anfang von einer Debatte mit dem Publikum - es war die Frauenfrage, die das auslöste. Dürfen Mütter arbeiten gehen? Eine bekannte Analytikerin aus dem Publikum wollte wissen, von wann ab dies dem Kind nicht mehr schaden könne? Frau Roudinesco erwiderte: Wenn es der Mutter gut geht, geht es auch dem Kind gut, und wenn die Mutter arbeiten will, dann soll sie das tun. Sie hatte damit die jüngeren Frauen im Saal auf ihrer Seite, und das Gesicht der bekannten Analytikerin bewölkte sich. Einzige Voraussetzung, sagte Frau Roudinesco: das Kind muß wissen, dass es geliebt wird, daß es willkommen ist. Überall.

Offenbar setzt man in Paris andere Prioritäten als in Frankfurt oder in Deutschland. Darüber hätte ich gern mehr gewußt. Was wird hier wichtig genommen, und warum, was drüben? Ob das Institut francais einmal eine Veranstaltung über diese Frage organisiert?

Frankfurt, 22. Oktober

Soviel Zeit ist vergangen seit meiner letzten Eintragung. In der ich viel geschrieben habe, wird alles in Luxemburg veröffentlicht - und ich muß es in die Webseite eintragen, und schaffe es nicht, hab all die Tipps und Tricks vergessen, die mir Herr Lang vor einem halben Jahr gezeigt hat. Werde mir Hilfe suchen.

Die Buchmesse erlebte ich wieder als groß und stark, und ich blieb gesund dabei, und es machte Spaß, erweiterte mir den Horizont. War jeden Tag dort.

Zur Zeit studiere ich die Psychoanalyse durch die Brille von Elisabeth Roudinesco und Jaques Derrida; denn Bruno Peyrefitte vom Institut Francais hat mich wieder gebeten, zum Dolmetschen zu kommen. Nächsten Dienstag tritt Mme Roudinesco in Frankfurt auf, stellt ihr Buch mit den Gesprächen vor, die sie mit Derrida noch vor seinem Tode geführt hat, wobei Psychoanalyse den roten Faden bildet. Im Kapitel "Todesstrafen" kommen Überlegungen übers Verzeihen vor, und ich denke: Verzeihen läßt sich nicht per Willensanstrengung erreichen, auch wenn die Vernunft es sich wünscht. Verzeihen ist eine Gnade, ein Geschenk. Derrida drückt das philosophisch aus: "Das Verzeihen ist heterogen zum Raum des Rechts." "...daß das Verzeihen nur da seiner reinen Bestimmung entspricht...., wo es dem Unverzeihlichen verzeiht,... sich folglich über das Recht erhebt...."   "In der Idee des Verzeihens ist etwas Transhumanes."  ".... alles wieder in Gottes Hand legen...  die letzte Macht, die verzeihen kann...."

 

Frankfurt, 12. Oktober

Die Buchmesse ist auch vorbei, mein Bericht geschrieben (erscheint morgen in d'Letzebuerger Land).

Über den Friedenspreisträger schreibe ich für nächste Woche. Es lohnt sich, ihn näher kennenzulernen. Vorher wußte ich praktisch nichts über ihn.

"Europa spricht mit vielen Zungen" hieß eine Diskussionsrunde im Internationalen Zentrum auf der Buchmesse. Ein Teilnehmer meinte, man hätte es besser "Europa spricht in vielen Sprachen, aber mit einer Zunge" genannt. Angekündigt war das Gespräch unter "Sprachgebrauch in der EU", was mich zu der irrigen Annahme geführt hatte, es würde über die Sprache in den EU-Institutionen geredet. Darum ging ich hin, obwohl meine Zeit knapp war. Ein Staatssekretär des Äußenministeriums hielt eine Einführung, in der er darauf hin wies, daß die Übersetzerei in der EU jährlich 3/4 Milliarden Euro kostet.  Später gestand er mir, auch er hätte erwartet, daß über die Sprachen in den Institutionen gesprochen würde.

Doch er sah das Thema unter einem andern Gesichtswinkel: Wird Deutsch in den Arbeitsgruppen und am Verhandlungstisch als eine von drei Arbeitssprachen verwendet? Wenn nicht, geht er nicht hin!

Das ist politisch gedacht. Und notwendig, schließlich sprechen 100 Millionen Menschen deutsch in der EU.

Ich aber fragte nach der Qualität des Deutschen, das in der EU benutzt wird. De facto können Deutschsprachige ja die Texte der EU häufig nicht verstehen, weil diese nämlich einen eigenen Jargon entwickelt haben, eine Euro-Sprache, die niemand gelernt hat. Konkret heißt das: die Übersetzer und Dolmetscher in der EU müßten regelmäßig ihre eigene Muttersprache neu lernen, müßten den Kontakt zum verständlichen Deutsch systematisch pflegen. Als Teil ihres Berufsbildes. Das geschieht nicht, oder nur individuell und freiwillig, nach meiner Efahrung selten.

Ich habe meinen Standpunkt auf der Buchmesse zum Ende der Diskussion einbringen können. Das machte Spaß, und wer weiß, vielleicht hat es ja eine Wirkung.

Frankfurt, 2.Oktober

Die Hessischen Literaturtage sind vorbei, es hat doch Spaß gemacht. Hier die Rede, die ich zur Eröffnung vorbereitet und gehalten habe:

 

LITERATURGESELLSCHAFT HESSEN e.V.
Barbara Höhfeld, Vorsitzende

Eröffnung der Hessischen Literaturtage 2006 in Wiesbaden am 27.9.2006, 18 h im Rathaus


Die berühmte französische Literatin und Intellektuelle, Madame de Stael, schrieb: (Manchmal) ...“glaubt man sich den großen Mysterien zum Greifen nahe - doch dann stürzt die Wirklichkeit der Dinge alles wieder ins Dunkel“.
Davon handelt Literatur: Die Wirklichkeit der Dinge aus dem Dunkel holen.
Dass wir hier stehen und die Hessischen Literaturtage eröffnen dürfen, verdanken wir hingegen der Politik, verdanken wir denjenigen, die in politischen Gremien für die Vergabe von öffentlichen Mitteln zur Förderung der Literatur zuständig sind.
Wir dürfen uns also freuen, dass sich hier und heute echte Literaten mit echten Politikern in einem Raum befinden und sich miteinander unterhalten. Sich gegenseitig anerkennen.
Ob freilich die Politiker auch lesen und die Literaten sich in der Politik engagieren, das steht auf einem andern Blatt.
Zwar brauchen Literaten Geld - wie alle Menschen - Geld, das sie in ihrem Beruf auf dem freien Markt oft nicht verdienen können. Zwar kann man sehr wohl Politik machen, ohne seine Zeit auf das Lesen von Literatur zu verwenden. Zwar interessieren sich Literaten öfters gar nicht für politische Fragen - das ist Realität. Fest steht aber auch: unser Staatswesen braucht, um als Demokratie fortzubestehen, die Literatur: Fantasie, Wahrheit, Ausdrucksfähigkeit, die es ohne sie nicht gibt.
In diesem Raum trage ich mit solchen Worten allerdings Eulen nach Athen. Herr Fischer von der Wiesbadener Stadtregierung weiss es, Herr Zetzsche von der Landesregierung weiss es, und ich sage Ihnen im Namen der Literaturgesellschaft Hessen  einen ganz persönlichen Dank für Ihr Verständnis. Es ist wunderbar, daß es Sie gibt, Sie, die kenntnisreich die Brücken bauen zwischen Politik und Litertur, und dabei möchte ich Sie, Frau Thies, gewiß mit einschließen.

Literatur hat aber noch auf andere Weise mit Politik zu tun. Mme de Stael, deren Biografie von Sabine Appel wir am Freitag in der Landesbibliothek vorstellen werden, war eine der ersten, die darauf aufmerksam gemacht hat: jedes literarische Werk wird von der Epoche, von der politischen Situation geprägt, in der es entstanden ist. Ja, es läßt sich in seiner Gänze nur aus seiner Zeit heraus begreifen. Manchmal enthält es Formulierungen und Situationen, die auch in späteren Jahrhunderten noch ihre Geltung behalten, das werden dann die „Klassiker“. Andere verlieren ihren Glanz, ihre Bedeutung. Rolf Dieter Brinkmann wäre ein solcher Fall: zu seiner Zeit ignorierte er die Vorschriften des Literaturbetriebs, er befaßte sich mit der „Wirklichkeit der Dinge“, die „alles ins Dunkel stürzt“, und befreite so seine Altersgenossen von dem Joch der Vorurteile - nichts anderes waren damals die „großen Mysterien“, Vorurteile. (Vermutlich bis jetzt.)
Heute nun, dreißig Jahre später, wo sich bis in die letzten Zeitschriften hinein die Schreiber mit der „Wirklichkeit der Dinge“ befassen - oder doch so tun - wirkt Brinkmann farblos, man versteht seine damalige Bedeutsamkeit nicht mehr. Heute greift man auf die Kontinuität der Geschichte zurück, auf Sinngebung, auf Zusammenhänge. Der diesjährige Friedenspreisträger Wolf Lepenies ist dafür ein Beispiel: seine Kunst besteht darin, weit auseinander liegende Umstände - weit auseinander nach Zeit und nach Ort - in einen größeren Zusammenhang zu stellen, wie z.B. die kulturelle gegenseitige Bezogenheit auf einander von Frankreich und Deutschland, und das schon seit Jahrhunderten. Freilich läuft er die Gefahr einer gewissen Beliebigkeit der Bezugspunkte, die den Zufällen seiner eigenen Lektüre folgen. Aber er bietet neue Ausblicke.
Auch die Hessischen Literaturtage kommen nicht ohne Zufälle aus. Wollten wir alle literarischen Aktivitäten der in Hessen lebenden Schreibenden öffentlich darstellen, brauchten wir mindestens vier Wochen. Wir haben nur vier Tage, und wir mußten auswählen aus dem Nächstliegenden. Dennoch oder deswegen ist das Programm nun wirklich bunt kariert geworden: von den literarischen Neuerscheinungen bis hin zu den Indern von der Buchmesse; von Joachim Durrang, dem surrealistischen Dichter, der am Samstag ins Kurzgedicht einführt, zur Uraufführung eines Theaterstücks von vier alternativen hessischen Jungautoren am Donnerstag. Vom Poetry-Slam zu den Prominenten Pausewang und Arjouni.
Die Hessischen Literaturtage bieten vier Tage lang die Möglichkeit, in das Dunkel einzutauchen, das die „Wirklichkeit der Dinge“ umgibt. Mitten in unserer Zeit.
Dank an alle, die dazu beigetragen haben!




Frankfurt, 29. September

Nein, es war keine von Otto Winzens beschriebenen Frauen da. Vielleicht hat er sie erfunden? Das wäre ja nichts Schlechtes, denn die Personen, die er schildert, besitzen den Charme der Wirklichkeit. Andere Kolleginnen fanden auch nichts Abträgliches in der Darstellung.....

Alle vier Autoren konnten Publikums Interesse wecken, sie überraschten, sie berührten, sie weckten Fragen, die freilich erst nachher, privat, gestellt wurden. Eine öffentliche Diskussion unter Einbeziehung des Publikums schien niemand zu wollen (außer mir!), vielleicht macht man das in Wiesbaden nicht? Jedenfalls scheint es allen gefallen zu haben.

So freue ich mich auf die vier weiteren Autoren heute abend in der Landesbibliothek. Wieder teilen Renate und ich uns die Moderation. Ich werde Anant Kumar ("Indien Süß und Sauer") und Sabine Appel ("Mme de Stael") vorstellen (ab 18 h).

Vorher gehe ich noch mit Regina Berlinghof (Autorin, Verlegerin) in den Seniorenclub hier im Mittleren Hasenpfad zwecks einer Lesung. Ich stelle sie vor, sie liest.  Bei den Senioren entstehen fast immer Gespräche oder sogar Diskussionen nach oder während einer Lesung. Weil wir in Frankfurt sind?





Frankfurt, 28. Septembert

Hab eben zwei neue Wörter gelernt:

Podcast heisst das eine. Im "Buchmessen-Blog" begegnete es mir, der von ausgesuchtem Buchmessen-Nachwuchs geschrieben wird - ein "Blog" bedeutet übrigens einen Ort im Internet, wo man so seine Eindrücke ausplaudert, persönlich und möglichst unterhaltsam. Ähnlich wie das vorliegende Tagebuch... Also ein "Podcast" ist das gleiche, aber als Film- oder Tonsendung. Man könnte es auch einen "Audio-Blog" oder einen "Video-Blog" nennen.

Das zweite Wort ist "Sudoku". Das kommt aus dem Japanischen und stand letztes Jahr in England im Wettbewerb mit Podcast um den ersten Platz als "Wort des Jahres".  Podcast gewann. Mit Sudoku ist keineswegs eine Sonderform der Seifenoper gemeint, nein, damit bezeichnet man eine Art Kreuzworträtsel, das nur aus Zahlen besteht, die in einer bestimmten Form eingesetzt werden müssen. Ich schließe aus der Häufigkeit diese Wortes, das viele Menschen sich mit solchen Kreuzworträtseln ihre Zeit vertreiben....

Heute abend stelle ich in Wiesbaden zusammen mit Renate Chotjewitz vier Autoren vor; Renate zwei, ich zwei: meine heißen Sylvia Schopf und Otto Winzen. Sylvia hat ein wunderschönes Kinderbuch über Afrika geschrieben, und Otto beschreibt vier Frauen in den besten Jahren, aber ein wenig ironisch, und ich fürchte, die betreffenden Frauen haben diese Ironie nicht bemerkt. Oder noch schlimmer: finden sie ganz angebracht. Na, vielleicht lerne ich heute eine von ihnen kennen?

Die Titel? Bitteschön: "Marie hat jetzt Stachelzöpfe- Von Europa nach Afrika und zurück", illustriert, bei Annette Betz; und "Ich bin so schön - Reisen ins Innere der Mondin", bei EDITION 6065.

 

Frankfurt, 25. September

Was les ich da eben in der taz? Die Bundesmarine fährt gen Libanon und hat noch nicht mal eine richtige Landkarte!

Jedenfalls hat sie der Presse eine Karte vom Zielgebiet gegeben, auf der keine Binnengewässer vorkommen, weder Suezkanal, noch Totes Meer, noch See Genezareth. Jordaniens Landgrenzen wurden kräftig in den Sinai hineingezogen. Westjordanland oder Gasa erscheinen gar nicht, nicht als "besetzte Gebiete", nicht als "Palästina". Ob dahinter ein Mangel an Wissen steht?

Mein Vater pflegte zu sagen: "Wissen ist Macht". Das war so ein Spruch aus der Arbeiterbewegung, sollte das Bildungsstreben fördern. Ich hab ihn eigentlich nicht verstanden, es kam mir eher vor, als ginge es um einen Wettbewerb in Angeberei. Besser gesagt: dass mein Vater sich gegen Angeber verteidigen können gewollt hat.... 

Freilich erlebt man es heutzutage auf Partys, wie einer den andern übertrumpfen will. Wehe, man weiss nicht über die letzten Entwicklungen bescheid! Mit Befriedigung stelle ich immer wieder fest, dass ich als taz-Leserin mich mit jedem FAZ-Leser messen kann. Vorausgesetzt ich lese fleissig....

Die Arbeiterbewegung wollte Wissen fördern, das eine demokratische Beteiligung Aller erst möglich macht. Insofern war Wissen etwas für die Macht. Aber Wissen allein genügt nicht zur Demokratie, es gehört auch Verantwortung dazu. Die neue hessische Star-Sozialdemokratin zählte vor ihren Anhängern auf, welche Sparmaßnahmen der Koch-Regierung sie alle rückgängig machen will, wenn sie die nächste Wahl gewinnt, sagte aber nichts über die Finanzierung. Offenbar rechnete sie mit keinerlei Wissen bei den Frankfurter Sozialdemokraten.

Wissen scheint nicht hoch im Kurs zu stehen. Oder nur als ein Geheimwerkzeug? Immer wieder hör ich, dass es in den Schulen kein schlimmeres Schimpfwort gibt als "Streber". Jemand, der offen nach Wissen strebt, wird niedergemacht. Was ist das für eine Demokratie?

 

Frankfurt, den 22. September

Gestern abend ging ich mit einer hungrigen Dreijährigen an der Hauptwache zum Essen. Der Abend zog herauf, ein warmer heller Abend, ich fand uns auf der dicht besetzten Terrasse noch einen Tisch. Wohl wusste ich, dass die wenigsten der etwas anspruchsvollen Restaurants auf Kinder eingestellt sind. Und gegenüber früheren schlechten Erfahrungen fand ich auch einen wohl tuenden Unterschied: alle mochten das Kind, selbst als es, auf sein Essen wartend, rufend und singend herumrannte. Ein kleiner Junge, schon zehn oder so, schaute sympathisierend, fast väterlich, auf das unbefangene Mädchen, begleitete sein Singen, sein Untersuchen mit verständnisvollem Lächeln. Seine Erwachsenen ignorierten eher, was geschah. Die waren mit sich beschäftigt. 

Meine kleine Gefährtin bestellte sich eine Apfelsaftschorle. Das Glas kam: Gross, mit schickem schwarzem Strohhalm. Es stand unerreichbar hoch vor ihm auf dem Tisch. Geschickt kniete es sich auf die Planken des Gartenstuhls, wo es allerdings keinen guten Halt fand beim Trinken.

Ich fragte die Kellnerin, ob es ein Kissen gebe für das Kind. Ein ebenso freundliches wie hilfloses Kopfschütteln war die Antwort. Nudeln mit Tomatensosse bekam die Kleine. Sie bestanden aus ca. einem halben Meter langen Spaghettis, auf einem schicken Riesenteller elegant ineinandergedreht, und waren sehr heiss. Mit dem Suppenlöffel bekam die Kleine keine einzige Nudel in die Nähe ihres Mundes. Ich zeigte ihr, wie man mit der Gabel behutsam einen paar Nudeln aufwickelt, sie kurz abkühlen lässt und dann in den Mund steckt. Leider war die Gabel doppelt so gross wie ihr Mund und die Nudeln paßten nur zur Hälfte hinein. Aber es ging, und es schmeckte ihr. Auf meinen Wunsch bekam ich zusätzliche Servietten gebracht. Die Kleine fand sich damit ab, dass sie "gefüttert" wurde, was sie normalerweise radikal ablehnen würde - sie ist doch kein Baby mehr! Sie erkannte die besonderen Umstände an.

Jetzt beim Erzählen wundere ich mich, warum ich keine Kuchengabel bestellt habe. Vor lauter Kampf mit den Verhältnissen habe ich nicht daran gedacht.

Wie erzählte mir neulich jemand? "Im Ausland würde man selbstverständlich niemals einem Kind ein Glas hinstellen, an das es nicht herankommt - da steht immer ein Stuhl bereit, oder ein Kissen, so daß es auf gleicher Höhe mit den Tischgenossen sitzt..."

Frankfurt, den 18. September

Des Sommers ist kein Ende, er beschert uns magische Abende in der Stadt, wo fröhliche Menschen sich einfach aufs nächste Mäuerchen setzen und ins Gespräch verfallen. Kürzlich zog ich mich auf die Tersse eines 5-Sterne-Hotels zurück, abgeschirmt von allem Straßenlärm. Ein weitläufiger Hof, wenig Grün, doch das Plätschern der Fontänen macht das wett. Und die Kellner. Als hätte die Direktion eine Klasse von Hochbegabten zwecks Einüben von Manieren und Dienstbereitschaft eingestellt, so vollendet zelebrierten die schönen jungen Leute  ihren Service. Aufmerksam und unaufdringlich, lächelnd, respektvoll - mir fiel die Verszeile von Baudelaire ein: calme, luxe et volupté.... Gerade als ich ging, wurden die Kerzen an den Tischen angezündet.

Ich las dort in einem wahrhaft bequemen Sessel, studierte Mme de Stael, dieses Monstrum an Gelehrtheit und praktischer Intelligenz. Wieviel Bücher hat sie veröffentlicht! Das mußte doch alles mit der Hand geschrieben werden. Vier Kinder geboren, oder waren es fünf? Und ständig offenes Haus geführt. Ihre Gäste hatten solche historische Bedeutung, dass sich in einem ihrer Häuser heute ein Verein zur wissenschaftlichen Untersuchung der Gesellschaften gebildet hat,die sich zu de Staels Zeiten hier versammelten. Am 29.9. will ich bei den Hessischen Literaturtagen Sabine Appels Biographie von Mme de Stael vorstellen. Mehr noch: zur Eröffnung werde ich sie heranziehen als Kronzeugin für die Notwendigkeit von Literatur und Kultur im Politischen. Gegen die Verkommerzialisierung möchte ich sprechen. Und nächstes Jahr, zum hessischen "Tag der Literatur", komme ich auf ihren dreiwöchigen Aufenthalt in Frankfurt zurück.

Da gibts zu tun.

Frankfurt, den 15. September

Eben habe ich die Äusserungen des Papstes zum Islam gelesen. Kopfschütteln.

Das Fernsehen benahm sich päpstlicher als der Papst - während dieser sein privates Befinden und sein Amt anscheinend nie ganz auseinander zu halten vermochte, stopften die Reporter einfach alles, was sich an dieser Visite zu Bild machen liess, auf den Bildschirm und nannten es "Papstbesuch". Nicht dass ich mir alles angeguckt hätte, Gott behüte. Beim Zappen stiess ich auf die Bemerkung eines hochgestellten Klerikers mittleren Alters: "... so ein schöner junger Kardinal, das hat ihm gefallen....", und ein Ausdruck von Seligkeit zog über sein Gesicht. Peinlich berührt, zappte ich weiter.

Der Papst demonstrierte  in der Kleidung eine Ästhetik, die mich an halbdunkle, sinnenfeindliche Pfarrhäuser aus den Sechzigern erinnerte.Dieses Rot! Grauslig. Einmal, ein einziges Mal, sah ich ihn in einem grünen Gewand mit einer frischen, erfrischenden  Farbtönung. Danach waren es wieder die häßlichen Nachkriegsfarben. Wo doch sein Vorgänger sich mit so ausgesuchter Eleganz kleidete....

Offenbar hatte der Papst sich vorgenommen, "Güte" auszustrahlen, irgendwann hat er so etwas gesagt, und er gab sich alle Mühe, um sich an diesen Vorsatz zu halten. Die Mühe war ihm anzumerken. Wie gescheit wirkte er an der Universität, wo er sich erleichtert unter seinesgleichen sah und Humor entwickelte!

Wie aber kann es ihm einfallen, heute, in unserer Zeit, über den Islam zu urteilen, indem er sich Gesprächspartner aus der Vergangenheit mit passenden Stellen aussucht, um auf solcher Grundlage die fremde Religion zu verurteilen?  Mein Kopfschütteln will gar nicht mehr aufhören.

Letztlich vertritt er ja uns alle in der Welt, auch solche, die nicht an ihn glauben.  Wenn er über den Islam diskutieren will, soll er mit Muslimen sprechen!

 

Frankfurt, 13. September

Seit einer Woche funktioniert mein DSL-Anschluss nicht, der Störungsdienst brilliert mit Besetzt-Zeichen. Um allerdings bis zu diesem "Besetzt" durchzudringen, muss ich jedesmal mit einer Maschinenstimme reden.  Frustrierend. So lande ich wieder in einem Internetladen.

In dieser Woche bin ich zu Frau Chung zurückgekehrt, der koreanischen Akupunkteurin. Sie behandelt vor allem mein geschwollenes rechtes Knie, aber eben auch den übrigen Körper und die Seele. Ich fange wieder an zu singen!

Ein Verleger interessiert sich ernsthaft für meinen Roman, er möchte ihn nur etwas umgeschrieben haben, mit "weniger Frühstück" und mehr Nebenhandlungen. Er sagte mir das auf eine so verständnisvolle, aufbauende Weise, dass ich mich wirklich an eine Neufassung von "Endersgründchen" gemacht habe, unter neuem Titel: "Die Entdeckung der Macht". Erstaunlich, wieviel Abstand ich in den letzten zwei Jahren zu diesem Text bekommen habe! Wie oft kann ich die geschilderten Eeignisse unter neuer Einfühlung stärker differenzieren als das vorher möglich war!

Alles, was ich sonst tun will oder tun müßte, empfind ich als bedrängend, die Zeit reicht einfach nicht....

Ich bemühe mich trotzdem: die hessischen Literaturtage bedürfen vielfältiger Vorbereitung, dem Club der Frauen möchte ich eine Veranstaltung über "Mme de Stael in Frankfurt" vorschlagen, für das LIT-Frühstück im November brauchen wir einen Dolmetscher für Litauisch. Die Buchmesse naht, und ich weiss noch nicht genug über den Empfänger des Friedenspreises, Prof. Lepenies. Ich hab ein Buch von ihm über Kulturpolitik und Geschichte begonnen, in dem er sich langatmig mit uralten fixen Ideen der deutschen Akademiker befaßt. Gelangweilt hab ich das Buch aus den Augen verloren...

 

Frankfurt, den 8. September

Schon eine Woche wieder daheim, habe ich die Erschöpfung, mit der ich hier ankam, inzwischen überwunden. Erschöpft von der Abwehr alter Gespenster? Ermüdet von der Fürsorge für den alternden und doch liebenswürdigen Hund?

Ich werde ein Bild von der Hündin einsetzen, sie ist so süß!

Jedenfalls kam ich nicht mehr zu mir, zu meinen Sachen, fast so wie früher. Immer stand ich für andere bereit, wenn es selbst damals auch Hierarchien in meiner Dienstbereitschaft gab. Mir fällt ein luxemburgischer Liebhaber ein, den ich sehr mochte, aber als er verlangte, ich solle zur Mittagszeit dreiviertel Stunden früher aus dem Büro gehen, um ihm Essen zu kochen - Luxemburger speisen stets punkt zwölf - da habe ich abgelehnt. Er kündigte kurz darauf unser Verhältnis. Jetzt kann ich drüber lachen....

Mein Pariser Enkel kam letzte Woche mit seinem Freund nach Luxemburg,  und blieb fünf Tage. Die beiden wollten gern in den Wald, es regnete fortwährend, und wir begnügten uns mit Museum. Meine Erschöpfung stieg, aber als der Zug sich mit den beiden wieder Richtung Paris in Bewegung setzte, habe ich geweint. Danach ging ich noch einmal mit der Hündin spazieren und bin dann fluchtartig abgefahren. Nur an der Grenze lud ich noch ein paar Flaschen Riesling von der luxemburgischen Mosel ins Auto. Der Luxemburger Wein ist unvergleichlich, fruchtig, herb....

 

Luxemburg, 24. August

Warum braucht man in Luxemburg mehr Sonne als anderswo? Weil es dort weniger davon gibt.

Die Rechnung geht nicht auf, ich weiss wohl. Es lagert etwas Unsichtbares zwischen den Menschen, das ihnen das Leben schwer macht. Zwar nehmen sie es leicht, aber das kann nur innerhalb der Grenzen gelten. Sie nehmen es leicht, weil jeder die Regeln kennt: lädst du mich zum Essen ein, lad ich dich auch ein. Frauen ohne "männlichen Schutz" sind Huren oder Schreckschrauben, noch immer.

In den Zeitungen bietet sich dem Leser ein ausgleichender Ueberblick über die Weltpolitik, darin wirken alle Knoten als auflösbar. Hier könnte das sowieso nicht passieren, sagt man sich. Hier herrscht soziale Kontrolle aller über alle.

Allgemeinplätze! würde jetzt mein Redakteur schimpfen und die Veröffentlichung verweigern. So wie er das mit meinem Artikel über Palästina getan hat, zu Recht.  Das Besondere, Einmalige, Persönliche wird gefragt. Das, was sich vom Produkt des  Berufsjournalisten unterscheidet.

Wahrscheinlich weckt der Regen in mir alle melancholischen Gedanken aus meinen 33 Jahren in Luxemburg: diesem dampfenden Gemisch aus Wohlstand und Angst, aus engen Strassen und Sprachenvielfalt, aus katholischem Aberglauben und wirtschaftlicher Schläue. Ueber 100 "Kräuterwische" hatte ein Blumenhändler zum 15.  August vorbereitet, und alle verkauft! Vom Pfarrer zu Mariae Himmelfahrt gesegnet, vertreibt der "Kräuterwisch" für ein Jahr lang die bösen Geister aus dem Haus. Man hängt ihn auf den Speicher......

 

Luxemburg, 24. August

Warum braucht man in Luxemburg mehr Sonne als anderswo? Weil es dort weniger davon gibt.

Die Rechnung geht nicht auf, ich weiss wohl. Es lagert etwas Unsichtbares zwischen den Menschen, das ihnen das Leben schwer macht. Zwar nehmen sie es leicht, aber das kann nur innerhalb der Grenzen gelten. Sie nehmen es leicht, weil jeder die Regeln kennt: lädst du mich zum Essen ein, lad ich dich auch ein. Frauen ohne "männlichen Schutz" sind Huren oder Schreckschrauben, noch immer.

In den Zeitungen bietet sich dem Leser ein ausgleichender Ueberblick über die Weltpolitik, darin wirken alle Knoten als auflösbar. Hier könnte das sowieso nicht passieren, sagt man sich. Hier herrscht soziale Kontrolle aller über alle.

Allgemeinplätze! würde jetzt mein Redakteur schimpfen und die Veröffentlichung verweigern. So wie er das mit meinem Artikel über Palästina getan hat, zu Recht.  Das Besondere, Einmalige, Persönliche wird gefragt. Das, was sich vom Produkt des  Berufsjournalisten unterscheidet.

Wahrscheinlich weckt der Regen in mir alle melancholischen Gedanken aus meinen 33 Jahren in Luxemburg: diesem dampfenden Gemisch aus Wohlstand und Angst, aus engen Strassen und Sprachenvielfalt, aus katholischem Aberglauben und wirtschaftlicher Schläue. Ueber 100 "Kräuterwische" hatte ein Blumenhändler zum 15.  August vorbereitet, und alle verkauft! Vom Pfarrer zu Mariae Himmelfahrt gesegnet, vertreibt der "Kräuterwisch" für ein Jahr lang die bösen Geister aus dem Haus. Man hängt ihn auf den Speicher......

 

Mittwoch, 23. August

Luxemburg. Kaum zehn Häuser weiter von dort, wo ich wohne, endet die Stadt. Die Strasse mündet in einen frisch gepflügten Acker, dunkelbraune Scholle, aber nicht glänzend. Gestern abend, als ich um zehn noch mit dem Hund rausging, donnerte ein Höllenlärm von fern übers Feld, mit vier blendend hellen Scheinwerfern ausgestattet, ein Traktor. Er zog eine Egge hinter sich her. Wohl ein Freizeit-Landwirt, der sich tagsüber woanders verdingt. Geht man die Strasse in die andere Richtung, findet man noch Brachgrundstücke, mit dem Hund suche ich sie täglich auf, damit er dort korrekt seine Geschäfte verrichtet. Er schnuppert und schnüffelt an den Grasbüscheln, er verfällt in ein rauschhaftes Zittern dabei, und nach einem Weilchen hockt er sich und macht, was er macht. Ich gehe über einen frisch geplättelten Bürgersteig durch die Brachgrundstücke, und dort sind nach dem Regen unzählige Nacktschnecken unterwegs, schwarzbraun, kleine, halb so lang wie mein kleiner Finger, dicke, die doppelt und dreimal so gross sind. Manche strecken sich, andere krümmen sich zum Kreis, und eine winzige reckte ihr Haupt wie eine tanzende Kobra. Der Hund berührt diese Tiere nicht, er interessiert sich nur für die Gerüche von anderen Hunden.

Mit dem Regen scheint es vorbei zu sein, heute wurde es wieder wärmer. Ich hoffe, es bleibt so. In Luxemburg braucht man die Sonne noch ein bisschen dringender als woanders.

Montag, 14. August

Diese Erleichterung auf den Gesichtern, weil die Waffen seit heute morgen schweigen, im Libanon und in Israel. Und das Vertrauen der Flüchtlinge, mit dem sie sich sofort wieder auf den Weg in ihre Heimat machen! Freilich seh ich nicht mehr als das Fernsehen zeigt, und das ist meine Welt - für den Moment.

Unabhängig davon bin ich inzwischen in Luxemburg, im Kreise von Freunden, von allerliebsten Menschen, denn überhaupt wird in Luxemburg, ganz wie in Frankreich, unentwegt geherzt und geküsst. Hier reden alle Leute in drei Sprachen, die meisten in vier oder fünf, weil sie neben den drei Muttersprachen luxemburgisch, deutsch und französisch auch noch englisch und vielleicht italienisch oder portugiesisch können.

Ein faszinierendes Vorbild für meine israelische Enkeltochter, denn sie will stante pede Französisch lernen, nachdem sie in einem Ferienkurs daheim doch noch eine ordentliche Note in Arabisch ergattern konnte. Und ich darf ihr ein wenig Unterricht geben!

So trabt das Glück immer wieder auf unerwarteten Pfaden herbei.

Donnerstag, den 10. August

Endlose Gespräche über den Libanon-Krieg. Wer ist schuld?

Das ist, räume ich gern ein, eine falsche, weil nutzlose Frage. Diese Nacht fiel mir ein Satz ein, in Anlehnung an Rosa Luxemburg: Sicherheit ist immer auch die Sicherheit des anderen.

Das gilt für sämtliche Staaten.

Ich erinnere mich auch, wie vor über zehn Jahren Avi Primor in der Diskussion nach einem Vortrag sagte, Israel gehöre zu Europa. Und auf den Einwand, ob es sich nicht stärker seinen Nachbarn zuwenden solle, erwiderte er: Nein, dann würden wir auf eine niedere Kulturstufe herabsinken....Da lebte Rabin noch, da hofften noch alle auf Frieden. 

Und doch so wenig Sinn für die Besonderheit von NACHBARSCHAFTLICHEN  Beziehungen. Nicht Familie,  nicht Freundschaft, sondern etwas ganz eigenes: der Nachbar....

 

Frankfurt, 8. August

So lautete das Gedicht von Hassan, dem Bengalen, das wir gemeinsam beim Museumsuferfest deklamierten:

"Mein Herz trauert.

Ich klopfe an,

überall,

um zu wecken

der menschen Blick

für die Leidenden."

Frankfurt, 7. August

Habe gestern einen Verehrer versetzt! Neben dem schlechten Gewissen spüre ich aber auch eine diebische Freude an der Jugendlichkeit - es ist genau wie vor 50 Jahren! Wenn mich in Paris ein junger feuriger Algerier bedrängte und ich fühlte die Verlockung und wußte doch, das taugt nichts - hin- und hergerissen!

Den Bengalen von gestern lernte ich Anfang Juli im Dichterzelt beim Museumsuferfest kennen.  In gebrochenem Deutsch interessierte er sich für Literatur. Er schreibe selbst. Ich bat um ein Muster. Er rezitierte ein Gedicht, erst auf Bengalisch, dann im englischen. Ich schriebs auf, und im Hin und Her entstand eine deutsche Fassung. Wir lesens gemeinsam heute abend, schlug ich vor, denn beim Dichterzelt sollte es dann eine "Offene Bühne" für Dichter geben. Als die überaschend ausfiel - kein Mikro! wir armen Literaten! - lief ich zum lauten Nachbar, dem Skodastand, und bat um "fünf Minuten für die Literatur". Sie wurden uns gewährt! Hassan, der Bengale rezitierte auf Bengalisch, ich las die übersetzung, und alle waren glücklich. Er wollte mich zum Dank irgendwann zum Essen einladen. Vorgestern rief er an, etwas kurz angebunden und zu drängend, fand ich. Gestern abend sollte ich zu ihm nach Hause kommen. Ich habs nicht ablehnen, nicht verändern können in der Eile, und als der Termin nahte, wollte ich absagen. Erst da merkte ich, daß er kein Telefon hatte.

Wir sollten uns lieber in der Stadt, in einem öffentlichen Lokal treffen, dann würde ich mich wohler fühlen. Einstweilen muß ich mich mit der schiefmäuligen Freude am Versetzthaben begnügen, und er muss seine Enttäuschung verdauen, ohne bitter zu werden....

2. August

Gestern abend, am schweizerischen Nationalfeiertag, wurde im Literaturhaus die Ausstellung über Robert Walser eröffnet. Der Saal war bis auf die letzten Stehplätze gefüllt. Trotz der draußen wiedergekehrten Kühle schwitzten  die Leute hier drinnen und fächelten sich mit dem Programm Kühlung zu. Der hessische Minister sprach. Seine Themen beschränkten sich auf Organisation von Literatur und deren wirtschaftliche Vorteile für die Region. Zuletzt deutete er allerdings an, daß er auch was von Robert Walser gelesen habe.

Da die Ausstellung in der Schweiz zusammengestellt wurde, trat der Schweizer Generalkonsul auf und erklärte, ein Dichter vom Range Robert Walsers dürfe nicht in einen nationalen Rahmen gepresst werden. Er habe  seinen Empfang zum Nationalfeiertag schon am 31. Juli gegeben, um heute ganz für Robert Walserr da sein zu können. Beifall!

Nach dem Ende der vier oder fünf Reden führte die schöne Frau Garzetti, die unendlich kultivierte Leiterin des Literaturhauses, die Herrschaften hinauf in die Ausstellung. Und die erwies sich tatsächlich als so anschaulich, so lebendig,  daß ich mich schon auf meinen zweiten Besuch dort freue. In Ruhe dann.

Es war mir, als hätte der Geist von Robert Walser (Esprit und nicht Gespenst!) den ganzen Schickimicki-Duft, der mich oft im Literaturhaus am Atmen hindert, einfach hinweggeblasen!

Frankfurt den 31. Juli

Mir träumte, ich schickte ein Flugzeug in die Luft, das sollte hin und her fliegen. Von sich aus ging es aber auf eine Kreisbahn. So flog es, immer und immer im Kreis, bis ich aufwachte.

Das muß mit meinem Roman zu tun haben, mit dem, der fertig ist, und dem, den ich schreibe.

Seit zwei Jahren suche ich einen Verlag, und nach jeder Absage brauch ich eine Zeit - Wochen, Monate - ehe ich den Roman an einen andern Verlag schicke. Die männlichen Lektoren fühlen sich von der Geschichte angezogen, weil er die Auseinandersetzung zwischen einem SS-Mann und einem Juden verspricht.  Die findet nicht nach ihrem Wunsch statt. Weibliche Lektoren fordern Emanzipation - sie findet dann aber auch nicht nach ihrem Wunsch statt. Zwar hat die Frau, die im Mittelpunkt der Geschichte steht, einen Beruf, von dem sie bequem lebt, doch das genügt den jungen Frauen am Schreibtisch nicht. Ich kann verraten: meine Heldin weiß gar nicht, was "Emanzipation" ist. Sie sucht: die Wahrheit! Meine Heldin war im Jahr 1975 vierzig Jahre alt. Damals dachten die Leute noch, sie könnten die Wahrheit finden.

Ich selbst glaube das heute in gewisser Weise immer noch. Nicht an etwas Absolutes glaube ich, nein, das nicht.  Die Wahrheit ist das, was stimmt. So taste ich mich in meinem nächsten Roman vorwärts: nur dem Gefühl folgend, auf der Suche nach dem, was stimmt.

Mir ist beim Schreiben schon mehrere Male übel geworden....... Und so kreise ich weiter.

Frankfurt, den 28. Juli

 "Walken", dieses ehrwürdige deutsche Wort (das was Ähnliches wie "Kneten" bedeutet), sprechen heutzutage viele Leute wisserisch mit "Worken" aus, und sie meinen damit "Gehen". Bei diesem Gehen muß der Geher einen langen dünnen Stab in jeder Hand führen, es sind Gehstöcke, die man im Sportgeschäft kauft, wahrscheinlich gibt es  verschiedene Marken, die eine teurer  als die andere, nehme ich an, die sich also zur Angeberei eignen. Mit solchen Stöcken hastig durch die Gegend zu staksen nennt man "Nordic Walken",  und das dient ausschließlich der "Gesundheit".

Als eine Person, der Sprache wichtig ist, verabscheue ich dieses "Worken", egal in welcher Schreibweise, und mache einen großen Bogen um seine Anhänger.

Allerdings  bin ich auch bloß ein gewöhnlicher Stadtmensch und brauche künstliche Bewegung -  das gebe ich zu. Ich habe mich vom "X......training" einfangen lassen. Diese Methode hat ein Physiotherapeut erfunden: er ließ Maschinen konstruieren, mit denen sich einzelne Muskeln stärken lassen, - Muskeln in Bauch und Rücken und Schulter, die man im Alltag seltsamerweise nie braucht und die mich aber, seit ich sie zweimal die Woche in Gang setze, in eine gewisse Heiterkeit versetzen.

In dem Fitnessraum, den ich vorher besuchte, dröhnte immer ein Musiksender, und die Metallgewichte donnerten scheppernd auf den Boden. Dort schienen die jungen Leute das Begleitspektakel in den Ohren für einen Teil der Arbeit, Teil ihrer Kraftzuwächse zu halten.

X...... bietet mehr als Maschinen: sportlich trainierte junge Leute stehen in freundlicher Bescheidenheit bereit, jedem zu helfen, jeden Kunden anzuleiten, so wie er oder sie es braucht. Ich weiß nicht, wie die das schaffen: in dem großen Saal gibt es keine Konkurrenz, keinen Wettstreit, keinen Lärm. Deswegen kann man behutsam, konzentriert die eigene Stärke ausprobieren und ihr allmähliches Wachsen erspüren. Alle machen das, Junge oder Alte. So alt wie ich oder älter, Männer und Frauen.....

Im Frauen-Umkleideraum grüßen sich die Ankommenden und Weggehenden, als kennten sie sich. Manchmal fragt eine die andere: wo haben Sie Ihre schönen Schuhe her? oder so. Eine wunderliche Welt. 

Flirten ist nicht erwünscht und findet daher nur selten und im ganz, ganz Verborgenen statt.

 

 

 

 

27. Juli

Zu meinem Eintrag am 23. Juli schreibt mir Ingrid Velleine aus Israel, daß ich mich irre, denn:

"Ich höre hier und da im Radio und im Fernsehen, lese in Ha'aretz sehr genaue Beschreibungen über die schreckliche Situation der Libanesen im Süden Libanons und in dem schiitischen Viertel von Beiruth. Auch über die Tatsache, daß es in Nazareth keine ausreichende Alarmanlage gab, wurde ausführlich berichtet, es wurde nachgeforscht, warum es so ist - irgendjemand erzählte mir gestern, vor 1, 2 Jahren sollten dort Alarmsirenen aufgestellt werden, doch der Bürgermeister von Nazareth hätte damals die Sirenen nicht haben wollen, weil sie an ein staatliches Netz angeschlossen sind, was bedeutet, daß die Sirenen dann auch am Unabghängigkeitstag aufheulen, was der Bürgermeister seinen arabischen Einwohnern nicht zumuten wollte - und niemand hat damals daran gedacht, daß Nazareth auch Opfer von Raketenangriffen wird. Nun werden jetzt dringend Alarmsirenen in Nazareth aufgestellt...

Schutzkeller gibt es nur dort, wo der Staat meint, sie seien dringend erforderlich. Da wo die Einwohner nicht dazu gezwungen werden beim Hausbau, baut kein Mensch einen Schutzraum oder -keller. Aber die israelische Armee ist jetzt sehr aktiv geworden und verteilt jetzt die erforderlichen Informationen in arabischer Übersetzung.

Israelische Journalisten machen durchaus darauf aufmerksam, daß die Webseite der Armee, wo man Information für Notfälle finden kann, keine arabische Übersetzung anbietet, und sie bemängelten dies."

 

Danke für die Richtigstellung!

Frankfurt, 25. Juli

Das Frankfurter Literaturhaus "Schöne Aussicht" schickt mir eine Einladung. Darauf steht der Satz:

"Ich finde mich veranlasst, Sie daran zu mahnen, dass Sie einen besitzen, der Ihrer gedenkt und der wünscht, dass Ihnen das Leben in seiner sanftesten Form begegne."

Schon zum drittenmal lese ich den Satz, mit immer steigendem Vergnügen.  Wie doch solche bürokratischen Ausdrücke wie "veranlasst" und "mahnen"  hier verwendet werden, um  Gefühle und Herzlichkeit zu kaschieren, die aber umso  klarer herüberströmen!   Robert Walser hat den Satz verfaßt. Lebte dieser Schweizer Schriftsteller nicht im Irrenhaus, gehörte er nicht zu den Verlierern? Woher nahm er das Selbstbewußtsein zu glauben, sein Gedenken könne einen anderen stärken? Seine Wünsche könnten einem anderen Friedfertigkeit schenken?

Um Antwort auf meine Fragen zu finden, um mehr über Robert Walser zu erfahren, muß ich mich noch eine Woche gedulden: am 1. August eröffnet das Literaturhaus mit allem Siegerpomp (Minister + Experten sind anwesend) eine Ausstellung über Robert Walser, die zwei Monate später in Berlin und erst danach in Bern zu sehen sein wird.

Frankfurt, den 23. Juli

Ein Gewitter am Abend, und noch ein Gewitter eben, am Morgen - diese Kühle! Aus den Schränken prallt mir die tagelange Hitze entgegen.

Frankfurt feiert schon wieder, die Helikopter überkreisen die Stadt, heute gibt es den "Ironman", ein Sportereignis rund um den Main. Die Sonntagsglocken läuten. Es ist Frieden.

Meine Tochter, meine Enkel in Israel fühlen sich vor dem Krieg noch einigermaßen sicher: sie wissen, in welchem Bunker sie Unterschlupf finden können, wenn die Sirenen ertönen. Bisher reichen die Raketen der Hisbollas nicht bis Tel Aviv, und so brauchten sie bisher den Bunker nicht  aufzusuchen. Das allgemeine Gefühl in Israel, so scheint es mir, erkennt eine Bedrohung gegenwäritg nur in diesen Bombardierungen aus Libanon und mündet in den Gedanken: wir sind mal wieder die Opfer und müssen uns verteidigen. Sie sorgen sich nicht darüber, daß im Süden eine Million Palästinenser in Gasa abgeriegelt, von der Versorgung ausgeschlossen, regelmäßig bombardiert werden. Ich sah, von einem französischen TV-Sender aufgenommen, israelische Araber aus dem Norden des Landes, die vom Raketenbeschuß durch die Hisbollas ebenso betroffen sind wie ihre jüdischen Nachbarn, und sie klagten, daß es in ihren Dörfern weder Schutzräume noch Sirenen gebe. Ob das auch im israelischen Fernsehen gezeigt wird?

Maria Regina Kaiser hat mir ihren jüngsten Roman geschickt: ich verschlinge ihn. Allen Kriegen zum Trotz leben Liebe und Kunst weiter, werden Kinder geboren und Vorräte angelegt. Der Frieden ist die eigentliche Grundlage des Lebens!

(Das Buch heißt "Der Sänger und die Ketzerin" und spielt um 1200 in Spanien und Südwest-Frankreich.)

 

Frankfurt, 19. Juli

Die Balkontür steht offen und läßt die Mittagshitze herein, aber auch das Lüftchen, das die Tomatensträucher erbeben läßt, dazu die Geräusche: das hastige Schneuzen des Rasensprengers, das Gurren der Tauben, das Getschilpe der Spatzen, gedämpfte Gespräche unten von der Terrasse und fernes Rauschen der Autos.

Warum geht mir N.'s "Rüschenkleidchen" nicht aus dem Kopf? Sie erwähnt es mehrmals in ihrem neuen Buch, damit charakterisiert sie die Person, die sie gerade beschreibt, und nicht zu ihrem Vorteil, wie mir scheint. N. könnte ihrem Alter nach meine spät geborene Tochter sein, doch bei mir gab es keine Rüschenkleidchen - ein Rückgriff auf die Großeltern? Was bedeuten Rüschenkleider ihr, was ich nicht sehe?

Ich denke dabei an eine armgroße Papierpuppe, die ich im Tel Aviver Stadtmuseum fand und für eine andere Nicht-Enkel-Tochter mit heimbrachte, eine Dreijährige. Es ist eine richtige, dreidimensionale Puppe mit Kleidchen und Schürzchen, und eine geschickte Schere hat auch Rüschen beigegeben. Nur die Farbe fehlt. Zu dem Geschenk gehört eine Packung bunter Filzstifte, und das beschenkte Kind darf nun die weiße Puppe anmalen, darf dabei jeder Laune nachgeben, seinen Gelüsten freien Lauf lassen, darf mischen, schmieren, entstellen - oder es darf die Puppe schön malen. Es darf schließlich gar, wenn ihm danach ist, das gute Stück zerreißen.

Wenn man ihm freie Hand läßt.....

 

Frankfurt, den 17. Juli

Fast zwei Monate hatte ich an einem Zeitungsartikel geschrieben, in dem ich über meine Reiseerfahrungen im Mai/Juni in Israel und Palästina berichten und die Situation der Palästinenser ein wenig deutlicher zeigen wollte. Bisher stand ich in meinen Israel-Artikeln gewöhnlich auf dem Standpunkt kritischer Israelis, die sich für Gleichberechtigung einsetzen. Doch die tatsächlichen Fakten, zum Beispiel der Landraub durch den israelischen Staat, die tägliche Schikanierung der palästinensischen Bewohner durch Armee und Siedler, kamen dabei zu kurz.

Sie kommen auch in meinem neuesten Artikel zu kurz. Mir wurde beim Schreiben bewußt, daß ich ängstlich bin. Dann merkte ich, wie stark alles in Nahost von der Angst beherrscht wird. Daß eigentlich die Angst der schlimmste Feind des Friedens ist. So schrieb ich über "Angst in Nahost" (siehe Anhang in meinem Israel-Tagebuch).

Seit der Bombardierung des Libanon ist mein Artikel obsolet geworden. Die Kriegstreiber haben die Oberhand gewonnen.

 

Frankfurt, den 16. Juli

Himmel, was kostet die Zeitverschiebung doch viel Zeit! Tagsüber erschlägt einen die Müdigkeit, nachts  wandert man hellwach durch die Wohnung. Das wird auch der Grund sein, warum Präsident Bush, der mächtigste Mann der Welt, ein  Stück vom völlig verbrannten Schweinespieß aß. Gewiß war er nach Mecklenburg-Vorpommern gereist, um sich dort für St. Petersburg auszuschlafen. Das dauerte etwas, und solange liessen die am Wildschweinspieß den Motor wohl immer weiter laufen, immer weiter, bis das Schwein schließlich einem Stück Kohle glich. Die Kanzlerin aß tapfer mit....

Jetzt bin ich wieder wach und sehe mit Sorge, wie die neue israelische Regierung sich von den Militärs in Blitzkrieg-Fantasien hineinziehen läßt. Dabei hatte der Verteidigungsminister, ein Sozialist, anfangs doch mehr Friedlichkeit versprochen! Mein Israel-Artikel, an dem ich zwei Monate herumgedoktert hatte, der nun "Angst in Nahost" heißt, wird durch die neuesten Entwicklungen hinfällig. Ich denke, ich werde den Text an mein Israel-Tagebuch anhängen.....

Und Frankfurt so friedlich, warm, fröhlich - eine magische Nacht gestern mit ihren fast 25 Grad Celsius, wolkenloser Himmel, am ersten Ferientag, und erst oben auf dem Lohrberg, wo es einen amtlichen "Grillplatz" gibt, auf einer Wiese, von der aus die Stadt, die Main- und Rheinebene zu überschauen ist, mit den blauen Silhouetten von Odenwald und Spessart am Horizont. Soviele waren mit ihren Grillöfen, Bierkästen, mit Kind und Kegel oder mit Freunden hierher gekommen; hinter den Bäumen spielten die kleineren Jungens Fußball, bis tief in die Abenddämmerung hinein..

Frankfurt, 3. Juli

Zurück in Frankfurt. Ich finde eine mediterrane Sonne vor, unter deren Wärme sich auch zornige Menschen auf ihre Sanftheit besinnen könnten, dachte ich. Am Flughafen nahm ich den Bus 61, der mich zu meiner Wohnung bringt, und stieß auf einen aufgebrachten Busfahrer. "Das sehen Sie doch!" fuhr er mich grob an, als ich nicht den Preis für die Fahrkarte verstand, den er mir sagte. Ich befand mich in einem ungünstigen Winkel zu seinem Bildschirm, ich sah gar nichts. So mußte er mir den Preis noch mal nennen.

Er fuhr los und schimpfte weiter: über ein zu langsames Auto mit einem Nummernschild aus der Provinz, über ein rechts überholendes Taxi. Da näherte ich mich ihm und säuselte ihm freundlich ins Ohr: "Was ich schon immer fragen wollte:  gehen die Schranken hier am Flughafen automatisch hoch, wenn  Sie mit dem Bus ankommen, oder drücken Sie auf einen Knopf, oder jemand anders?"  Überrascht holte er Atem und antwortete mit der liebenswürdigsten Stimme der Welt: "Das geht automatisch."

Am Stadionbad strömten die Kinder herein, die den Sonntag mit Schwimmen und Springen verbracht hatten. Die meisten zahlten. Das letzte Kind, ein sehr kleines Mädchen, legte ein Zwei-Eurostück hin, und der Fahrer schnauzte sie an: "Hast du es nicht kleiner?" Es sah grad so aus, als wolle er das Kind nicht mitfahren lassen, wenn es nicht das gewünschte "Kleingeld" lieferte. "Was fehlt denn?" fragte ich. "Ein Fünfer." - "Fünf Cent oder fünf Euro?" - "Fünf Cent." Ich besaß glücklicherweise einen Fünfer und gab ihn ihm. Ein anderes Mädchen, offenbar die Schwester, hielt mir erleichtert ein 10-Cent-Stück hin. Ich gab ihr noch einen Fünfer und sie lachte mich glücklich an. Der Fahrer fragte mich im Losfahren: "Haben Sie vielleicht noch mehr Fünfer?" Nein, aber immerhin hatte ich Zehner, und Zwanziger, genug für einen Euro, so daß wir an der nächsten Haltestelle die Münzen austauschen konnten. Er war sehr zufrieden.

Vielleicht sollte die Stadt ihren Fahrern sonntags, wenn alle Kinder baden gehen, einen zusätzlichen Vorrat an Funf-Cent-Stücken

Hansville, 22. Juni

Ich geniesse das Leben hier. Das Haus auf der bewaldeten Klippe bietet einen Rundblick von 180 Grad auf den Sund, den "Puget Sound". (Puget hiess ein Leutnant des ersten weissen Eroberers.) Containerschiffe ziehen vorbei, Hochseedampfer, die dröhnende kleine Fähre von Seattle nach Victoria (BC), und viele andere Schiffe. Nachts wirft die Grossstadt, selber unsichtbar, ihre Lichter gegen den Himmel, so dass die Wolken wie ein Heiligenschein darueber stehen. Hier ist alles dunkel. Meine Gastgeber denken sich taeglich was Neues aus, um mich zu erfreuen. So brachte ich gluecklich den Jet Lag hinter mich, die ueblen Folgen der Zeitverschiebung (9 Stunden!), die ich vor allem am Herzrhythmus spuerte.

Heute beginnt der Workshop mit Natasha Mann. Wenn Martha, meine Gastgeberin, gefragt wird "Was für ein Workshop?" , antwortet sie: "Gestalt".  Ich vermute, darunter können sich die Leute hier auch nicht mehr vorstellen als bei uns, und wie bei uns, fragen sie nicht weiter.

Seit fünf Wochen, seit ich aus Israel zurück bin und versuche, einen Reise-Bericht zu schreiben, setze ich mich mit "Angst" auseinander. Mit meinen Aengsten. Solchen, die an der Mauer von Bethlehem wach werden, und anderen. Konkurrenzaengste zum Beispiel. Wenn jemand, mit dem ich einmal ein Verhältnis hatte, mit einer neuen Freundin auftaucht.

Gestern verschlang ich den Roman "Sheltering Skies" von Paul Bowles, wo ein junges Paar, gesunde, wohlhabende, gescheite Menschen, in der Sahara untergehen, weil sie sich - bewusst oder unbewusst - keine Grenzen setzen koennen, und weil die Sahara alle Grenzen aufhebt. Welche Grenzen will ich mir setzen, welche will ich aufheben? Darum wird es gehen in den naechsten 8 Tagen. Vielleicht, who knows.

Hansville, 21. Juni

Hansville ist ein Dorf im Nordwesten der USA, im Staate Washington, liegt aber breitengradmaessig mindestens so suedlich wie Muenchen. Das Dorf grenzt an Indianerreservate. Hier geniessen "die Staemme" grosses Ansehen, sie verfuegen ueber ein eigenes Budget und eine eigene Polizei. Gestern besuchte ich das "Center of Knowledge" des S'Klaklam-Stammes. Sie feierten dort den ersten Spatenstich fuer eine neue Bibliothek. Schon die bisherige gehoert dem Stamm, wenn auch andere US-Buerger aus der Umgebung sie gleichberechtigt nutzen duerfen. "Little Boston" heisst die Bibliothek, und sie wird so professionell und benutzerfreundlich gefuehrt, dass sie 1999 zur "besten Kleinen Bibliothek" in den gesamten USA ausgerufen wurde.

Um Stammesmitglied zu sein oder zu werden, muss man mindestens 25% Vorfahren aus dem Stamm nachweisen koennen (eine indianische Grossmutter....). Die Ursprache wird jetzt wieder gelehrt, gesprochen, gesungen. Little Boston ruehmt sich einer ungewoehnlich grossen Anzahl von Buechern ueber "Native Americans", wie die Indianer offiziell heissen.

Im Gegensatz zu anderen US-Buergern duerfen die Indianer "Spielkasinos", eigentlich eher Spielhallen mit Gluecksspielautomaten, betreiben. Mit dem Einkommen daraus koennen sie stammeseigene Einrichtungen aufbauen. Taegliches Essen fuer die Senioren, zum Beispiel. Die Ureinwohner ruehmen sich ihrer Tradition des hohen Respekts fuer das Alter. Seit die eigene Kultur einen hoeheren Stellenwert bekommen hat, sinken die Alkoholismusraten, verraet mir ein Hiesiger. Sie naehern sich den Zahlen, die fuer die uebrige Bevoelkerung gelten, sagt er.

 Die Indianerstaemme hier im Nordwesten wohnen alle am Wasser, verstehen, Kanus zu bauen und bezogen ihre Nahrung einst ueberwiegend aus dem Wasser (tief ins Inland reichende Arme des Pazifik). In einem Buch las ich: die Lachsstroeme waren im 19. Jahrhundert manchmal so dicht, dass man zu Fuss auf ihnen uebers Wasser gehen konnte...

 

Frankfurt, 10. Juni

Endlich scheint wieder die Sonne.  Ihr Glitzern verändert die Welt und die Gemüter. Der Anblick von sonnendurchleuchtetem Grün und Rot und Weiß erhebt mein Herz. Auf dem Balkon pflanzte ich dieser Tage ein Edelweiß! Seine Blüten laden zum Meditieren ein.

Im alten Frankfurter Literaturhaus diskutierte der Schriftsteller Martin Mosebach mit dem Kunstkritiker Eduard Beaucamp über Kunst: "alte und neue Meister". Es war ein denkwürdiger Abend, insofern er gegenwärtige Verwirrungen widerspiegelte.

Beide berufliche Schreiber, verstand der eine zu reden, der andere nicht. Mosebach sprach seine druckreifen Sätze mit klarer Stimme, verständlich im ganzen Raum. Beaucamp drückte sich hastig, undeutlich, mit manchmal unfertigen Sätzen aus. ("Ohne Punkt und Komma!" klagte meine luxemburgische Freundin.) Mosebach hatte eine Vorstellung von Kunst in ihrem eigenen Reich, Beaucamp vermochte Kunst und Markt nicht voneinander zu trennen. Freilich wünschte er sich, der Markt möge die wahre Kunst erkennen und belohnen, doch führte ihn die Unerfuellbarkeit dieses Wunsches  in die Resignation. Nicht daß Mosebach nichts von Markt verstanden hätte. Er nannte ein Beispiel, wo kotierte Kunst zur Geldwäsche benutzt wird. 

Beide kamen zu dem Schluß, es müßten vielleicht wieder Geheimgesellschaften gegründet werden? Um sich definitiv den Anspruechen des Marktes zu entziehen?

Ist  "DenkArt" nicht schon eine solche (einer der veranstaltenden Vereine)? Sein Vorsitzender, Herr Saßmannshausen, konnte sich in seiner Einführing nicht eines Hinweises auf die derzeitigen FußballweltMEISTERschaften enthalten. Mir wurde bewußt: der FußballMEISTER hat nur ein Spiel gewonnen. Der MEISTER in der Kunst aber ist ein Wissender. Welten liegen dazwischen. Der Abend stand übrigens unter dem Motto: "Du sollst Dir ein Bild machen". So heißt ein Buch, das Mosebach geschrieben hat.

 

Frankfurt, 4. Juni

Pfingsten. Und wieder verdecken schwere Wolken den Himmel, die Bäume biegen sich im Wind.

In Tel Aviv haben sie 32 Celsius.

Ich befasse mich mit der Angst, ich versuche, über die Angst zu schreiben, die Menschen in Nahost empfinden. "Die Angst ist eine Landkarte, der man zu folgen hat", hörte ich dieser Tage einen Portugiesen sagen, der mit einem Freund durch Westafrika gefahren ist, dort wo Massaker verübt und Diamanten geschürft werden: in Sierra Leone zum Beispiel. Blutdiamanten, anscheinend werden sie nach Kanada verkauft. Milizen morden, brandschatzen, plündern; verspeisen wohl auch mal einen Bewohner.(+)

"Morden, plündern, brandschatzen" - wo kam das vor? In meiner Kindheit, bei Grimmelshausen, im "Simplicissimus". Es war Krieg gewesen (der zweite Weltkrieg), und ich las Geschichten, die vom 30jährigen Krieg handelten. Ich sang Lieder aus jener Zeit: "Wer jetzig Zeiten leben will, muß haben ein tapfer Herze..." Später las ich Ähnliches in Geschichten über die reichen Katharer, die im 13. Jahrhundert durch die Soldateska des Pariser Königs  unter dem Vorwand der Ketzerei vernichtet wurden. "Tuez-les tous, Dieu reconnaîtra les siens!" hieß es dort (bringt sie alle um, Gott sucht sich seine Anhänger dann schon raus).  Die Katharer wurden mit Vorliebe gepfählt. Welche Angst die Kirchenvertreter hinterließen, davon spricht stumm noch heute die Festungs-Kathedrale in Albi, der Hauptstadt der Katharer: wer solche Mauern baut, muß sich sehr fürchten.

Das gleiche gilt für die 12 m hohen Mauern in der Nähe von Jerusalem, mit denen sich die Juden vor den Arabern schützen wollen. Wer fürchtet sich mehr: die vor der Mauer oder die hinter der Mauer?

(+) Ihr Buch mit Berichten und Fotos heißt: "Schwarz. Licht." Von Pedro Rosa Mendes und Wolf Böwig, im Brandes & Apsel-Verlag. Originalausgabe

 

Frankfurt, den 30. Mai

Die heranwachsende Sonnenblume hat sich über die Königskerze schon hinausgehoben. Beide stehen im Blumenkasten auf meinem Balkon.

Die Sonnenblume wird früher welken als die Königskerze, die Vögel werden sich am schwankenden Rad festhalten und die Körner herauspicken. Derweil die Königskerze immer neue Blüten an ihrer Spitze anzündet, und aus ihrem starken Stengel werden Nebenkerzen sprießen. Ihre gelben Blütchen leuchten bis tief in den Herbst hinein.

Ich brachte sie aus Luxemburg mit. Vor 15 Jahren muß ein Samen in der Erde gesteckt haben, der sich hier entwickelte. Seitdem find ich fast jedes Jahr ein Nachfolgepflänzchen, das, kaum fingergroß, den Winter übersteht und dann zu seiner vollen Größe hernwächst. Unter "Archiv" hab ich die Königskerzen von Luxemburg im Titelfoto festgehalten. Es ist dort aufgenommen, wo heute das Pei-Museum steht. Archiviert eben, denn ein Museum für Moderne Kunst schaut nicht auf Königskerzen und duldet sie nicht neben sich, das Unkraut.

Frankfurt, den 25. Mai

Himmelfahrt im Sturmtief. Heute ist gesetzlicher Feiertag, weil in den Kirchen der Aufstieg von Jesus in den Himmel gefeiert wird, gefeiert werden soll. Den Feiertag kennen viele Leute als "Vatertag". Der besagt, daß die Männer kurz nach den enormen Strapazen des "Muttertages" Anspruch auf Erholung ohne Frauen haben.

Oder gibt es doch einen religiösen Zusammenhang? Möchten sich die Männer wenigstens für einen Tag mit Jesus im Himmel wähnen? Natürlich ohne Aufsicht, sonst wärs ja nicht der Himmel.

Da es stürmt, regnet und die Wolken sich dunkel schichten, wird der Ausflug wohl gleich in der Kneipe beginnen.

Meine Radtour mit der Nachbarin sagte ich auch ab. Stattdessen telefonierte ich lange mit einer Frankfurter Freundin, die, als pensionierte Studienrätin, mir oft die BRD erklärt. Ich war ja über 30 Jahre weg und verstehe manches nicht. Heute morgen sprach sie über den "guten Pädagogen". Das wäre nicht einer, dem es gelingt, den Schülern den gesamten Lernstoff beizubringen, Gott behüte! Als "guter Pädagoge" darf sich nach der Erfahrung meiner Freundin jemand sehen, der die Aufmerksamkeit der Klasse auf irgendeinen Gegenstand zu lenken vermag. Nach vielen geschickten Unterrichtsstunden würde dann wohl auch etwas aus dem Lehrplan drankommen.

Ach.

Gestern abend erzählte mein Philosophieprofessor (x), wie er, zur Uni München eingeladen, dort ein Referat vortrug, während sich die Studenten in der hinteren Hälfte des Saales friedlich miteinander unterhielten. Auf seinen verwunderten Kommentar hin antwortete der Gastgeber: die Studenten seien eben an Bilder und Power Point gewohnt..

Auch ihm fiel nicht mehr ein als: Ach. Die müßten doch eine Stunde lang zuhören können??

 

(x) Einmal im Monat treff ich mich mit anderen Bürger/innen in einem Philosophiezirkel. Wir nehmen gerade Dilthey durch, der sich mit dem Vorgang des "Verstehens" befaßt hat. (Offenbar ohne schlüssige Antwort.)

 

Frankfurt, den 27. Mai

Seit Mittwoch abend hab ich Nathalie zu Gast. Ihr neues Krokodil steht, zwei Meter breit, vor dem Schrank und leuchtet mich an. Es ist für die Decke im Flur bestimmt, ich hatte es vor einem Jahr bestellt. Nathalie wollte nicht direkt auf die Mauer malen. Das hatte sie schon einmal vor zwanzig Jahren in meinem Haus am Boulevard de l'Alzette in Luxemburg getan, und nach dem Verkauf hat der neue Besitzer (ein Architekt!!!) den schönen Schutzgeist weiß übermalen lassen. Also kommt er diesmal auf einer Leinwand daher. Je länger ich das Krokodil betrachte, desto  mehr freue ich mich drauf.

Es braucht oft eine Zeit, ehe ich mich meiner Gefühle bewußt werde. Gestern abend zum Beispiel, Doro hatte mir eine Karte für die konzertante Aufführung der Oper "Gioconda"  besorgt. Sie singt im Chor mit und war begeistert. Nach mehr als anderthalb Stunden wurde mir klar, daß ich in der Pause lieber heimgehen sollte. Die Musik war schön, jedenfalls in ihren einzelnen Abschnitten; ihr fehlte der Schwung des Großen Ganzen. Davon abgesehen, spürte ich im Saal wie auf der Bühne eine Spannung, eine nervöse Erregung, die mir den Genuß verdarb. Nach jeder Arie brüllten und tobten die Leute wie eine Rinderherde auf der Flucht - sie wollten Zustimmung zeigen und verdarben so den Nachklang. Die Sängerin der Hauptrolle war nämlich erkrankt und anderthalb Stunden vor der Aufführung durch eine fremde Sängerin ersetzt worden. Jeder fragte sich: wird sie das ohne Probe schaffen? Oder: Wann kommt der Patzer?

Es kam keiner. Nur fehlte die Ruhe, die Konzentration auf die Süße des Zweiklangs der Stimmen. Ich brauchte, wie gesagt, eine Weile, ehe ich meine Gefühle erkennen und ihnen zu folgen vermochte. Welch eine Erleichterung!

Frankfurt, den 22. Mai

Wie beschreib ich einen Tag, wo die Leute, die ich morgens treffe, nicht die von nachmittags kennen, und die von abends alle beide nicht? Der einzige Zusammenhang zwischen den Begegnungen liegt in mir, und das ist doch keiner. Es zerreißt mich.

Lad sie alle zum Frühstück ein, würde meine Frankfurter Großmutter vielleicht sagen. Dann lernen sie sich kennen. Ja, Großmutter.

Meine Frankfurter Großmutter, die auch keiner mehr kennt, weil sie schon 1909 gestorben ist, wurde von ihrer Mutter "Minchen" genannt, denn sie hieß Hermine.  Großmutter, darf ich dich mit Minchen anreden? Nein? Dann sag ich Oma Minchen, OK?

OK versteht Oma Minchen nicht, wird es lernen. Sie nickt.

Gestern zeigten Afrikaner und die weißen Freunde, die sich um sie sorgen, einen Film über Lepold S. Senghor, der in diesem Jahr hundert Jahre alt würde. Er war der erste Staatspräsident von Senegal, und er war Mitglied der Académie Francaise, denn er schrieb Gedichte, für die er sogar den Nobelpreis erhielt. Er stammte aus einem Dorf. Obwohl er in Frankreich gestorben ist und dort begraben wurde, holten die Dorfleute ihn im Geiste heim, nahmen ihn in den Kreis ihrer Vorfahren auf, mit denen sie regelmäßig Kontakt halten, um alles richtig zu machen. Davon handelte der Film.

Senghor hat auch über "Négritude" geschrieben, das Bewußtsein für eigene schwarzafrikanische Kultur entfaltet sich in dem Begriff. Ein schwarzer Studentenvertreter von der Uni Frankfurt klagte in der anschließenden Diskussion, der Begriff habe ein Vakuum hinterlassen. Heute ziehe diese Ideologie nicht mehr, die Afrikaner interessierten sich nur noch für zweierlei: Geld und Ethnie. Wegen der drohenden Studiengebühren aber bestehe die Chance, daß die zahllosen ethnisch-afrikanischen Vereine nun doch zusammenarbeiteten! Seine klugen Augen funkelten.

"Pragmatisch" nennt man das, Oma Minchen.

 

 

Frankfurt, den 20. Mai

Nach der Heimkehr aus dem Vorderen Orient fiel mir die Umstellung so schwer, daß ich mich wunderte. Unterschied sich mein Leben in Israel denn wesentlich vom Leben hier? Der Krieg? Vom Krieg habe ich im Alltag dort wenig bemerkt. Doch der Alltag selbst war anders: Immer wollte jemand von mir wissen, wohin ich gehe, wenn ich mich absentiere, wann ich wieder komme. Das galt in der ersten Zeit für meine Familie und meine Gastgeberin, und danach für die Reisegruppe. Mit "Kontrolle" hatte das nichts zu tun, sondern nur mit selbstverständlicher Fürsorge.

Hier fragt mich keiner, was ich tue. 

Während meiner Zeit in Israel schrieb ich mit wachsendem Vergnügen am Online-Tagebuch. Es forderte Konzentration, es verlangte Auseinandersetzung mit dem, was ich erlebte, was ich beabsichtigte, damit, wie ich es schildern wollte. Es war wichtig.

Nahe lag der Gedanke, daß ich weiterschreibe. Mit leisem Schrecken fragte ich mich:  was ist mir denn in Frankfurt wichtig genug, daß es auch Leserinnen und Lesern wichtig erscheinen mag? Mit einem Schlag verwandelte sich mein Blick auf die Stadt.

Die Stadt meiner Großmutter, die Stadt meiner Freiheit. Die Stadt ohne Untertanen. Da müßte ich noch mehr finden.