2010

2010

in "kulturissimo", Januar

Erschienen in „kulturissimo“ vom Januar 2010

Die t-Beilage „kulturissimo“ (Luxemburg) befragte ihre Mitarbeiter zu der Spiegel-Behauptung, das vergangene Jahrzehnt sei ein verlorenes gewesen. Hier meine Antwort:

Das vergangene Jahrzehnt?
An seinem Anfang berichtete ich von Zeit zu Zeit aus Israel, jetzt überhaupt nicht mehr. Wie kommt das?
In meinen Kenntnissen und Erkenntnissen bin ich an einer Grenze angelangt, die ich „Gleichberechtigung“ nennen möchte. Gleich beRECHTigt sind in einer Demokratie alle Bürger und Bürgerinnen, wenigstens diejenigen mit der ortsüblichen Staatsangehörigkeit, und selbst die andern stehen unter dem Schutz der Verfassung. In Israel gibt es nicht nur keine Verfassung, sondern die Unterschiede zwischen den Rechten von „Juden“ und „Arabern“ stechen jedem in die Augen, der hinguckt. Der ungleiche Kampf betrifft die Verfügung über Grund und Boden, sonst nichts, aber er wirkt sich auf alle Rechte aus. Manchmal kommt ein Guter Mensch aus Israel und spricht über die realen Friedensmöglichkeiten auf der Basis von Gleichberechtigung. (Solche Möglichkeiten sind bereits so gründlich ausgearbeitet und vorbereitet, dass sie morgen in Kraft treten könnten, wenn der Wille bestünde.) Ich kenne solche Menschen, und sie riskieren manchmal ihre berufliche und auch ihre soziale Stellung, um  diesen Standpunkt öffentlich zu vertreten - ich weiß, sie sind mutig und ich bewundere sie. Überdies zeigen sie, dass es auch in Israel eine Meinungsfreiheit gibt.
Leider handelt es sich um eine Meinung, die KEINE politische Bedeutung hat. Sie reinigt das Gewissen mancher Leute, vor allem aber das israelische Image im Ausland.
2000 sah ich für Israel noch echte Chancen. So ein schönes Land mit so vielen liebenswerten und intelligenten Menschen!  Heute seh ich nur geringe Zukunftschancen. Das Land höhlt sich von innen aus: in seiner Selbstbespiegelung, in seiner Abschottung von den Nachbarn, in seiner Abhängigkeit von ausländischen Interessen. Ich mag gar nicht mehr hingucken.
Es macht mich sehr traurig, das Nicht-Hingucken; wenn ich trotzdem hingucke, werde ich noch trauriger.
Barbara Höhfeld

in "kulturissimo" im Februar

erschien am 11. Februar 2010 in “kulturissimo” (Luxemburg)

Gibt es eine afrikanische Geschichte?
Barbara Höhfeld
Geschichtsschreibung ist keine Selbstverständlichkeit. Ein Historiker braucht Quellen. Selbst die seit einigen Jahrzehnten verbreitete oral history schreibt auf, was die Leute zu sagen haben, und erst in aufgeschriebener Form gilt sie als „Quelle“. Die Wissenschaft der  „Ägypthologie“ entstand, seit man - dank dem Stein von Rosette - lernte, die Hieroglyphenschrift zu lesen.
Im subsaharischen Afrika fanden europäische Historiker fast keine schriftlichen Quellen vor, und sie taten daher  die Afrikaner als „geschichtslos“ ab. Kolonisatoren-Hochmut, könnte man sagen, aber es fehlten ihnen die Maßstäbe. Sie verstanden wenig, und das Wenige wurde von den Mächtigen nicht ernst genommen. Später wurden in Afrika Staaten gegründet, “Staaten“ nach westlichem Vorbild; niemand fragte, auf welche Geschichte sich diese Staaten stützen sollten. Es gibt keinen einzigen westlichen Staat, dem nicht eine eigene Geschichte zugrundeläge, auf die sich alle Staatsbürger berufen können.
Welche Möglichkeiten besitzen nun Afrikaner, wenn sie heutzutage in einer Republik leben wollen?
Der kamerunische Schriftsteller Alain Patrice Nganang, Jahrgang 1970, denkt über diese Frage seit langem nach. Kürzlich erschien in Frankreich sein neuestes Werk „La République de l’Imagination“, ein Appell, um  Kamerun in eine echte Republik zu verwandeln, wo die Redefreiheit mit der Fantasie konkurriert, wo Verantwortung für das Gemeinwesen jeden seiner Bewohner beseelt, wo die Anführer nicht zuerst an den eigenen Vorteil denken. Kamerun und seine Hauptstadt Yaoundé sind Nganangs Heimat. In einem Interview in USA sagte er: „In my writing, my goal is to transform the city of my birth, Yaoundé, into a library, to reconstruct the voices, smells, tastes and languages of people, animals and plants, in order to create a sense of this city in letters. For, after all, one cannot return to the place of one’s birth.“
Indem Nganang in seinem Appell seine Heimat als Beispiel wählt,  zielt er auf alle afrikanischen Staaten. Für jeden von ihnen stellt sich die Frage nach der eigenen Geschichte. „La République de l’Imagination“ besteht aus fünf Kapiteln  und ist als Brief an den jüngsten Bruder konzipiert. Der Schreiber lebt außerhalb von Afrika, der kleine Bruder hat ihn um ein Flugticket gebeten, damit auch er rauskomme: „il n’y a pas de futur en Afrique“. Dieser verzweifelten Grundhaltung, für die er tiefes Verständnis zeigt, stellt nun Patrice Nganang ein weit ausgreifendes Panaroma der afrikanischen Geistesgeschichte gegenüber und endet mit dem Satz: „L’occident n’a pas le monopole du futur.“ Nganang vertritt den Standpunkt, dass nicht nur Afrikas Zukunft in Afrika liegt (und nicht im Westen), sondern dass auch die Welt auf Afrikas Zukunft angewiesen sein könnte.
Nganang schwelgt nicht in politischen Ideologien. Er beschränkt sich auf  die Idee von einer Republik, in der die Wähler sachkundig ihre Stimme abgeben. Zur Sachkundigkeit gehört freilich mehr  als nur die Gegenwart, ihre Bewältigung, oder das Streben nach Glück. Es bedarf der Fantasie, des Lernwillens, der Zielstrebigkeit. Die Fantasie vermag sich eine andere Form von Republik vorzustellen als die bislang existierende (die meist in die Diktatur mündete). Das Lernen umfasst die Welt, die Welt des Westens, gewiss, ihre Philosophie, ihre Literatur, ihre Deutungsmuster – Nganang selbst hat sie studiert und nutzt sein Wissen – doch das Ziel bleibt ein Afrika, das sich von anderen Kontinenten unterscheidet.
Für solche Unterscheidungen bietet Nganang Ausgangspunkte: die eigenen Vorfahren, nämlich die Eltern und Großeltern, die mit Fantasie und mit ihrem Leben für die Unabhängigkeit gekämpft haben. Weiterhin nennt er jenen kamerunischen König Njoya, der vor gut hundert Jahren eine Schrift und eine Sprache neu erfand, eine Bibliothek und Schulen gründete, um eine Einheit zwischen den vielen Sprachen seiner Untertanen zu schaffen, die sie gleichzeitig unabhängig von den Europäern gemacht hätte. Seine Bemühungen wurden von der französischen Kolonialmacht gnadenlos vernichtet, doch sind die Spuren davon in den Bibliotheken der Welt zu finden. Nganang führt in diesem Zusammenhang die Tatsache ein, dass die erste Schrift in Afrika erfunden worden ist, nämlich die Hieroglyphen am oberen Nil, und dass aus dieser Schrift u.a. die hebräische, die griechische, die lateinische Schrift hervorgegangen seien, eben die, in der er jetzt schreibe.
Vernichtet wurde noch ein weiterer Unabhängigkeitsträumer: Ruben Um Nyobè . Am 17. Dezember 1952 hielt er vor einer Entkolonisierungs-Kommission der UNO eine Rede. Er wurde später ermordet. Dennoch lebt seine Rede weiter: man kann sie sich im Internet auf der Webseite von Canal 2 International anhören. Obwohl alle seine Äußerungen bis 1990 (in Kamerun) verboten waren, lebt die Stimme dieses Sprachkünstlers weiter, dieses „sorcier de la dialectique“, wie Nganang begeistert schreibt. Es mangelt nicht an Vorbildern! Das ist es, was Nganang seinem kleinen Bruder, allen Brüdern und Schwestern sagen will. Mehr noch: die Katastrophen der afrikanischen Geschichte – Sklaverei, Kolonisierung -  verbinden die Afrikaner durch Sprache, Schulbildung, Erfahrung mit Ländern in Europa und jenseits des Atlantiks und mit allem, was Menschengeist dort hervorgebracht hat. Nicht nur das Erbe der Heimat, auch die westliche Welt kann genutzt werden. Nganang zieht wie selbstverständlich Verbindungslinien von Platon zu Shakespeare, von Brecht zu Wole Soyinka. Der autonome Staat und die individuelle Freiheit dürfen sich ihrer bedienen. Aber: „C’est à nous d’inventer l’Afrique!“

„La République de l’Imagination“, von Patrice Nganang; Vents d’ailleurs, France 2009; 9,90€













Buchbesprechung

erschienen in "kulturissimo"/tageblatt im Mai 2010

 

Afrika: die Diaspora spricht

Reportage aus dem Innern

Bei der „Escale du Livre“ in Bordeaux (9.-11. April) stritten sich ein Moderator und sein Autor um ein Wort: „Asketisch“, sagte der Autor, „kristallin“ entgegnete der Moderator, beide wiederholten sich mehrmals und einigten sich nicht. Gemeint war der Stil, den der Autor in seinem Buch „Ténèbres à midi“ verwendet hatte. Der Moderator war auch der Herausgeber, er dachte an den „Markt“, an das Feuilleton, er wollte Käufer anlocken für ein literarisches Werk, das so gar keinen „literarischen“ Stil aufwies, sondern nüchtern, einfach, direkt geschrieben war. „Kristallin!“, das macht doch was her, mag er gedacht haben.

Der Autor, Théo Ananissoh aus Togo, der in Deutschland lebt und französisch schreibt, hielt an  „Askese“ fest, und nachdem ich sein Buch gelesen habe, stell ich mir vor, warum er das tut. Sein Bericht handelt von einer fatalen Neigung zum Überschwang, zur Übertreibung; von jenem Zuviel an Gier nach Macht, nach Sex, nach Besitz, das den unabhängig gewordenen Staaten Afrikas oft zum Verhängnis wird. Ananissoh beschreibt ein Schicksal und balanciert mit seiner Schilderung auf einem schwankenden Seil aus journalistischer Genauigkeit, die Mitgefühl nicht auslässt und gleichzeitig auf das eigene Überleben bedacht ist. Nur Selbstdisziplin, Zurückhaltung, eisernes Festhalten am einmal gesetzten Ziel können ihn selber retten.

„Ténèbres à midi“, 2010 erschienen, beschreibt einen Besuch des Autors in seiner Heimat Togo vor nicht langer Zeit. Ananissoh wurde 1962  im Staat Centrafrique geboren, ist dort zur Schule gegangen, aber mit zwölf zusammen mit seinen togolesischen Eltern aus politischen Gründen in die Heimat Togo zurückgekehrt. Ab 1986 studierte er in Paris Literaturwissenschaften, promovierte, seine weitere berufliche und akademische Laufbahn führte ihn u.a. nach Deutschland, wo er heute lebt. Er hat sich, neben dem eigenen Schreiben, auf afrikanische Literatur spezialisiert. Diese Kenntnis verschafft ihm einen weiten Horizont, und den zeichnet auch das Buch „Ténèbres à midi“ aus. Der erste Satz lautet „Nadine est française“, gemeint ist eine Buchhändlerin in der Hauptstadt (die nicht genannt wird), eine Frau von Welt, die vor Ort jeden kennt. Sie inspiriert den Autor zu einem „Bericht über die Wirklichkeit“, un récit sur la réalité, in seinem eigenen Heimatland. Schon auf der zweiten Seite wird der Mann genannt, dessen Biografie Ananissoh auf ihren Rat hin zu erkunden gedenkt; die Biografie eines Mannes in seinem Alter, der im Ausland studiert hat und nun innerhalb des Regimes arbeitet. Eric Bamezon ist „Berater des Präsidenten.“

Ananissoh, der als Ich-Erzähler auftritt, als ein Schriftsteller, der an einer Reportage arbeitet, die weit über die Aktivität eines Journalisten hinausgeht, macht also die Bekanntschaft von Bamezon. Unverständliche, scheinbar protokollarische Umstände zögern die Begegnung hinaus, schließlich aber steht er ihm gegenüber, in seinem Büro, im Palast des Präsidenten, ihm wird ein Sitz zugewiesen. Darin sitzt er beträchtlicht niedriger als der Berater hinter seinem mächtigen Schreibtisch. Er fragt behutsam: „Ich möchte wieder Kontakt zu meinem Land aufnehmen, und wenn es Ihr Terminplan erlaubt, würde ich mich freuen, mich etwas mit Ihnen unterhalten zu dürfen.“ Es stellt sich heraus, dass sie beide zur gleichen Zeit  in Paris Literaturwissenschaften studiert haben,  der Präsidentenberater hängte noch ein Jurastudium an, bevor er in die Heimat zurückkehrte. Ja, er wird sich Zeit nehmen, der Besucher – und wir - werden alles über ihn erfahren.Die Frage, die das ganze Buch unterschwellig durchläuft, dann und wann an der Oberfläche auftaucht, lautet: „Soll ich zurückkommen? Oder war das/ist das ein Fehler?“  Die Frage gilt für beide Männer, gilt für die gesamte “Diaspora”, verschwindet aber zuletzt, mündet in einen Toilettengang kurz bevor Ananissoh und die anderen Fluggäste zum Einsteigen aufgerufen werden. Der Leser weiß: wäre Ananissoh nicht zurückgeflogen, hätte er dieses Buch nicht schreiben können. Ananissoh zitiert an einer Stelle einen afrikanischen Machthaber mit einem Satz, den er erst jetzt und hier begreift, wonach die Afrikaner aus der Diaspora keine Lust zur Heimkehr hätten, weil sie sich vor dem Tod fürchteten. An einer anderen Stelle sagt Bamezon: „Die Wahl besteht zwischen Demütigung und Tod.“

Die Befragungen und Überlegungen des Autors folgen verschiedenen Kategorien, geschichtlichen etwa: die Kolonisierung, die Zeiten vor der Kolonisierung, der Sklavenhandel, den es schon immer gab, als die Herrscher ihre Untertanen an Händler verkauften, die postkoloniale Entwicklung. Oder psychologischen Kategorien, indem die Entwicklung von einzelnen Personen der Handlung untersucht wird. Oder der Berichterstatter wundert sich über die Gleichgültigkeit für die materiellen Lebensbedingungen: Müll und Schmutz am Strand, vernachlässigte Gebäude in der Stadt, Mangel an Blumen, Bäumen, Grün, wo früher welches war,  ein nahezu nicht vorhandener Straßenbau. Hinter der zur Schau getragenen Heiterkeit seiner Gesprächspartner funkt manchmal für kurze Momente etwas Anderes hervor, das schwer einzuordnen ist. Selbst bei Nadine, die doch die ganze Erhebung angezettelt hat. Sie kümmert sich letzten Endes nur um ihre Buchhandlung, das reicht.

In „Ténèbres à midi“ kommt keine Politik vor, so seltsam das klingt. Es werden kaum Namen genannt, und die verschiedenen Hinweise auf Morde, von denen durchaus auch in der Geschichtsschreibung die Rede ist, wenn ich im Internet nachschaue, beziehen sich eher auf das persönliche Erleben der Protagonisten. Es gelingt Théo Ananissoh, uns, die europäischen Leser, dank seines „asketischen“ Stils mitfühlen zu lassen, was wirklich geschieht. Welche Rolle zum Beispiel der Sex spielt.

Der Moderator war Herausgeber der Reihe “Continents Noirs” bei Gallimard, die er vor zehn Jahren gründete und in der  nun schon fast siebzig Titel und fünfunddreißig Autoren publiziert wurden. Jean-Noël Schifano hieß er und wurde nicht müde, Gaston Gallimard zu danken, der ihm den Rücken stärke und ihm freie Hand lasse. In der Reihe “Continents noirs” - im Plural! “Jeder Mensch ist ein schwarzer Kontinent!” – erscheinen überwiegend frankophone Afrikaner, gelegentlich aber auch Übersetzungen.

Théo Ananisson: "Ténèbres à midi", Roman; NRF Gallimard 2010, Reihe “Continents Noirs”,

geschrieben in Bordeaux, im April 2010

Buchbesprechung im Mai

abgedruckt im "tageblatt" im Mai 2010:

 



Diesbezügliche Bedürfnisse
von Barbara Höhfeld

„Eine breite weibliche Leserschaft“ wünscht der Lektor der Editions Guy Binsfeld dem neuen Roman von Georges Hausemer auf der vierten Umschlagsseite. Ist der erfolgreiche Luxemburger Reiseschriftsteller und Übersetzer unter die Feministen gegangen? Schreibt er jetzt Frauenromane?
Der Titel lautet: „80 D“, und wer sich darunter nichts vorstellen kann, vergisst ihn bei der Lektüre zunächst, bis er auf Seite 32 erläutert wird. (Ich verrate nichts.) Einen „Entwicklungsroman“ nennt der Lektor die Geschichte, die Hausemer erzählt. Es geht um die erotischen Träume eines erwachsenen Luxemburgers, und während dieser, als Ich-Erzähler,  uns, den Lesern und Leserinnen, davon vorschwärmt, sie uns nahebringt, kehrt er auch immer wieder zu Kindheitserinnerungen zurück. So berichtet er, wie ein Knabe mit seiner Mutter zum Schwimmunterricht geht und alle beide das Schwimmen NICHT erlernen. Ausführlicher kommt ein Ereignis zur  Sprache, bei dem offenbar Kinder im Wald verlorengingen, gesucht, aber nie gefunden wurden.  Oder handelte es sich um einen Alptraum aus der Kinderzeit? Andere Erinnerungen betreffen ein unaufhörliches gleichförmiges Fahren im Kreis, auf dem Dreirad im elterlichen Hinterhof, die kargen Kommentare der Mutter, der Nachbarin.
Was den Kindheitserinnerungen völlig abgeht, sind Gespräche, sind Bücher und Bilder, sind Entdeckungen aus der Welt der Fauna, der Flora, der Architektur, der Geschichte schlechthin,  ja, es fehlt an Erfahrungen mit Kommunikation. Gefühle werden daher nicht nachlebbar in Sprache übersetzt, sondern nur im äußersten Fall erwähnt: die Angst vor dem Schwimmlehrer, die Übelkeit vom zu langen Kreisen auf dem Dreirad, die Behaglichkeit beim Spielen mit dreizehnjährigen Mädchen, die den kleinen Jungen zum „Familiespielen“ stets willkommen heißen. „Sie fütterten und kämmten mich, zogen mir Mützen und Schals an, schoben mich auf meinem Dreirad durch die Gegend, gingen mit mir zum Kinderarzt.“ Die Identität des Protagonisten bleibt auf der Stufe eines Dreijährigen stecken, das lässt sich aus diesen Beschreibungen herauslesen. Nur bei der Nachbarin darf er manchmal nachts an ihre Brust gelehnt einschlafen, während sie Filme anschaut, was erst im Rückblick Sehnsüchte in ihm weckt.
In einem Ferienlager zur Zeit seiner Pubertät zeigt ihm schließlich ein Altersgenosse, wie man masturbiert, zeigt es wortlos. „Am Ende wurde ich von einer Qual erlöst, von deren Existenz ich bis dahin nicht die geringste Ahnung gehabt hatte.“ So gelangt der Heranwachsende ohne weitere Komplikationen auf seinen eigenen Weg, bekommt für sein Leben ein Ziel, eine Herausforderung: Erfüllung im Sex. In einem ganz klar umrissenen, stets gleichbleibenden Sexerlebnis: die großen Zehen müssen zittern, dann ist es so weit. Und wann zittern sie? Wenn gewisse weibliche Busen in Sicht sind, sich nähern.
Hausemers nüchterner Stil entspricht ganz der unterkühlten Liebesgeschichte, die er in den Mittelpunkt seines Romans stellt, denn eine Liebesgeschichte ist es doch, oder soll es sein. „Marlene“, schreibt der Ich-Erzähler, habe gelernt, „was ihr Leben, oder zumindest mein Leben, erst richtig lebenswert macht. Wozu all die Anstrengungen gut sind. Worauf all die Bemühungen abzielen. Worum es, letztendlich, geht.“ Und obendrein: „Marlene genießt es, wenn es mir gut geht und meine diesbezüglichen Bedürfnisse befriedigt sind.“  
So weit, so gut. Es treten andere Frauen als Marlene auf, eine Entfremdung wird nicht genannt, lässt sich erahnen. Die Spannung darüber, ob das Liebesverhältnis mit Marlene gelingt oder nicht, bleibt offen bis zum Ende.
Der affektiven Armut, mit der das Kind von Anfang an konfrontiert ist, lässt sich so nicht beikommen. Wenn das Buch eine Botschaft trägt, dann ist es womöglich diese: der affektiven Armut .... Doch bleibt der Erzähler immer unterhaltsam, gutes Essen, würzige Weine, Goldfischbecken und nette Reisen gehören zur Geschichte dazu.
Ich wünsche dem Buch im Gegensatz zum Lektor eine breite männliche Leserschaft!

Georges Hausemer: „80 D“, Roman, erschienen 2010 bei éditions Guy Binsfeld, Luxemburg