2004

2004

Frankfurter Buchmesse: Der Angst keine Chance

Der „Arabischen Welt“ war die Buchmesse dieses Jahr gewidmet, und da die Arabische Liga die Organisation übernahm, waren durch ihre Mitgliedstaaten auch die Grenzen der „Arabischen Welt“ festgelegt.

Es fielen große Worte, kluge und auch kompetente Sätze wurden gesprochen, zumal über Gerechtigkeit. Es gab Redefreiheit auf der Buchmesse. Ob freilich die tunesische Journalistin Sihem Bensedrine zuhause wieder Repressalien erdulden muß, Gefängnis bis hin zu Folter, wie schon in früheren Jahren, wird sich herausstellen. In Tunesien dürfen Zeitungen keinen regierungskritischen Artikel drucken, wie Amnesty International beklagt, und Frau Bensedrine prangerte die mangelnde Redefreiheit und andere Beschränkungen der Menschenrechte in ihrem Lande laut an. Andererseits erklärte ein Vertreter der EU-Kommission, daß sein Haus tunesische Menschenrechts-Organisationen mit Erlaubnis der Regierung finanziell unterstütze.

Solche Differenzierungen erlaubten die zahlreichen Diskussionsforen. In der ungewohnten Möglichkeit zu Differenzierungen lag die Stärke dieser Buchmesse. Ich fragte am letzten Tag eine Verlegerin vom israelischen Stand, ob der Schwerpunkt „Arabische Welt“ für sie im Vergleich zu den Vorjahren irgendwas geändert habe? Nein, antwortete sie unbefangen, überhaupt nicht. „Waren Sie im arabischen Pavillon?“ Sie nickte fröhlich, ja, sie habe viel gelernt dort, sie habe neue arabische Autoren entdeckt.

Natürlich konnten die großen Mißverständnisse nicht einfach ausgeräumt werden. Wenn jemand behauptete, die westliche Moderne stelle die Ethik über die Wissenschaft, gab es keine Gelegenheit zum Widerspruch. Umgekehrt auch nicht für die Behauptung, der Islam selbst sei ein Gegenentwurf zum Westen. Doch wurden solche Sätze gar nicht ex catedra gesprochen, sondern nur refereriert als Zeichen vorhandener Strömungen. Die arabische Welt deckt sich nicht mit der islamischen, und die islamische Welt hat die meisten Anhänger außerhalb der arabisch sprechenden Welt. Für die arabisch-sprechende Welt wurde ein Mangel an Realitätssinn beklagt - oder nicht empfunden. In der Ausstellung saudischer Kalligraphien gab es keine Übertragung des Textinhalts ins Englische oder Deutsche. Der Hüter dieser Kostbarkeiten war selbst nicht fähig, die schön gestalteten Schriften zu lesen oder gar zu übersetzen. „Das sind Koranverse!“ sagte er ehrfurchtsvoll. Von der „Bibliotheka Alexandrina“ - wie stolz die Ägypter darauf sind! - stand ein Modell im ausgedehnten Büchersaal, und ein kompetenter Mann erklärte den vor 2 Jahren eingeweihten Bau jedem, der es hören wollte. 600.000 Bücher etwa stehen schon drin, 6 Mio sollen es werden. Die ägyptische Regierung will für alle Einwohner, egal ob arm oder reich, Zugang zu Büchern schaffen, und jährlich wird z.B. ein nach Suzanne Mubarak, der Frau des Staatspräsidenten, genannter Kinderbuch-Wettbewerb ausgeschrieben. In einem der preisgekrönten Werke hält sich die Mutter ein Truthahnkücken, während ihr Söhnchen ein Hundejunges aufzieht. Das Küken wächst sich zu einem kreischenden Truthahn aus, während der Hund ein treuer und ruhiger Kumpel bleibt....

Die Gleichberechtigung der Frauen wurde auch auf der Buchmesse nicht erreicht. Es gab mehrere Diskussions-Podien zum Thema: aber nicht im arabischen Pavillon, sondern außerhalb der Buchmesse, und sie fanden teilweise gleichzeitig an verschiedenen Orten statt. Bei einer auf anderthalb Stunden begrenzten Diskussion in der Deutschen Bibliothek sprachen fünf Wissenschaftlerinnen, jede über ihr Thema: u.a. Recht und Justiz in Jemen, Philosophie in Beirut, Bildungschancen für Frauen in Sudan. Jede hatte zehn Minuten, sie sprachen schnell, und die Dolmetscher besaßen überhaupt keine Unterlagen, so daß sie nicht mitkamen. Eine so mangelhafte Vorbereitung ist mir im arabischen Pavillon nicht begegnet, wo meistens Männer sprachen und wo die seltenen Frauen Ergebenheitsadressen an die islamischen Vorschriften äußerten.

Aus Ramallah kam eine Tanztruppe; sie trugen traditionelle Gewänder, mehrfach abgewandelt und schön. Männer und Frauen bewegten sich mit den genau gleichen Schritten und Gesten. Ihre Vorführungen hatten etwas wohltuend Heiteres, und die Unterschiede in Männer- und Frauenrollen wurden auch nicht ganz aufgehoben: als ein Mann sich gierig auf eine Solotänzerin stürzen wollte, wurde er von den anderen Frauen aufgehalten. Die begleitende Musik klang arabisch mit einem Rhythmus, der mich an Sozisalismus erinnerte.

Den Höhepunkt der Buchmesse erlebte ich bei der Lesung von Machmud Darwisch im Literaturhaus. Die deutschen Fassungen las der syrisch-deutsche Dichter Karaschouli, der sie auch übersetzt hatte. Kongenial traten die beiden Poeten miteinander und mit dem Saal in Kontakt, es war ein jubelndes Geben und Nehmen, Zuhören und Verstehen. Machmud Darwisch ist der palästinensische National-Dichter, der seit 40 Jahren vom Exil her die palästinensische Geschichte in den langen breiten Strom arabischer Dichtung einspeist. Er weckt Begeisterung, er gehört, wie Adel Karachouli sagte, zur Weltliteratur; niemand konnte sich seinem Sprach-Zauber und seiner warmherzigen Intelligenz entziehen.

Im Pressezentrum fand ich ein einsames Heftchen, in dem die „islamische Sicht auf Themen wie Frau, Umwelt, Familie und Terror“ in Aussicht gestellt wurde. Der Wunsch nach Dialog, Kooperation, Toleranz, nach gegenseitigem Respekt auf der Basis der Menschenrechte überwog bei weitem. Mit Sicherheitsmaßnahmen wurden die Besucher nicht übermäßig behelligt. Der Angst wurde keine Chance gegeben, und das war vielleicht die größte Leistung dieser Buchmesse.

d'Letzebuerger Land

Wieviel Kritik verträgt eine Identität?

Edward Said ist tot. Einer der bekanntesten Literaturwissenschaftler der Welt hat uns verlassen. Er klagte, daß Literaturkritik heute oft „weltlos“ sei, so berichtet ein Freund im Nachruf, und er habe damit gemeint: unachtsam gegenüber den Umständen, die ihr Gewicht auf den Text, den Schreiber und die Leser gleichermaßen legen.

1935 in Jerusalem geboren, erst nach Libanon, dann nach Ägypten ausgewandert, wurde er zum Studium nach USA geschickt und blieb da. An der Columbia-Universität, New York, lehrte er vergleichende Literaturwissenschaft und starb in dieser Stadt am 24. September 2003. Seine erste große Arbeit war Joseph Conrad gewidmet, jenem Polen, der als englischer Romancier weltberühmt wurde. Ein Migrant, auch er.

Das Thema Exil begleitete Edward Said sein Leben lang. Bekannt wurde er mit dem Buch „Orientalism“. Darin vertrat er die These, daß der „Orient“ eine Erfindung des Abendlandes sei, zur Ergänzung seines Selbstbildes, eine Projektionsfläche eigener Wünsche und Befürchtungen. Die Menschen, die an dem Ort namens „Orient“ wohnten, ihre Wahrnehmungen und Weltanschauungen spielten keine Rolle, sie waren nur Teil des Bildes. Der Kolonialismus bestimmte, wessen Literatur „Literatur“ genannt werden durfte und welche Literatur allenfalls Folklore-Status erhielt.

Seine Gedanken entwickelte er weiter in „The world, the text and the critic“ und in zahllosen Aufsätzen, Vorlesungen und Schriften. Wahrscheinlich wäre er aber nur der Fachwelt bekannt geblieben, wenn er sich nicht seit 1967 für die Sache der Palästinenser eingesetzt hätte. Nach einer Reise in die besetzten Gebiete besann er sich auf seine Herkunft und brachte sein literarisch-philosophisches Wissen, seine immense Fähigkeit zu Analyse und Synthese ein. Damit wurde er richtig berühmt. Seine Kritik an den Verhälntissen stützte sich auf Humanismus als Grundlage einer Gesellschaft, sei sie jüdisch oder palästinensisch. „Ich nehme Kritik so ernst, daß ich glaube, daß sogar mitten in einer Schlacht, wo man eindeutig Partei ist, noch Kritik stattfinden soll, denn es muß ein kritisches Bewußtsein geben, wenn man für Ziele, Probleme, Werte, ja für lebendige Menschen kämpft.... Kritik muß sich selbst als lebensfördernd begreifen und muß von ihrem Wesen her jeder Form von Tyrannei, Unterdrückung und Mißbrauch Widerstand leisten; ihr gesellschaftlicher Zweck ist gewaltfreies Wissen, das im Interesse der menschlichen Freihehit erlangt wird,“ zitierte ihn die „Harvard University Press“ in ihrem Nachruf.

Über sein eigenes Volk schrieb Said: „Wir sind ein Volk von Botschaften und Signalen, von Andeutungen und indirektem Ausdruck. Wir forschen einander aus, doch weil unser Innenleben in einem bestimmten Umfang immer beschäftigt ist und von anderen gestört wird - von Israelis und von Arabern - haben wir eine Technik entwickelt wo wir durch die Gegebenheiten sprechen, wo wir Dinge schräg ausdrücken und sie nach meinem Eindruck so geheimnisvoll machen, daß wir uns selbst zum Rätsel werden.“ (Auszug aus „After the last sky“ von 1986, Übers. B.H.)

Diese Einschätzung hilft womöglich zum Verständnis seines letzten Buches „Freud and the Non-European“. Es enthält einen Vortrag sowie die Entgegungn von Jacqueline Rose, einer Professorin für Englisch an der Universität London, die auch psychoanalytische Gesichtspunkte in ihre wissenschaftlichen Arbeiten aufnimmt.

Said fragt: Hat Freuds Untersuchung „Der Mann Moses und der Monotheismus“ eine Bedeutung für die Situation in Nahost?

Freud wandte sich in seinen letzten Lebensjahren der Frage zu, was einen Juden ausmache. War Moses ein Jude? Moses begründete den jüdischen Monotheismus, gleichzeitig ist nicht erwiesen, daß er selbst Hebräer war. Freud unterstellt durchaus, Moses könne Ägypter gewesen sein; im übrigen wurde auch der Monotheismus in Ägypten entwickelt. Said untersucht die Frage, wie Freud mit seiner gebrochenen jüdischen Identität umging. Seiner selbstkritischen Haltung stellt er die Haltung des Staates Israel entgegen, der an einer „reinen“ jüdischen Identität arbeite und sich dazu stark der Archäologie bediene. Said zieht eine Parallele zwischen Freuds Erforschung des Unbewußten und Israels Erforschung des archäologischen Untergrundes. Während Freud eine Mischung erlaubte, schiebe Israel bislang alle nicht-jüdischen Funde als unerheblich beiseite.

Said schlägt den heute Lebenden vor, sich mit Freud auch auf die nichtjüdischen, nichteuropäischen Wurzeln ihrer Herkunft zu besinnen, um so zu einem friedlichen Miteinander zu gelangen.

Frau Rose weist in ihrer Entgegenung darauf hin, daß in Freuds „Mann Moses“ noch viel mehr stehe, u.a. die Geschichte eines politischen Mordes. (Nach einer Überlieferung soll Moses von den eigenen Leuten ermordet worden sein.) Wie schon in „Totem und Tabu“ beschrieben, konstitutiere sich nach Freud eine Gesellschaft erst durch eine Mordtat. Durch Verdrängung entstehe das Band der Gemeinsamkeit. Eine gebrochene Identität, so Frau Rose, könne statt zu mehr Offenheit auch zu größerer Starre, zu Gewalt und zu ständiger Wiederholung führen.

Die Zukunft wird zeigen, wer von beiden die Realität für sich gewinnen kann.

 

Barbara Höhfeld

 

Edward W.Said: „Freud and the Non-European“, ca. 80 Seiten, Verso-Verlag London/New York, 2003, in Zusammenarbeit mit dem Freud-Museum, London